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Slum, Raumfahrt und Ektase Zur Installation HIJRA FANTASTIK von Claudia Reiche im Schwulen Museum

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Weiblichkeit – Geschlecht – Spiritualität 

 

Slum, Raumfahrt und Ekstase 

Zur Installation HIJRA FANTASTIK von Claudia Reiche im Schwulen Museum 

 

Claudia Reiche, Medienkünstlerin, Forscherin und Gender-Aktivistin, hat im Schwulen Museum einen anderen, visuellen Raum der Weiblichkeit installiert. Ihre Protagonistinnen sind Hijras, die auf verwirrende Weise von sich als Frauen und zugleich als Drittes Geschlecht sprechen. Wenn sie als Erkennungszeichen auf eine bestimmte Weise in die Hände klatschen, signalisieren sie Segen, Forderung und/oder Verwünschung. Sie leben in Slums, reisen, segnen und provozieren körperlich in überfüllten Vorortzügen, gelten ebenso sehr als Glücksbringerinnen wie als Außenseiterinnen der indischen Gesellschaft. Hijras lassen sich geschlechtlich schwer fassen. Sie praktizieren eine nicht biologische Weiblichkeit, die Fragen nach dem Geschlecht aufwirft.

Claudia Reiche wollte Hijras in Indiens Hightech-Zentrum und Goethe-Institut-Standort Bangalore kennenlernen, während deutsche Unternehmen in Digitalfirma investieren. Auf ein Treffen fokussiert wurde sie von einer Hijra-Guru durch die 12-Millionen-Stadt auf eine Art Schnitzeljagd geschickt. Welche Sprache spricht eine Hijra? In Bangalore herrscht eine große Sprachvielfalt zwischen Kannanda, Urdu, Tamil, Telugu, Hindi, Malayalam etc. Englisch sprechen Hijras kaum. Schließlich wurde sie erschöpft im Haushalt einer Einraumwohnung mit Kochnische, Eisenbett, Altar und Heiligenbildern unter Kampferdämpfen empfangen. Der Dolmetscher übersetzte: „You notice they have many questions. But they ask me to ask you only: ‘Why are you here, Ma’am?’”

 

Auf Hunderten von Farbfotos im Format 18 x 24 cm haben die Hijras nach der Fragestellung von Claudia Reiche fotografiert, was sie lieben und was sie hassen. Für die Besucher*innen der Ausstellung im Schwulen Museum wird es schwierig zu entscheiden, ob auf den Fotos zu sehen gegeben wird, was sie lieben oder hassen. Funktionieren für eine Hijra die dichotomischen Kategorien nicht oder anders? Wird eine Hijra auf dem Boden schlafend fotografiert, weil eine andere es hasst, auf dem Boden schlafen zu müssen? Oder hat sie ihre Hausgenossin im traditionellen Frauengewand Sari schlafend fotografiert, weil sie gleich aus Träumen erwachen wird?

 

Welchen Moment versucht ein Foto zu zeigen? Die Künstler-Kuratorin hat dem Hijra-Haushalt ihre Kamera überlassen, was sogleich alles verändert. Darauf weist auch Ulrike Bergermann, Professorin für Medienwissenschaft, in ihrer Eröffnungsrede hin. Reiche überlässt den Hijras ihrem Blick. Es ist nicht der kategorisierende Blick der Kolonialisten oder Ethnologen. Dadurch werden die Fotos, die Reiche mit dem Ausstellungsteam des Schwulen Museums für die Installation mehr denn Ausstellung arrangiert und sequenziert hat, mehrdeutig. Sind Hijra ein eigenes Geschlecht, obwohl sie – oft gegen ihren Willen – rituell kastriert worden sind und werden? Im April 1984 forderte der Präsident der Dehli Pradesh Hijra Kalyan Sabha laut Hindustan Times für Hijras, am indisch-sowjetischen Raumfahrtprogramm teilnehmen zu dürfen.

 

Eine Kopie der 26-zeiligen Nachricht„Clapping demand“ aus der Hindustan Times eröffnet Claudia Reiches Installation Hijra Fantastik in dem von Verena Gerlach in Bangalore eigens geschnittenem Typeface Lakshmi. Die Nachricht ist knapp und berichtet von einem Brief, der an die Präsidenten der Sowjetunion, Leonid Breschnew, und Indiens, Indira Gandhi, adressiert wurde. Der Vertreter der regionalen Hijra Organisation für Dehli und Provinz, Khairati Lal Bhola, soll ihn geschrieben und signiert haben. Sri Khairati Lal Bhola verfasste zuletzt am 12. März 2012 eine handschriftliche Pressemitteilung mit dem Titel „Demands of Sex-Workers on the occasion of International Woman’s Day“, die auf seinem Facebook-Konto veröffentlicht wurde.[1] Wir wissen nicht, ob der Brief, wie Ulrike Bergermann vorschlägt, ironisch gehalten war oder nicht. Claudia Reiche hat den Brief mit einer Beschreibung eines Briefes … queer transkribiert. 

Verschickt wurde er noch während sich der erste (und immer noch einzige) indische Kosmonaut im Low Earth Orbit, in der Saljut 7 Raumstation befand, als Teilnehmer im Interkosmos Programm der UdSSR, Sojus T-11 Mission. Der Brief wäre sicher noch weniger zugänglich, wenn die Fragen des Glaubens und des Stolzes, die bei seiner Abfassung maßgeblich gewesen sein dürften, ebenso wie die des Sex, nicht zumindest andeutungsweise aus den großen unvollendeten Ereignissen in der Geschichte beider Staaten nachbuchstabiert würden.[2]

 

Der Aufbruchsmythos der sozialistischen Raumfahrt, der nicht zuletzt mit dem Konzept eines Neuen Menschen[3] und endlosen Lebens im Russischen Kosmismus[4] verknüpft verknüpft worden war, wird in dem Hijra-Brief mit dem dritten Geschlecht und der Geschlechtlichkeit gesteigert. „The letter requests the governments to “give parity to the sexually under-privileged and socially neglected persons of the “Third Sex” by sending at least one of this group in to space in future ventures.”[5] In der extrem paarigen, heteronormativen Sowjetkultur wird damit die Forderung nach einem „Dritten Geschlecht“ für zukünftige Unternehmungen gestellt. In der Imagination der Sowjetkultur gibt es kein drittes Geschlecht, allenfalls eine paternalistische Aufwertung der Frau durch den Weltfrauentag. Wir wissen nicht, ob Sri Khairati Lal Bhola für sich selbst als Hijra und/oder für andere gesprochen hat. Nicht im Sowjetsystem, sondern 2014, als Claudia Reiche und Verena Gerlach Bangalore bereisten, wurde durch den Obersten Gerichtshof Indiens ein drittes Geschlecht als gleichwertig anerkannt. Die Verortung der Hijras als Eunuchen, Transgender und/oder Intersexuelle bleibt indessen schwankend.  

 

Zur visuellen Installation mit dem vielfältigen Bildmaterial hat Claudia Reiche umfangreiche, queere Texte geschrieben und ausgewählt, die in 6 thematischen Heften von Erinnerungen eines verkehrten Mädchens an seinen Körper 1961-1968über die weisse woche Angeschlaucht bis zu einer noch nicht erschienen Ausstellungsdokumentation publiziert sein werden.[6] Die Texte können als eine Art Wünschelrute für das Bildmaterial in der Ausstellung eingesetzt werden. Das künstlerische Verfahren der Collage wird von ihr konzeptuell angewendet. So hängt im Ausstellungsraum eine aufwendig durch 700 aneinander geklebte Dreiecke generierte „elliptische Bahn“ als bewegte Skulptur im Raum, die auf die Raumfahrt wie das Geschlecht anspielt und gleichzeitig als Raumteiler funktioniert. 

Das Emblem dieser Mission, Sojus T-11, 

trug die rote Flagge der UdSSR mit Hammer und Sichel, 

denen bekanntlich 

ein Stern 

beigefügt ist, 

sowie die indische safran, weiß, grüne 

mit einem Rad, 

das so viele Speichen wie ein Tag Stunden hat, 

in denen sich die Erde einmal um ihre Achse und 

ein Weniges um die Sonne gedreht haben wird, 

 

auf elliptischer Bahn.[7]  

 

Neben den Fotos, Collagen und den spacigen Folien im Raum gibt es mehrere Filme, die ihrerseits mit Text- und Bildmaterial für verschiedene Konstellationen offen sind. Die materialreiche Installation entfaltet eine Art Hijra-Kosmos in all seiner Vielfalt und Widersprüchlichkeit. Extreme Armut im Slum. Segnungen. Rituelle Verkörperungen hinduistischer Mythen. Trauer. Rituelle, sexuelle Ekstase. Die Ausstellungsbesucher*innen werden selbst zu Kosmonaut*innen, deren Bahn zwar nicht eingehalten werden muss, die aber durch poetische Konstellationen geradezu immersiv in die Installation eintauchen können, dürfen oder sollten. Denn auch der von Claudia Reiche produzierte Film als visuelles Gedicht mit einem sich von rechts nach links durchlaufenden Schriftband – „of sounds         to cosmic“ „the son    daughter    drifter“ „and you and so forth“ „stone and milk      what“ „apart from gender     which“ –, funktioniert im Modus der Collage. Reiche collagiert Text- und Bildmaterial. Bisweilen blitzt Sinn auf, um sogleich wieder zu vergehen oder verkehrt zu werden.

 

Abgedruckt in Heft 4 ist das Gesetz der Britischen Kolonialmacht, das 1871 die Hijras als kriminellen Stamm markierte – ACT NO. XXVII of 1871, AN ACT FOR THE REGISTRATION OF CRIMINAL TRIBES AND EUNUCHS. Die Kriminalisierung der Hijras per Gesetz diente vor allem der Kontrolle eines schwierig zu lokalisierenden Geschlechts. Die Kastration und/oder geschlechtliche Unbestimmtheit für einen „wandering tribe“ muss festgestellt werden,[8] damit Kontrolle nicht nur über das Geschlecht, vielmehr noch über die Geschlechtlichkeit ausgeübt werden kann. Der Act benutzt „tribe, gang or class“ auffälliger Weise synonym.[9] Ein Stamm, eine Gruppe, Bande oder Klasse wird so allererst als eine homogene, kriminelle Kategorie formuliert. Die 31 Absätze des Gesetzes regulieren und kriminalisieren detailliert die heterogene Erscheinung der Hijras.

 

Nach Absatz 26 des Gesetzes müssen Eunuchen, die in der Öffentlichkeit als Frauen gekleidet oder geschmückt sind, verhaftet und mit bis zu 2 Jahren Haft bestraft werden.[10] Eunuchen dürfen nach Absatz 29 kein Vormund für einen Minderjährigen werden, kein Geschenk machen, kein Testament machen und/oder keinen Sohn adoptieren.[11] Kulturelle Muster sollen mit dem Gesetz durchbrochen werden. Durch die Britische Kolonialgesetzgebung werden Hijras als Eunuchen zusätzlich zu ihrer Rechtlosigkeit im Kastensystem entrechtet. Der Horror vor den hinduistischen wie muslimischen Hijra ist für die Machthaber so groß, dass er in einem Gesetz genauestens durch Ausgrenzung geregelt werden muss. – Dass Sri Khairati Lal Bhola sich nicht als Frau kleidete, könnte übrigens genau dem Kolonialgesetz geschuldet sein. Raumanzug gegen geschlechtende Kleidung wie sich mit Gagarins markanten, nachträglichen Raumanzug erinnern lässt. Die Weiblichkeit wird ganz und gar nicht auf die Kleidung beschränkt. 

   26. Any eunuch so registered who appears, dressed or ornamented like a woman, in a public street or place, or in any other place, with the intention of being seen from a public street or place, 

   or who dances or plays music, or takes part in any public exhibition, in a public street or place or for hire in a private house, 

   may be arrested without warrant, and shall be punished with imprisonment of either description for a term which may extend to two years, or with fine, or with both.[12]

 

Die Praxis des Kolonialismus zielt, wie exemplarisch an diesem Unrechtsgesetz lesbar wird, darauf ab, Grenzen, Geschlechter und Kategorien allererst herzustellen, worauf nicht zuletzt Homi K. Bhabha mit seinem Vortrag On Culture and Security 2015 aufmerksam gemacht hat.[13] Der ACT No. XXVII of 1871 setzt sich als Sicherheitsmaßnahme für die Kolonialmacht in Szene. Sie verspricht Sicherheit durch Kriminalisierung und versichert sich der Macht. Die geschlechtliche Ordnung muss hergestellt werden, weil sie die Kolonialmacht in Frage stellt. Wir wissen nicht, was Hijras sind. Die Fiktion einer Weiblichkeit oder eines Dritten Geschlechts muss nur als solches legalisiert werden, weil eine geschlechtliche Uneindeutigkeit sonst nach der Rechtsprechung der Kolonialmacht zur Rechtlosigkeit, Kriminalisierung und Verfolgung führt. Das Dilemma des Geschlechts und der Geschlechtung wird insofern insbesondere an dem verkürzenden Begriff des Eunuchen deutlich.

  

Um Atem und Worte ringend hatte Claudia Reiche in dem von Kampferschwaden gesättigten Zimmer der Hijra-Gemeinschaft auf die Frage „Why are you here?“ geantwortet: „I believe in your powerful femininity.“[14] Die ebenso unerwartete wie berechtigte Frage nach dem Ziel der Reise wie dem Besuch der Medienkünstlerin verkehrt vielleicht sogar nach Art der Hijras die Machtfrage. Zwar wird die machtverleihende Antwort „höflich aufgenommen“, doch gleichzeitig ist die Künstlerin von ihrer Antwort selbst überrascht. Vielleicht könnte man die Verkehrung des Fragenstellens auch so verstehen, als fragten die Gesuchten danach, ob die Künstlerin wirklich glaube, gefunden zu haben, was sie suchte. Die „powerful femininity“ trifft und verfehlt die Hijra zugleich.

 

Die ganze Ausstellung mit dem Heft 1 – Erinnerungen eines verkehrten Mädchens an seinen Körper 1961-1968– gilt möglicherweise genau der Frage „Why are you here?“. Wie bereits mehrfach erwähnt, nimmt diese Ausstellung im Schwulen Museum die Form einer Installation an. Denn installiert oder eingesetzt werden nicht einfach Hijras, die in einem kolonialen Wissen als Eunuchen oder ethnologisch als Ethnie oder Stamm mit einer einheitlichen Kultur aufgehen. Vielmehr werden mit den Collagen und Skulpturen Imaginationsflächen, Schirme aufgestellt. Ein Bild oder die Einbildung der Hijra zerstreut sich. Die Femininität kommt stattdessen noch einmal mit einem frühen feministischen Text von Ginka Steinwachs als Dekonstruktion der „geschlechtsmerkmale“ zum Zuge: 

am tag danach, the day after, gab es keine männlichen geschlechtsmerkmale mehr. spermienbänke, ja, mit samen der kategorien A – D, aber keine männlichen geschlechtsmerkmale.[15]        

 

Der feministische Text wurde zuerst in den 80er Jahren in der Zeitschrift Die schwarze Botin veröffentlicht. Die unmögliche Farbe Zitronenblau gibt es nur als Kompositum aus den Worten Zitrone und Blau. 1983 hatte Mona Winter im Verlag Frauenoffensive eine Anthologie mit dem Titel Zitronenblau. Balanceakt ästhetischen Begreifens herausgegeben. Und der feministische Operateur in Steinwachs‘ die weisse woche, der auch, oder besser vor allem mit der Sprache operiert, trägt einen „zitronenblaue(n) kittel“.[16] Das Projekt einer „globalen phallusektomie mit totaler entfernung der hoden“ wird als Sprachoperation bei schwankendem Sinn ausgeführt: 

sie werden bis ins kleinste detail befolgt. das pfeifen der einstiche, das gesumm der schnitte, die sitzen, sitzen, die bässe der nähte. dazu das gräusch der strahlen des lichts, hörbar hin über tausende von kilometern, bis an den abgrund des kraters der existenz an der italienischen lava – und/oder auch vulkanstraße. ein ausgewählter augenblick: natur wird kultuhr, wird musik, musik erhebt das gemüt gen himmel und von dannen. ein tropf leistet auferstehungshilfe.[17]  

 

Die machtvolle Femininität wird als Sprachoperation und Poesie oder als poetologische Spiritualität vorgeführt, wenn es bei Ginka Steinwachs heißt „und durchfliegen galaktische räume in kosmisch – kos mich, liebling – kosmischen orgasmen durchaus irdischer natur.“[18] Die „galaktischen räume“ werden „kosmisch“, um zugleich den Wunsch, „kos mich“, körperlich geliebt zu werden, auf buchstäbliche Weise zu formulieren. Die Spiritualität wird psychotechnisch durch rituelle Gesten und/oder sprachoperationell durch eine andere Schreibweise generiert.[19] Claudia Reiche schlägt Ginka Steinwachs‘ Text die weisse woche als eine Lektürevariante von Hijra Fantastik vor. – Die Kunst einer Hijra wird nicht zuletzt als eine Art Zaubertrick mit einem weißen Kaninchen in einer Haustierhandlung vorgeführt. Aus dem Sari zaubert sie ein weißes Kaninchen, das wie die vielen anderen Hijra-Praktiken die Funktion haben könnte, zu zeigen, was nicht da oder nicht darstellbar ist. Unter dem Sari, den die Hijras bisweilen zum Entsetzen heben, klafft eine Wunde. 

Torsten Flüh

 

Claudia Reiche 

HIJRA FANTASTK 

bis 19. November 2018 

Schwules Museum 

Veranstaltung in der Reihe „Jahr der Frau_en“ bis 01.01.2019.

 

Performance 

Ginka Steinwachs 

die weisse woche (1978)

am Sonntag, 11. November 2018, 16:00 Uhr 

 

Finissage mit Lecture 

Kalki Subramaniam, Sahodari 

Foundation für unterprivilegierte Trans*-Frauen in Indien

am Montag, 19. November 2018, 18:00 Uhr

 

Katalog 

Claudia Reiche 

HIJRA FANTASTIK 

6 Hefte im Karton, zahlreiche Abbildungen 

Auflage 250 - ISBN: 978-3-930924-25-7 – 

Preis: 20 € 

Texte, Collagen, Kompositionen von Claudia Reiche 

Deutsch, teils Englisch und Tamil 

enthält Beiträge von Ginka Steinwachs, Kalki Subramaniam 

Gestaltung: Verena Gerlach 

Übersetzung: Brigitte Helbling, Seralathan Panneerselvam  

_________________________ 



[1] Siehe Facebook: Bhartiya Patita Uddhar Sabha (Regd.) Pressrelease.

[2] Claudia Reiche: Beschreibung eines Briefes … In: Claudia Reiche, Andrea Sick: Schriftenreihe queer lab 2018, Bd. 6. Bremen: theatlit, 2018, S. 9.

[3] Vgl. u. a. Torsten Flüh: Oktobern als Befreiung und Disziplinierung des Menschen. Zur Ausstellung Das sowjetische Experiment und der Filmedition Der Neue Mensch. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2017 21:47.

[4] Vgl. u. a. Torsten Flüh: Über die literarische Vollendung des Materialismus im Russischen Kosmismus. Zur Ausstellung und Finissage Art Without Death: Russischer Kosmismus im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Oktober 2017 14:37.

[5] Zitiert nach: Claudia Reiche: Beschreibung … [wie Anm. 2] S. 5.

[6] Claudia Reiche: Hijra Fantastik. Bremen: Thealit, 2018. (Ankündigung)

[7] Claudia Reiche: Beschreibung … [wie Anm. 2] S. 11.

[8]Claudia Reiche: ACT No XXVII 1871-2015. Heft 4 [wie Anm. 2] S. 18-19.

[9] Ebenda Part I. Criminal Tribes. 2. S. 18. Vgl. zum Begriff der Klasse bei Étienne Balibar auch: Torsten Flüh: Über den neuen Rassismus in der Politik. Gefährliche Konjunkturen liest Étienne Balibars und Immanuel Wallersteins Race, nation, classe von 1988 wieder. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. April 2018 22:53.

[10] Ebenda S. 26.

[11] Ebenda.

[12] Ebenda.

[13] Vgl. Torsten Flüh: Die politische Krux mit der Sicherheit. Homi K. Bhabhas ZfL-Inaugural Lecture „On Culture and Security“ in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Juni 2015 20:01.   

[14]Claudia Reiche: Bhavana, Vaishu und andere. Heft 3 [wie Anm. 2] S. 6.

[15] Ginka Steinwachs: die weisse woche. In: Claudia Reiche: Hijra Fantastik. Heft 5. [wie Anm. 2] unnummeriert (S. 9).

[16] Ebenda.

[17] Ebenda.

[18] Ebenda unnummeriert (S. 16).

[19] Vgl. hierzu auch die Spiritualität bei Karlheinz Stockhausen: Torsten Flüh: Spiritualität und elektronische Geisterkunst - Zum Stockhausen-Zyklus mit Telemusik, Mantra und Inori beim Musikfest. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. September 2018 17:09. 


Verkehrte Sicherheit und die Rückkehr der Rasse - Eine kleine Nachlese zum Tag der Deutschen Einheit, Bündnis Berlin und zur Aktion Deutschland spricht

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Einheit – AfD – Nachbarschaft 

 

Verkehrte Sicherheit und die Rückkehr der Rasse 

Kleine Nachlese zum Tag der Deutschen Einheit, Bündnis Berlin und zur Aktion Deutschland spricht 

 

Die Zeiten haben sich geändert. Es kokelt, brennt und fackelt zum 3. Oktober 2018. Die Sicherheit steht zur Feier des Tags der Einheit auf dem Spiel. Am 3. Oktober 2010 lief ich mit Cenk, Can, Hassan, Hussein, Remzi durch die Hasenheide beim 1. Berliner Integrationslauf. War Bilal auch dabei? Ich weiß es nicht genau. Im September hat er eine Ausbildung als Polizeianwärter bei der Polizei des Landes Berlin begonnen. Bereits im April hatte er mich beim Döner-Imbiss auf der Müllerstraße gefragt, ob ich noch laufe. „Klar.“ „Bin auch gelaufen für die Prüfung bei der Polizei. Musste 2000 Meter in 9:20 laufen. Hab trainiert vorher.“ Klar, kann man schaffen. Bilal und Polizei?!

 

Statt Integrationslauf in die Hasenheide am Tag der Deutschen Einheit bin ich in diesem Jahr zum Pappelplatz, Invaliden- Ecke Ackerstraße, um mit der Anwohnerinitiative für Zivilcourage – gegen den Aufmarsch von ca. 1.000 Nazis in der Rosenthaler Vorstadt zu protestieren. Waren das Nazis? Das waren doch nur besorgte Bürger, die den „Tag der Nation“ feiern wollten. Die Aufmarschroute vom Washingtonplatz am Hauptbahnhof über die Invalidenstraße in die Ackerstraße, um dann über die Tor-, Novalis-, Tieck- und Chausseestraße zurück in die Invalidenstraße und zum Hauptbahnhof lässt sich mit der Betonung der Invalidenstraße als militaristische Provokation verstehen. Denn die Straße führt sozusagen am von Friedrich II., auch genannt der Große, gegründeten Haus für die Invaliden, also nicht mehr einsatzfähigen Soldaten vorbei.

 

Man muss im Herbst 2018 mit jeder denkbaren Provokation von Nationalsozialisten in der AfD rechnen. Das Geschäft der politischen Grenzüberschreitung als Provokation der Demokratie ist zum Programm der „Alternative für Deutschland“ geworden. Alte, früher hätte man gesagt, uralte neunzigjährige und neue Nazis wählen nicht nur die AfD in den alten wie den neuen Bundesländern. Sie bestimmen deren politische Agenda. Wer provoziert, drängt der Politik und den Parteien die Themen auf. Wer in der schicken, hippen und teuren Ecke zwischen Rosenthaler Straße und Chausseestraße, Invaliden- und Torstraße nationalistische, rassistische Parolen brüllt, will Politiker*innen, Künstler*innen, Kreative, Mitarbeiter*innen in Ministerien und Parteien provozieren. Der Buchhändler Jörg Braunsdorf aus der Tucholskystraße hat deshalb zu einer Anwohnerinitiative aufgerufen.

 

Die Prominenten-Millionärs- und Kreativen-Dichte in und um die Acker-, Berg- und Gartenstraße ist groß. Gute Nachbarschaft mit Geld und/oder Bildung. Ein distinguierter Kiez, mehr Village als Kiez. Ein bisschen wie Paris‘ Saint-Germain in Berlin. Viele Galerien. Mode. American Cheese Cake und Frozen Yoghurt. Jörg Braunsdorf kennt viele durch seinen Tucholsky-Buchladen. Annika von Trier, Ben Becker, Martin Dean & Yoyo Röhm, Pastor Matthias Motter aus der Zionskirche, Bobo and the White Wooden Houses, Flora Camille, Manfred Nowak (AWO Berlin Mitte), Laura Pinnig (DGB/GEW), Auge.blau, Imran Ayata, Bert’z Rache, Raphael Hillebrandt von der HipHop Partei Die Urbane treten beim Protestfest am Pappelplatz auf. Coole Typen zwischen Chanson mit Annika von Trier und Seemannscountry von auge.blau. Wer hierhin zieht, kommt beispielsweise aus Japan und lässt sich die Wohnung vom Vater in Tokyo, der eine Privatklink führt, kaufen. Oder ein älteres Paar verkauft Geschäft und Haus in „Westdeutschland“, um in Wohnungen  auch für Sohn oder Tochter an der Elisabeth-Kirche zu investieren.

 

Es werden Reden geredet und Teilnehmerzahlen durchgegeben. Die sind „500“, wir sind hier am Pappelplatz „1.000“. Der Berlin-gegen-Nazis-Bär verkündet auf seinem Schild: „wir sind viele“. Die Veranstalter „Bündnis Berlin für ein weltoffenes und tolerantes Berlin“ mit Grünen, Die Urbane, Kirchenkreis Berlin-Stadtmitte, Diakonie, DGB, AWO, Diözese Berlin etc. machen Mut: wir sind mehr.  Ben Becker liest die Todesfuge von Paul Celan, was immer gefährlich ist „der Tod ist ein Meister aus Deutschland …“. Er liest auch Verse aus Brechts Aufstieg und Fall der Stadt Mahagoni von 1930. Und doch sind die 20er Jahre so ganz anders gewesen. Den Menschen ging es schlecht. Hyperinflation, Weltwirtschaftskrise, Armut. Nichts dergleichen herrscht heute in Deutschland. Damals war die Gegend bitterarm, heute leben Millionäre hier.

 

Gerade die Ackerstraße 29, vor der die Bühne auf Anweisung der Polizei aufgebaut worden ist, wird man kein Armutsquartier nennen können, während doch in den 20er Jahren die Armutsversorgung der „Schrippenkirche“ in der Ackerstraße 136-137 und gleich daneben in der 132 die Arbeiter in der Mietskaserne der Meyerischen Höfe mit 6 Hinterhöfen ihr Leben fristeten. Hinter der Bernauer Straße im ehemaligen „Westen“ gibt es noch Sozialwohnungen. Doch vorne an der Tor- und Invalidenstraße ist es richtig schick und reich geworden. Investments. Im Viertel, im 19. Jahrhundert „Voghtland“ und daneben „Feuerland“ genannt, wurde mit den sogenannten Wülknitzschen Familienhäusern in der Gartenstraße ab 1820 die Armut außerhalb der Stadtmauer historisch bahnbrechend zentralisiert und durch Spekulation wegweisend Geld akquiriert. Schräg gegenüber gibt es jetzt die Luxusimmobilie Secret Garden mit „green electricity“ und viel Geschichte. 

 

Vor drei Jahren zog die AfD vom Wedding-Platz über die Neue Hochstraße Richtung Gesundbrunnen, wo sich verschreckte Menschen mit Migrationshintergrund fragten, ob „es schon wieder soweit“ ist. Sie trauten sich nicht einmal, vom Balkon zu fotografieren. Die Provokation fand mehrfach an einem Montag statt, als ließe sich damit an „die“ Montagsdemonstrationen, die zum Sturz der DDR und zur „Wiedervereinigung“ führten, anknüpfen. In Berlin findet eine rechte, wenigstens AfD-nahe Demonstration jeden(!) Montag um 18:30 Uhr statt, in die ich einmal auf der Friedrichstraße hineingeraten bin. Da läuft eine überschaubare Zahl an „Merkel-muss-weg-Rufern“ unter Polizeischutz mit. Man könnte es fast belächeln. Doch die rechten Demonstrationen haben sich systematisch von den Rändern zu Mitte in die Mitte des Bezirks Mitte verlagert.

 

Laura Pinnig von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Bezirk Mitte, im DGB erzählt auf der Bühne am Pappelplatz, wie die rechten Montagsdemonstranten sie und ihre Familie damit bedroht hätten, dass man nun wisse, wo sie wohne. Man muss der Berliner Polizei durchaus danken, dass sie am Pappelplatz das Protestfest mehr in die Ackerstraße hinein verlagert hat. Der Pappelplatz erstreckt sich auf einer zu großen Länge an der Invalidenstraße. Das hätte ein konkretes Sicherheitsproblem zwischen den Demonstranten und ihren Gegnern verursachen können. Die Polizei gewährleistet als Staatsgewalt die Sicherheit politischer Kundgebungen von beiden Seiten. Die Planungsstäbe der Berliner Polizei sind offenbar deeskalierend geschult. Ben Becker dankt zwar auch der Polizei, um sich dann doch über einen Strafzettel für das Parken seines Jaguars vor seiner Einfahrt, wo nur er wohnt, zu beschweren.      

 

Das Protestfest am Pappelplatz dauerte länger als geplant und der „Tag der Nation“-Zug kam später als gedacht. Doch man muss in diesen Zeiten, in denen der ehemalige Polizist und Chef der sächsischen CDU-Landtagsfraktion Christian Hartman fordert, dass sich die CDU der AfD als Koalitionspartner öffnen müsse[1], seismographisch erforschen, wem und was da die Tür geöffnet wird. Jakob Augstein gibt in der Wochenzeitung Der Freitag am 5. August 2018 mit Entsetzen und Erkenntnis ganz den (Martin) Walser von der Paulskirche, wenn er darüber schreibt, man solle die AfD als Experiment doch einfach mal mitregieren lassen, dann werde sie sich schon entzaubern. Eine kleine, intellektuelle Gehirnübung für die Demokratie und Nation sozusagen. Muss man doch noch denken dürfen. Irgendwann muss Schluss sein mit den Grenzen und dem Holocaust wie in Walsers Paulskirchenrede anno 1998. Jens Spahn lässt sich von seinem Busenfreund Richard Grenell einen Termin bei Trumps Sicherheitsberater John Bolton arrangieren, den dann die Botschaft in Washington doch erst zustande bringen muss. – Hier mal zündeln und da mal kokeln.

 

Es gibt noch viel feinere Ausschläge auf der politischen Richterskala, die en passant all das bestätigen, was man sich als Demokrat nicht auszusprechen traute. Die neuen Rechten funktionieren ganz genauso wie die uralten Nazis. Am Sonntag, den 23. September um 14:00 Uhr nahm der Berichterstatter an dem algorithmisch aufbereiteten Debatten-Event Deutschland spricht teil. Warum nicht mit einem Politisch-Andersdenkenden sprechen?! Vorgesehen war ein Sonntagstreffen um 15:00 Uhr in Berlin. Doch Termine hatten sich verschoben. Der Berichterstatter war nicht in Berlin und vereinbarte deshalb ein Treffen mit seiner Streitgesprächspartnerin auf Skype, was beiden prima passte. Haben Sie sich schon einmal 120 Minuten auf Skype mit einem wildfremden Menschen unterhalten, der dann auch noch eine andere politische Meinung hat? Kann das überhaupt funktionieren?

 

Also ich habe mehr als 120 Minuten mit, ich denke es ist besser, hier nicht ihren Chatnamen zu verraten, nennen wir sie Jenny, gesprochen. Unsere politische Meinung wich, Algorithmus sei Dank, von vornherein nur in dem Punkt voneinander ab, dass Jenny angegeben hatte, Deutschland müsse „besser auf seine Grenzen achten“. Das finde ich gar nicht. In dem Punkt bin ich Europäer und Dekonstruktivist. Grenzen werden auf NIGHT OUT @ BERLIN nach ihren Funktionen befragt.[2] Ebenso wie die AfD durch ständige Grenzüberschreitungen provozieren will und sich dies quasi von ihrem Kulturphilosophen Marc Jongen[3] hat patentieren lassen, gibt es andererseits gute Gründe die Funktionen von Grenzen zu befragen. Die neue Rechte hat sich durchaus einige Diskurstrategien von der Linken abgekupfert, um damit das Gegenteil zu betreiben und alte Grenzen wie Rasse, Nation und Klasse zu reinstallieren.[4]

  

Die Frage nach den Grenzen ist also durchaus eine strategisch wichtige. Beispielsweise wollen Horst Seehofer und Jens Spahn und Richard Grenell „Obergrenzen“ und überhaupt Grenzen, die schon mal mit Natodraht und Betonmauern, das neuinstalliert Eigene von Rasse, Nation und Klasse schützen. Mit der Grenze zu Mexiko geht es Donald Trump und den seinen vor allem darum, eine imaginäre Klasse der „Arbeiter“ zu schützen. Reiche profitieren von den billigen Arbeitskräften im Haushalt etc. Soweit geht Jenny gar nicht. Nun, ich würde es einmal so formulieren, Jenny und ich waren uns ziemlich schnell sympathisch. Sie hat beruflich ministeriell mit Innerer Sicherheit als Psychologin zu tun und ist so Mitte 30, farbig, aus einer eher linksalternativen Familie, wenn ich es richtig verstanden habe. Also so richtig Grenzen dichtmachen, will Jenny gar nicht. Sie hat in Psychologie über Korruption promoviert und an Universitäten unterrichtet. Mir geht es immer darum, Grenzen zu öffnen. Psychologisch können Grenzen indessen durchaus wichtig sein.

 

Jenny ist erst seit kurzer Zeit in Berlin, so dass das Leben in Berlin und meines im ehemaligen Arbeiterbezirk Wedding ein wichtiges Gesprächsthema wurden. Mein Laufprojekt mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund, Wedding 65 Runners, von 2007 bis 2011, dem der Berliner Integrationspreis 2. Preis 2007 im Rathaus von Berlin verliehen wurde, nahm einen breiteren Raum ein. Denn es ging dabei mehr darum, Grenzen durchlässig zu machen oder gar abzubauen, als man sich das denken sollte. Das wusste ich nicht vorher. Das war gar nicht geplant – eigentlich wollte ich nur einen Halbmarathon oder Marathon als mittelfristiges Ziel mit 10 Jugendlichen aus meinem Kiez laufen – und es hat doch stattgefunden. Ich wurde dadurch zum Weißen Elefanten auf Samers Hochzeit, was nur deshalb erwähnenswert ist, weil Samer eben keinen anderen „deutschen“ Freund auf seiner Hochzeit eingeladen hatte. Da war etwas grundsätzlich falsch gelaufen, schoss es mir durch den Kopf. Und das war nicht Samers Schuld!

 

Das Laufprojekt wurde mit Mitteln der Stadt und der EU durch das Quartiersmanagement gefördert. Wir brauchten Gelder für die richtigen Laufschuhe nach Fußanalyse und Startgelder zum Beispiel für den Integrationslauf oder den Wettlauf vom Schloss Charlottenburg durch den Zoo und zurück. Hassan und Hussein wussten als Weddinger nicht, was das Schloss ist. Wir haben, glaube ich, drei Jahre nacheinander den Integrationslauf in der Hasenheide gemacht. Serdal machte auch mit und wollte immer zur Polizei, was ich so verstand, dass er dazugehören wollte. Was gibt es an Integrationswunsch stärkeres, als sich mit der Polizei zu identifizieren. Serdal hatte vor ca. 10 Jahren wenig oder gar keine Chance, für eine Polizeianwärterausbildung angenommen zu werden. Ich kenne sozusagen Polizei persönlich und intern aus den 80er Jahren in Kiel. Da gab es Rassismus etc. pur. Bilal hat dann sozusagen sein eigenes Marathonprojekt durchgezogen, obwohl er nicht sehr häufig trainiert hat. In der Polizei hat sich offenbar etwas verändert. Es geht immer um Grenzen. Polizei ist in Berlin offener geworden. So haben Jenny und ich also ziemlich freundlich gestritten und waren gar nicht so uneins. Doch nun kommt die Pointe.

 

Die Grenze der Bundesrepublik Deutschland und die Überschreitung von Grenzen sollte erst nach dem Streitgespräch richtig zur Geltung kommen. Während Jenny und ich uns „stritten“, trank meine Mutter mit drei gleichaltrigen Paaren (über 70) Kaffee. So kam ich mit meiner Erzählung vom Deutschland-spricht-Streitgespräch an den Kaffeetisch der älteren und wirklich alten Herrschaften. Das Stichwort für Karl Adolfs (Name geändert) war „Grenze“. Karl Adolfs ist Jahrgang 1928. Ein großer, mit Neunzig wirklich gutaussehender Mann im braunen Wildleder-Jackett. Distinguiert. Das Steak zum Mittag im Restaurant am Nord-Ostsee-Kanal hatte es sich „Medium“ bestellt. Getönte Brille. Seine Frau Elsie ist jünger, aber eingeschränkter. Er kümmert sich liebevoll um sie. Die anderen fünf Personen unterstützen beide, seitdem Karl im Frühjahr im Auto einen Herzanfall erlitt. Karl und Elsie werden nun von den Freunden zu gemeinsamen Treffen abgeholt. Sie bewohnen ein großes Haus und haben entweder türkische oder russische Haushaltshilfen. Er war leitender Schaufensterwerbegestalter bei einem großen Kaufhaus-Konzern. Soviel weiß man.

 

Karl hat sein Auto noch nicht abgegeben, weil es keine Altersgrenze gibt. Für kurze Ausflüge mit Elsie geht es noch, sagt er. Sonst könnten sie gar nichts mehr unternehmen. Die Gruppe besucht auch gemeinsam Konzerte usw. Karl und Elsie werden abgeholt und nach Hause gebracht. Clubinterne Weihnachtsfeiern werden wie seit über 30 Jahren gemeinsam gefeiert. Doch „Grenze“ war für Karl das Stichwort. Das Gespräch begann überstürzt mit einer gewissen Hast. In etwa so: „Ja, genau, die Grenzen muss man schützen… Was hätten wir denn 2015 anderes tun sollen, als die AfD wählen… Ayshe habe ich doch gefragt, ob sie nicht einen Deutschen heiraten will… Aber die bleiben lieber unter sich. Das ist eben eine andere Rasse.“ Er benutzte wirklich und allen Ernstes den Begriff Rasse. „Also Torsten, nun hören sie mir doch einmal zu. Meine Großmutter in Daundda hatte schrecklich viele Kinder. Es waren 6 oder 7 Geschwister. Dann war Familientreffen. Und meine Onkel haben sich unterhalten und gesagt: Hitler will keinen Krieg…“

 

Wie das alles genau zusammengehörte – „Grenze“, „2015“, „AfD“, „Rasse“, „einen Deutschen heiraten“, „Großmutter“, „Onkel“, „Hitler“ und „Krieg“ –, war nicht aus dem plötzlichen Redeschwall zu verstehen. Vielleicht eine Art rechter Privatmythos, keinesfalls Demenz. Kurz zuvor hatte Karl seinen Freunden noch sein neues Smartphone erklärt und war ganz begeistert davon, dass er soziale Medien benutzen könne. Die anderen nutzen die Medien weniger. Die Anderen widersprachen Karl sogleich heftig. Im Nachhinein war man dankbar, dass sich Karl, von dessen konservativer Gesinnung man gewusst habe, nun genau positioniert und von mir Widerspruch erhalten hatte. Der Widerspruch bestand vor allem in meiner großen Freude darüber, dass ich es mit meinem blöden Laufprojekt soweit gebracht hatte, dass ich im Setting von Bilal überhaupt eine derartige Rolle spiele, dass er mir gleich mitteilen wollte, dass er jetzt die Polizeiausbildung macht. Ich sagte in etwa: „Dass ich als Schwuler eine derartige Rolle bei diesen muslimischen Jungs spielen darf, widerlegt alle Rassismen. Es zeigt, was jahrelang versäumt worden ist.“

 

 

 

Wie sich herausstellte und nun bewahrheitete, hatte Karl Adolfs meiner Mutter schon einmal eine AfD-Mail geschickt, worüber sie sich doch gewundert hatte. Natürlich kam dann von meiner Mutter noch: „Dass Du auch noch gesagt hast, dass Du schwul bist…“ Erstens: Schaufensterwerbegestalter waren fast alle schwul – früher. Zweitens: Als Schwuler darf man sich schon gar nicht vor Nazis verstecken oder sich ihnen anbiedern wie ein gewisser Botschafter, sondern muss ihnen Paroli bieten. – Gut, Karl Adolfs war 17, als der Krieg 1945 beendet war. Von der russischen Gefangenschaft soll er nur Gutes erzählen. Die Russen mochten ihn oder so. Wenn ich mir Karl als Siebzehnjährigen vorstellen soll, dann war er ein großer, „arischer“ Typ. Wer mit 90 noch so groß und gutgebaut ist, wird mit 17 kein Hänfling gewesen sein.

 

 

 

Der entlarvende, politisch relevante Horror besteht darin, dass Adolfs 73 Jahre nach Ende des Dritten Reichs, den gleichen Scheiß erzählt wie 1944, sich in der AfD voll wiederfindet und wahrscheinlich nicht nur per E-Mail, sondern ebenso auf Facebook oder Twitter mit seiner erwiesenermaßen falschen Privatmythologie „engagiert“. Karl Adolfs ist mindestens 75 Jahre ein leidenschaftlicher Nationalsozialist und Adolf-Hitler-Anhänger geblieben, um nun seine (Selbst-)Bestätigungsfeste beim „Tag der Nation“ und ähnlichen Veranstaltungen medial zu feiern. Überlebt hat er vermutlich lange als Wähler der CDU, bis er sich der AfD zuwandte. – Das Kaffeetrinken endete übrigens mit Karls beschwichtigendem Hinweis, dass doch in dieser langjährigen Freundschaftsgruppe Politik nie eine Rolle gespielt habe. Und das solle man nun auch so beibehalten. Es folgte ein schneller Aufbruch der Gäste.

 

 

 

Nie ging es einer Generation der Neunzigjährigen ökonomisch, gesundheitlich, sozial besser als heute! Natürlich spielt es für Karl und seine Genossen überhaupt keine Rolle, ob es ihnen schlecht – „Deutschland geht es so schlecht“, sagte er – oder geradezu paradiesisch gut geht. Den Deutschen und Deutschland geht es so Gold, dass die Amerikaner uns um unsere Wirtschaft, Kultur, Infrastruktur und selbst die Deutsche Bahn mit den ICEs schwer beneiden. Von der Siegermacht Russland ganz zu schweigen. Aber wer unbedingt wieder faschistisch herrschen will wie die Enkelin des Reichsfinanzministers Lutz Schwerin von Krosgik – Hitler sind „die Tränen in die Augen getreten“[v]– , wer will, dass man nur ihm oder ihr zuhört und – verdammt noch mal – unterwürfig folgt, dem/der geht es natürlich schlecht, weil er/sie die Macht teilen muss oder ihm/ihr kaum zugehört wird.

 

Doch ganz am Rande soll dann die Politik in einer Freundschaft keine Rolle spielen. Ob das Kaffeetrinken am 23. September 2018 Folgen für die Freundschaft der 7 alten Menschen haben wird, wissen wir nicht. Die Politik auszuklammern, während man AfD-Mails versehentlich(?) an Freunde schickt, muss man als das benennen, was es ist: verlogen. Er will trotzdem bewundert und geliebt werden. Es gibt einen spezifischen, verführerischen Narzissmus im Wesen des Nazis. Karl Adolfs und seine politischen Ansichten wären völlig unerheblich, wenn sie nicht die AfD als rechtsnationale, ja, als Alt-Nazi-Partei entlarven würden. Eine Partei der Gespenster und Poltergeister, die man nicht mehr für möglich gehalten hatte. –  Ich hätte sofort eine unmissverständliche Grenze gezogen und mich von Karl Adolfs abgewandt, weil sein Privatmythos heute, jetzt, ein brandgefährlicher ist. Nicht zuletzt durch Facebook & Co.

 

 

 

Torsten Flüh

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[i] M. Brost u. a.: Macht die CDU blau? Koalieren die Christdemokraten bald mit der AfD? … In: Die Zeit N° 41, 4. Oktober 2018, S. 4 (Print).

[ii] Vgl. zur Grenze und der Stimmung am 9. November 2014 Torsten Flüh: Verflüchtigt. Was in der Berichterstattung zur Lichtgrenze von 25 Jahre Mauerfall nicht vorkam. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. November 2014 18:29.
Und: ders.: Todesstreifen, Narbe und Natur als Lebenslinie. Zur Grenze und „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“ im Museum für Kommunikation Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. November 2015 20:27.

[iii] Vgl. zu Marc Jongen und die kulturpolitische wie politisch-kulturelle Agenda der AfD: Torsten Flüh: Das Nachleben der Diskursfriedhöfe. Falk Richters Fear an der Schaubühne am Lehniner Platz. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. Mai 2016 18:48.

[iv] Dazu: Torsten Flüh: Über den neuen Rassismus in der Politik. Gefährliche Konjunkturen liest Étienne Balibars und Immanuel Wallersteins Race, nation, classe von 1988 wieder. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. April 2018 22:53.

[v] Volker Ulrich: Seine letzte Rolle. Hitler inszenierte den Kollaps des »Dritten Reiches« als heroischen Untergang – mit sich selbst als Wiedergänger des Preußenkönigs Friedrich des Großen. In: Die Zeit N° 41, 4. Oktober 2018, S. 19.

 

Künstlerische Produktion in Dichtung, Lied und Druckguß - Zum untergrundmuseum und Ginka Steinwachs als Gast in AnniKa von Triers Geheimclub

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Geschichte – Untergrund – Geheimnis 

 

Künstlerische Produktion in Dichtung, Lied und Druckguß 

Zum untergrundmuseum und Ginka Steinwachs als Gast in AnniKa von Triers Geheimclub 

 

Der Geheimclub als aktueller Salon mit „Tagesmitgliedschaft und Eintagsgast“ der Chansonnière Annika von Trier findet beziehungsreich am 9. jeden Monats statt, als ginge es darum, die Versprechen des 9. Novembers 1989 zu perpetuieren. Er richtet sich ad hoc nach Anmeldung in der U144 bzw. dem untergrundmuseum in der Linienstraße 144 von Rainer Görß und Ania Rudolph ein. Denn als die Deutsche Demokratische Republik endete, begann die „Forschung Ost“ von Görß und Rudolph als bildende Künstler*innen. Ein einmaliges, unvergleichliches Laboratorium des Sammelns und Geschichtenerzählens unter dem Vergrößerungsapparat für analoge Fotografie zwischen DATAISMUS und Löwenzahn-Kapern-Likör.

 

Im Souterrain der Linienstraße 144 sprießen die Geschichten und werden die Typen der einst ansässigen Schriftgießerei archiviert. Das Vorderhaus mit seiner großen Toreinfahrt und einer freien, geradezu herrschaftlichen, geschwungenen Holztreppe erinnert noch heute an den Erbauer des Hauses im Jahr 1794, den königlichen Kammerdiener Delli, der in der Belleetage wohnte. Die Straße lag damals als äußerste innerhalb der letzten Stadtmauer der preußischen Residenzstadt Berlin zwischen Oranienburger und Hamburger Tor. Der herrschaftliche Garten und die Stallungen wurden im Zuge der Industrialisierung ab 1860 von Fabrikgebäuden für die Schriftgießerei F. F. Teinhardt ersetzt. 1989 wurden hier im VEB Druckguß und Formenbau Berliner Produktionsabschnitt Schilderfertigung noch Gebots- und Verbotsschilder des realexistierenden Sozialismus gegossen.

 

Heidrun S. ist mit ihrer Schwester zum wiederholten Mal im Geheimclub. Mit Gästen aus den USA kommt sie gern an diesen verwunschenen Ort Berliner Geschichte. 1995 erfolgte der letzte Guß einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung auf dem Gelände. Görß und Rudolph haben im Laufe der Jahre Produkte und Produktionsmittel wie Hutformen, Schriftsätze und Schilder, Prothesen und Gewehre, Eierlöffel und Zitronenpressen aus 40 aufgelassenen Betrieben gesammelt. – Apropos Prothesen: Heute ist der Prothesen-Welt-Konzern Ottobock auf das Gelände der Bötzow Brauerei an der Prenzlauer Allee nach Berlin zurückgekehrt. – Die Objekte sind geschichtlich aufgeladen wie die Karl-Marx-Büste aus Pappmaché oder das sozialistische Winkmaterial aus Papierblüten für staatspolitische Umzüge hinter Glasrahmen.

 

Erzählt wird vom anderen Alltag der, aber nicht nur der DDR. Historische Alltagsgegenstände wie Scheinwerfer und unterschiedliche Motoren aus den Volkseigenen Betrieben – VEB – der DDR-Produktion werden zu surrealen Maschinen der Produktion für nichts. Die surrealen Maschinen, die quasi die Bühne vor einem historischen, neogotischen Fenster rahmen, regen die Phantasie an, was nicht nichts ist, aber für gewöhnlich zu gering geschätzt wird. Hier montiert und erzählt ein bildender Künstler als anders gelagerter Historiker. Das Erzählverfahren des untergrundmuseums von Görß und Rudolph funktioniert nach dem der Collage, aus der plötzliche Geschichtserkenntnisse springen.

 

Das untergrundmuseum hat keine geregelten Öffnungszeiten und entzieht sich dem touristisch-industriellen Zugriff. Rainer Görß möchte, dass sich die Besucher*innen auf seine Art der Geschichtserzählung einlassen: „1. Feuerland“, „2. Kunst & Untergrund“, „3. Marke & Macht“, „4. Untergrund & Systemfrage“. Das sind seine historischen Geschichtscluster. Im Souterrain wird nicht nur untergründig gesammelt, archiviert und arrangiert. Es wird vor allem nach künstlerischen Vorstellungen erschlossen. Seine bildende Kunst nutzt Materialien, die ohne ihn schon längst als wertlos verschwunden wären. Das wird materiell in wertlosen Motoren und Monitoren der Staatssicherheitseinheiten ebenso wie sprachlich in Parolen und Plakaten praktiziert: „Wie man arbeiten muß!“, „Stille Post“, „Kinder-Post“, „POSTWERTZEICHEN TELEGRAMM EINSCHREIBEN FERNGESPRÄCHE POSTANWEISUNGEN PAKET-ANNAHME“, „IN DEN RHYTHMEN DER ALGORITHMEN“. Am besten Sie melden sich mit Freund*innen direkt zu einer Führung an.

 

Der Untergrund wird hier nicht einfach ausgestellt. Vielmehr entsteht er auch als Widerstand gegen ein spurloses Vergessen. Anders als die Berliner Unterwelten der „Gesellschaft zur Erforschung und Dokumentation unterirdischer Bauten“ am Bahnhof Gesundbrunnen, die ganze Besucherströme durch den Berliner Untergrund schleust, vermeidet Rainer Görß in seinem untergrundmuseum standardisierte Erzählmuster. Im Cluster „Feuerland“ wird das einst unweit vor dem Oranienburger Tor aufblühende frühindustrielle Gebiet, Geburtsstätte des deutschen Maschinenbaus, insbesondere mit der Schriftgießerei F. F. Teinhardt angesprochen. Als die Schriftgießerei begründet wurde, stand das Oranienburger Tor noch auf der Kreuzung Chaussee-, Friedrich- und Torstraße. August Borsigs Nachfahren bauten hier und in Moabit direkt an der Spree Lokomotiven und andere Dampfmaschinen. Der „Schriftguß“ gehörte zur industriellen Revolution, weil man u.a. für die Maschinen haltbare Schilder brauchte.

 

In dieser vielschichtigen und aufgeladenen Atmosphäre logiert nun der monatliche Geheimclub von AnniKa von Trier als Gast. Es könnte keinen besseren Ort für die, wie man im Englischen neuerdings sagt, singersongwriter geben. Sie spielt mit ihrem Künstlernamen nicht nur auf ihren Geburtsort an, vielmehr erklärt sie ihn mit einer sprachlichen Eigenart der Trierer, die nicht sagten, sie kämen „aus“, sondern „von“ Trier. Gleichzeitig erinnert sie mit ihrem Namen an den gemeinsamen Geburtsort mit Karl Marx, der dann auch in ihrem Clubprogramm vorkommt. AnniKa von Trier mit großem Ka gehört zu den eigensinnigsten und originellsten Musikerinnen Berlins. Als Mademoiselle Papillon führte sie vor einigen Jahren den Salon Papillon in der Gormannstraße 7. In der Flüchtigkeit ihrer originellen Salon- und Cluborte ist sie ein Schmetterling geblieben. Nicht zuletzt kommen neuerdings immer wieder Investoren auf der Linienstraße der Vielfalt in die Quere.

Die Gormannstraße kreuzt zwischen Rosenthaler und Schönhauser Tor die Linienstraße. Insofern ist AnniKa von Trier mit dem Geheimclub der Linienstraße treu geblieben. Sie lädt sich für jeden Club oder Salon eine andere Künstler*in wie Ginka Steinwachs, Alain Jadot oder Carole Kahn, die mit ihnen das Buch Vivre à Berlin (2016) zusammengestellt hat, ein. Am 9. Oktober war die Performerin und Dichterin Ginka Steinwachs zu Gast, deren Buch Sommerträumereien am Meeresufer gerade in der zweiten Auflage im Passagen Verlag von Peter Engelmann erschienen ist.[1] Es gibt so etwas wie eine Linienstraßen-Freundschaftslinie. Die Linienstraße ist weniger ein geschlossener Kiez in Mitte, als eine von zahlreichen Galerien durchbrochene Kunst- und Künstler*innen-Linie, die zunehmend von Investoren angefeindet wird. Plötzlich springen Mieten in die Höhe, und Patrick von der französischen Buchhandlung Zadig muss sich neue Räume suchen. Patrick gehört natürlich zur Linie wie der Eiffelturm zu Paris.

Der salonartige Geheimclub mit seiner Gastgeberin AnniKa von Trier bleibt hoffentlich noch lange auf Linie. Denn die Künstlerin schreibt nicht nur ihre eigenen Chansons wie das von Ginka Steinwachs inspirierte und ihr gewidmete Lied Clocharde de luxe, sie bietet auch lokale Literatur-Canapés wie einen höchst originellen Brief von Bettine von Arnim an ihren geliebten Mann Achim oder einen Brief von Jenny von Westphalen an ihren zukünftigen Ehemann Karl Marx. 

Tragen Sie Luchs oder Fuchs? 

Essen Sie Hummer oder Lachs? 

Das kann Dir egal sein, Du Ätherwesen 

Dein Reichtum ist immer ein andrer gewesen 

In Deine Börse steigt kein Dachs 

             CLOCHARDE DE LUXE 

             DU LEBST VON LUX AIR UND LIEBE 

             CLOCHARDE DE LUXE 

             DU BIST DAS FLUXUSWEIB SIEBEN 

Deine Haare leuchten hell wie der Flachs 

Dein Herz ist nicht aus Stein, es ist aus Wachs 

Eine Luftdusche lüftet Dein luzides Gewächs 

Deine Aussicht: Oriente lux, auf ex …[2]

Die gesungene Hommage an Ginka Steinwachs – „Dein Herz ist nicht aus Stein, es ist aus Wachs“ – wird ebenso als Logogryph wie als Transformation eines Clochard d’amour vorgetragen. Der Liedtext mit französischem Einschlag wird Liebeserklärung an und Portrait der promovierten Komparatistin Ginka Steinwachs zugleich. AnniKa von Trier versteht es, in ihren urban-poetischen Liedern Nähe mit Witz herzustellen. Neben klassischen Chansons wie Göttingen von Barbara dichtet sie Briefe mit Ortsnamen und macht sich in Digital Bohème einen Reim auf die Mythen von Berlin. Aktuell heißt der Slogan: „In Berlin kannst Du alles sein. Auch Herthaner“. Der Sound ist verführerisch und unterhaltsam, doch der kritische Unterton sitzt: 

Sei-ei-ei Berli-hi-hi-hin, Sei-ei-ei kreati-hi-hi-hi-v 

Sei-ei-ei Berli-hi-hi-hin, sei-ei-ei Du Selbst… 

24 Stunden 7 Wochentage 

24 Stunden ohne Nachtzulage 

24 Stunden sind wir kreativ 

24 Stunden kein Wochenendtarif 

[3]

Ginka Steinwachs verknüpft in Sommerträumereien am Meeresufer den gleichnamigen Text von Ludwig Salvator mit dessen Biographie in ihrem Schreibmodus. Im Geheimclub wird die biographische Erzählung zur Performance. Die Dichterin hat in ihren Texten mehrfach an die Schriften des Mallorca-Reisenden und -Erforschers angedockt. Der Mythos Mallorca – und nicht Ballermann – verdankt sich nicht nur eines Aufenthaltes der Schriftstellerin George Sand mit ihrem Geliebten Frédéric Chopin in der damals unwirtlichen Kartause von Valldemossa, sondern mehr noch den wissenschaftlichen, botanischen, ethnologischen, historischen, geologischen wie geographischen, zoologischen und linguistischen Exkursionen, Forschungen und Schriften Ludwig Salvators. 

 

 

Ludwig Salvator schrieb zwischen 1869 und 1891 nicht nur sein siebenbändiges Hauptwerk Die Balearen Geschildert in Wort und Bild über die Inselgruppe, vielmehr (er)schrieb er sich mit seinen Büchern bio-graphisch eine andere Identität. In zahlreichen Schriften sammelte und formulierte er das Wissen von Mallorca und den Ballearen, das die Tourismusindustrie höchstens noch am Rande interessiert. Ginka Steinwachs rückt indessen „ludwig graf von neudorf“ als Pseudonym und Identität ins Interesse. 

der permiss, die erlaubnis zu einer seereise in therapeutischer absicht. unter falschem namen, einem namen nämlich, der seine wahre absicht anvisiert, legen ludwig graf von neudorf und sein lehrer freund mentor eugenio conte sforza di montignoso im hafen von palma an. 

auf der größten baleareninsel: mallorca. 

wir schreiben das jahr 1867. 

das jahr des neubeginns eines jungen grafen von neudorf. 

ich nehme den namen auseinander. 

er zerfällt in drei bestandteile. 

graf by understatement. 

dorf im gegenzug zu stadt, hauptstadt. 

neu als zeichen der hoffnung.[4]

 

Ginka Steinwachs nennt ihre Ludwig-Salvator-Biographie ein unbewusstseelenleben. Man könnte sie auch queer nennen. Das Wissen und die Wissenschaft von Mallorca verdankt sich gewissermaßen einer liebevollen Queerness Ludwig Salvators aus dem habsburgischen Kaiserhaus in Wien. Mallorca wird 1867, als Erzherzog Ludwig Salvator von Österreich, Prinz von Toskana zwanzig Jahre alt ist, neu bzw. zum „zeichen der hoffnung“, wie es Steinwachs formuliert. Für einen österreichischen Herzog und toskanischen Prinzen, der zur Herrschaft geboren worden war, verhält sich Ludwig Salvator auffallend anders oder auch unkonventionell, eben queer. Heiraten wird er nie. Kolportiert werden Liebesbriefe mit dem mallorquinischen Hausmädchen Catalina Homar. Doch der europäische Hochadlige macht ein Kapitänspatent, um in Männergesellschaften Mallorca, die Ballearen und das gesamte Mittelmeer kaum fassbar zu bereisen.   

¿warum seine erste braut, die erzherzogin mathilde, tochter von erzherzog albrecht, nicht seine frau wird? 

¡darum, weil sie vor seinen eigenen augen, oh graus, bei einer truppenparade unter ihrem balkon lebendigen leibes verbrennt. das herzkunstwerk in der flamme! 

¿warum seine nächste braut, die venezianische gräfin luisa da venezze, nicht seine frau wird? 

¡darum, weil ihr adelspatent nicht bis zum erzherzog, nicht bis zu herzog, herz hoch hinaufreicht! 

immerhin wird sie die frau seines lebensgefährten sekretärs treuesten mitarbeiters und alles andere auch, eines mallorquiner geistlichkeitsanwärters: antoni, später don antoni vives.[5]

 

Das Leben im oder als Fragezeichen performt Steinwachs auch im Geheimclub mit einem Fragezeichen am Stiel. Wir wissen wenig, fast nichts von Ludwig Salvator, was er nicht geschrieben hat. Stattdessen veröffentlicht und schreibt er noch und nöcher Bücher über Mallorca und mallorquinische Märchen etc. Alles beginnt mit dem geheimnisvollen Graf von Neudorf in Palma de Mallorca, das ein erzkatholisches Nest ist. Aber auf einer Motoryacht mit dem weiblichen Namen Nixe lässt es sich gut unter Männern leben – und lieben. Nixen sind indessen wenigstens menschlich-tierische Mischwesen, die leicht zu entgleiten drohen und bei Hans Christian Andersen 1837 Den lille Havfrue in Deutsch Die kleine Meerjungfrau heißen. Sie zählen zum Geschlecht der Wassergeister, von denen auch männliche Exemplare vorkommen. – Der Name der Yacht wirft mehr Fragen auf, als sie sich beim ersten Lesen einstellen. 

er verliert den palazzo pitti unter den füßen. 

er schließt sich selbst kraft seines asthmas von der wiener hofburg und auf grund seine homosexualität von den freuden der ehe aus. Was nun bleibt, ist NIXE I, ein palazzo pitti mit kiel, eine bewegliche immobilie, nennen wir sie doch gleich mobilie.[6]

 

Aus einem der ältesten und mächtigsten Adelsgeschlechter Europas stammend weigert sich Ludwig Salvator, die ihm vorgeschriebene Geschlechterrolle anzunehmen. Höchst bürgerlich wird er Kapitän, Forscher, Reisender und Schriftsteller. Ginka Steinwachs hat sich seiner schreibend und dichtend nicht zuletzt deshalb angenommen, weil sie selbst mit einem Katalanen durch die atemberaubende Bergwelt des Nordwestens von Mallorca wanderte und ein verlassenes Stadthaus im Bergdorf fand. Im Theatertext erzherzog herzherzog oder Das unglückliche Haus Österreich heiratet die Insel der Stille (1985) und im Prosatext Der schwimmende Österreich (1985) hat sie sich wiederholt der Geschlechterfrage von Ludwig Salvator angenähert. Homosexuell? Bäuerlich? Hochadelig? Bisexuell? Bürgerlich? Biobauer? Hansdampfkapitän? Stand der Sonnenuhr? Er kauft das „verwahrloste … meergut“ Miramar, dessen Name sich mallorquinisch lesen lässt: 

das miramar von amic (liebendem) und /i amat (geliebten), wo der liebende die schönheit der schöpfung des geliebten preist. tag und nacht. Wenn die sonne scheint und zum schein der sterne. wo der liebende zum geliebten sagt, er befinde sich unter dem goldenen segenbogen einer schöpfung, die wonne singt.[7] 

 

Im Geheimclub ist Ginka Steinwachs gut drauf. Sie fängt mit dem Anfang an. Sie dreht ein kleines Fragezeichen am Stiel zwischen ihren Fingern und blickt fragend ins Publikum: „aber wo ist denn der anfang? aller anfang ist schwer. aller anfang ist sehr …“ Steinwachs‘ Performance-Kunst lässt aus einer sprachoperativen Frage eine wenigstens kosmologische Tiefenfrage aufblitzen. In den besten Passagen seiner Sommerträumereien am Meeresufer (1912) tauchen ähnliche Fragen bei Ludwig Salvator fast unvermittelt in der poetischen Prosa auf. Die Sommerträumereien erhalten ihren besonderen Reiz aus der Komposition geologischen Wissens der Gesteinsschichten mit anthropomorphem „Meergewächs“. 

Die Welle deckt kaum unterseeischen, mit fast goldgelben Tangen bewachsenen Felsen, das weiche Meergewächs wogt hin und her, daß man glauben würde, ein blondes Haupt schüttelte sein Haar dicht an der Meeresoberfläche.[8]

 

Die Tiefe wird von Ludwig Salvator weniger zu einer spirituellen, als zu einer visuellen Frage des längeren Schauens. Vor dem Hintergrund seiner erzkatholischen Herkunft wird die Funktion des modernen Wissens in der Poesie besonders deutlich. Als Schriftsteller schreibt Ludwig Salvator nicht nur die mallorquinischen Geschichten um, vielmehr formuliert er mit der Tiefe Lebensbilder und Lebensentwürfe. 

Jeder Winkel der Felsenküste birgt einen solchen Schatz unterseeischer Herrlichkeiten, daß man sich nicht sattsehen kann. Man könnte nicht bloß tage-, sondern monatelang in die Tiefe hineinschauen und sich immer mit neuen Bildern ergötzen. Auch gibt es unerwartete Ankünfte in diesen Palästen. Wenn man vom Lande zusieht, was dort kriecht und schwimmt, so wird man gewissermaßen auf das Herannahen der verschiedenen Seetiere vorbereitet. Hier taucht plötzlich aus dem dunklen Grunde ein neues Wesen empor, bald Flüchtling, bald Verfolger, um mit gleicher Raschheit wieder zu verschwinden; nur ein silberheller Streifen in dem Wasser verkündet sein Dahinhuschen.[9]

  

Aus welcher Tiefe kommen die „neuen Bilder“, wenn man monatelang in die Tiefe hineinschaut? Ausgerechnet in den Sommerträumereien am Meeresufer, einem harmlosen Titel, gelingt Ludwig Salvator eine sprachliche Verdichtung seines weitläufigen Wissens. Wissenschaft und Tiefenbilder lassen plötzlich „ein blondes Haupt“ oder „Paläste“ mit einem wimmelnden Leben auftauchen, nur eine Spur im „Dahinhuschen“. Ginka Steinwachs hat diese einzigartige Überschneidung von Dichtung und Wissenschaft in den Schriften Ludwig Salvators früh fasziniert. Er stürzt sich in eine neu- und andersartige Erfassung der mediterranen Welt, die die wissenschaftlichen Standards mitformuliert und zugleich poetologisch umwertet. – Der nächste Geheimclub findet am 9. November statt und der Passagen Verlag hat gerade die zweite Auflage der Sommerträumereien drucken lassen. 

 

Torsten Füh

  

Rainer Göhrs und Ania Rudolph 

untergrundmuseum 

Linienstraße 144 

10115 Berlin 

Führungen nach telefonischer Absprache oder per E-Mail 

info@untergrundmuseum.de

 

AnniKa von Trier 

Geheimclub 

im untergrundmuseum 

Anmeldung: 

geheimclub@annika-von-trier.com 

 

Ginka Steinwachs/Ludwig Salvator 

Sommerträumereien am Meeresufer 

1912/2003 (Zweite Auflage)

 

Performance 

Ginka Steinwachs 

die weisse woche (1978) 

am Sonntag, 11. November 2018, 16:00 Uhr 

in der Ausstellung HIJR Fantastik 

im Schwulen Museum

 

Carole Kahn

Vivre à Berlin 
18,00 € 
 
 

_____________________________



[1] Ginka Steinwachs/Ludwig Salvator: Sommerträumereien am Meeresufer 1912/20013. Wien: Passagen, 2004.

[2] Siehe Liedtexte von AnniKa von Trier auf http://annika-von-trier.com/urbane-liedtexte/

[3] Ebenda.

[4] Ginka Steinwachs/Ludwig Salvator: Sommerträumereien … [wie Anm. 1] S. 17.

[5] Ebenda S. 25.

[6] Ebenda S. 26.

[7] Ebenda S. 27.

[8] Ebenda S. 78.

[9] Ebenda S. 79. 

Funken sprühend lebendig - Zu VIVID als neue Grand Show im Palast über das Leben in binären Zeiten und Welten

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Leben – Angst – Faszination 

 

Funken sprühend lebendig 

Zu VIVID als neue Grand Show im Palast über das Leben in binären Zeiten und Welten 

 

VIVID sprüht nicht nur vor purer Lebensfreude, die neue Grand Show an der Friedrichstraße stellt auch die Frage nach dem Leben auf den Kopf. Das liegt nicht nur an den Hüten auf den Köpfen der Artist*innen und Körperkünstler*innen. Die Hüte sind von Philip Treacy aus dem Landkreis Galway im ländlichen Irland. Doch Treacy hat es auf märchenhafte Weise aus der Landschaft des robusten Tweed laut Vogue zum „perhaps … greatest living milliner“ in der Hauptstadt aller Hut- oder Putzmacher gebracht, nämlich London. Kein Event der Royals ohne Hut als Ersatzkrone. R’eye in VIVID bekommt dagegen einen funkelnden Android-Helm verpasst, um in der „Binären Welt“ robotergleich alles sehen, aber kaum erleben zu dürfen.

 

Die erste Show, die nach 99 Jahren der durchaus wechselvollen Bühnengeschichte des Friedrichstadt-Palasts von einer Frau, Krista Monson, geschrieben und inszeniert worden ist, setzt neue Maßstäbe im Revuetheater bzw. der Grand Show. Frau und Revue an der Friedrichstraße waren fast 100 Jahre lang Frau und Banane. Josephine Baker trat am 14. Januar 1926 erstmals in fast nichts als einem Rock aus phallischen Bananen in Berlin auf. Beinahe gleichzeitig brachte Erik Charell die Girlreihe aus London nach Berlin. Je länger die Reihe gleichgroßer und -schlanker, gleichgekleideter sowie synchron tanzender junger Frauen wurde, desto größer die Begeisterung und lauter das rhythmische Klatschen im Publikum. Krista Monson macht es nun etwas anders.

 

Zunächst allerdings vermochte es Barbara Eden auf dem Roten Teppich zur Weltpremiere von VIVID Tumulte und ein Blitzlichtgewitter der Agentur- und Magazinfotografen auszulösen. Es sind am Roten Teppich tatsächlich Männer mit Kameras und Spezialobjektiven in der Überzahl. Barbara Eden hat sich seit 1965 auf eine Geste mit größtem Wiedererkennungswert für in and out of Hollywood spezialisiert. Sie hält die Arme verschränkt in Schulterhöhe vor ihren Körper und nickt blinzelnd wie die hollywood-orientalisch gekleidete Frau aus der us-amerikanischen Serie I dream of Jeannie oder Die bezaubernde Jeannie. Jeannie zauberte sich mit der Geste an verschiedene Orte und in verschiedene Geschichten hinein. In der Zeichentrick-Intro wird Jeannie als zufälliges, orientalisches Fundstück eines, natürlich amerikanischen, Astronauten, der in seiner Raumkapsel auf einer Pazifikinsel landet, eingeführt.

 

Jeannie als Figur einer weiblichen, eher leicht bekleideten Frau – nabelfrei in einer Art Bikini mit Hose und Schleiern – wurde nach der kindlichen Erinnerung des Berichterstatters von einem mächtigen Flaschengeist beherrscht, der sie in einer Flasche als Wohnstube festhielt. Sie selbst konnte allerdings zeitweilig entkommen, um im Zeitalter von Raumkapsel und analogem Telefon mit ihrer Geste zu zaubern. Sie stiftete meistens einige Verwirrung mit ihren Zaubertricks. Doch beherrscht wurde Jeannie von 1965 bis 1970 von einem Dschinn, der größer war als sie, und sie immer wieder in ihre Wohn-Flasche zauberte. Die psychoanalytische Ebene des Verhältnisses von Tony Nelson, dem Astronauten, und Jeannie blieb dem Kind verborgen. Doch Barbara Eden als Jeannie faszinierte den Jungen fast ebenso sehr wie Marilyn Monroe. Entzog sich Jeannie als 2000 Jahre alter Flaschengeist dem Mann? Oder wurde sie gleich einer Hausfrau der 60er Jahre in der Flasche unter Verschluss gehalten?

 

Barbara Eden als Jeannie stimmte in gewisser Weise auf den populären Mythos von Frau und Zauberei ein. Die Fotografen schrien „Barbara“ und sie zauberte die Geste. Die ganz große Inszenierung der Weltpremieren im Friedrichstadt-Palast verknüpft mit dem Roten Teppich Mythen der Popkultur, wie anlässlich der Weltpremiere von The One(2016) detaillierter entfaltet und beleuchtet wurde.[1] Einerseits erfüllt Barbara Eden (*1931) eine Zeugin-Funktion für Menschen, die sich an sie erinnern, was die solvente Generation 50Plus wäre. Wenn Barbara Eden/Jeannie dorthin geht, dann muss die Show besonders sein. Andererseits bietet die Zauberin Jeannie die Möglichkeit zur Verknüpfung mit dem Mädchen R’eye (Devi-Amanda Dahm) und dem Guru (Mehmet Yilmaz), der die zauberische Ebru-Malerei showreif vorführt. Jeannie war eine in gewisser Weise witzige Zauberin, die ein Frauenbild bediente und sich den Männerphantasien zugleich entzog.         


Stay (© Brinkhoff-Moegenburg) 

Die Girlreihe, im Englischen Kickline, war immer eine Männerphantasie. Sie kombiniert den disziplinierten, schlanken Körper der Frau mit dessen Verfügbarkeit durch die nahezu industrielle Vervielfältigung, obwohl Erik Charell als Homosexueller vielleicht gar nicht daran dachte. Die Girlreihe wurde nicht nur zu einem Markenzeichen des Friedrichstadt-Palasts, vielmehr wurde sie zum Körperbild der disziplinierten Frau, die die Lust am Seriellen weckte. Ihre kulturellen Tiefenschichten reichen paradoxer Weise bis zu Turnvater Jahn, der in der Hasenheide von Anfang an das Turnen bzw. die Körperertüchtigung als nationalpolitische Übung einführte. Geturnt wurde ab dem 19. Juni 1811 vor den Toren Berlins in der Hasenheide, um für die Nation und die Preußischen Befreiungskriege gegen Napoleon fit zu werden. Krista Monson bedient und durchbricht mit ihrer Geschichte von R’eye auf raffinierteste Weise diese Tradition der Girlreihe.

Der Intendant und Produzent von VIVID im Palast, Dr. Berndt Schmidt, erhält bei der Weltpremiere am 11. Oktober stürmischen Applaus und Bravos, als er zur Begrüßung sagt, dass Krista Monson als erste Frau in der Geschichte des Hauses Regie geführt habe. In den letzten Jahren hatten Roland Welke und/oder Jürgen Nass die Regie durchaus innovativ, doch nach bekanntem Schema ausgeführt. Mit Krista Monson und Oliver Hoppmann als Co-Autor und Co-Regisseur ändert sich doch noch einmal mehr als erwartet. Der Palast und sein Team übertreffen sich ein weiteres Mal. Das ist der Haltung und dem Gespür von Berndt Schmidt zu verdanken. Nach #MeToo, aber auch schon vorher, war zu überdenken, ob eine Profi-Frau an den Schräubchen des Revue-Formats etwas verstellen könnte. Denn die Revue ist durchaus ein Geschlechter-Format.

 

VIVID ist aufregend nah an den Fragen der Zeit dran. VIVID spielt jetzt. Anders als in Show Me – Glamour is back (2012) oder The One Grand Show (2016) greift diese Revue die Geschlechterfrage in der aktuellen, öffentlichen Diskussion auf. Einerseits erzählt VIVID vom Leben und feiert es, andererseits wird R’eye zum „Android“, also in einen menschenähnlichen Roboter verwandelt. Was heißt dann Leben? Lebt ein Android? Oder ist ein Android eine tote Maschine? Inwieweit verwandeln sich Menschen tagtäglich durch die Künstliche Intelligenz der Apps in roboterartige Wesen? Wenige Tage zuvor hatte der Theaterkritiker Michael Skasa in der Uraufführung von Uncanny Valley in den Münchner Kammerspielen gesessen und den „Cyborg“ auf der Bühne für den Autor Thomas Melle gehalten.[2] Das Unheimliche war ihm die mimische Menschenähnlichkeit der Maschine als Ende des Menschen, wie wir ihn kennen.

 

Was macht die fortschreitende Künstliche Intelligenz, wie sie für Schüler*innen und Erwachsene in den Apps der Smartphones arbeitet, mit uns? „Pling“. „#tellAda: Hallo, ich bin Ada. Ich kann dir helfen, wenn du dich nicht wohlfühlst.“[3]„Brechen Sie das Eis und lernen Sie Alexa noch besser kennen, Sagen Sie einfach: „Alexa, guten Morgen.“| „Alexa, wie geht es dir?“ | „Alexa, was ist dein Lieblingsfilm?“[4] Wie witzig ist das denn, wenn wir uns an einem „Wortspiel“ von Alexa erfreuen?[5] Das Mädchen aus dem Publikum lässt sich wie weiland Alice in Wonderland von „Androiden“ mit einem Helm oder „Hut“ aus 1.800 LEDs und 200 einzelnen Laserpunkten in die „Binäre Welt“ entführen. Androiden, Cyborgs, nicht zuletzt Roboter als Entertainer in der Altenpflege bevölkern zunehmend den Unterhaltungssektor.[6] Die Medizin lässt sich derart verdaten, dass Ada einen Arztbesuch ersetzten könnte. Denn Ärzte haben auch nur ihr Diagnose-Tool und müssen nach Schemata Medikamente und Behandlungen gegenüber den Krankenkassen abrechnen.

 

Die ganz große Kunst der Revue in ihrer Ästhetik der permanenten Überbietung besteht darin, mit den Mitteln der Poesie eine elastische Geschichte zu erzählen, in der vielfältige Wahrnehmungen möglich werden. VIVID setzt von und mit Krista Monson, die zuvor schon als Artistic Director für die Show O in Las Vegas mit dem Cirque du Soleil zusammengearbeitet hat, neue Maßstäbe in der Kombination von New Circus und Revue im Großformat. Ständig passieren auf der Bühne mehrere Aktionen gleichzeitig, die sich kaum noch erfassen lassen. Es bewegen sich neben The Entertainer (Andreas Bieber) zahllose Menschen und Kostüme auf der Bühne. Während die vier Artistinnen der Troupe Ayasgalan als Kontorsionistinnen in Schlangenkostümen in Jungle Extravaganza atemberaubende Pyramiden bilden, bevölkern unzählige Mischwesen (16) aus Tier und Mensch oder Mensch und Pflanze mit den atemberaubendsten Hut- bzw. Kopfkreationen die Bühne. R’eye steht fasziniert mittendrin.

 

Die Überbietung führt zu einer gewissen Unübersichtlichkeit der Vielfalt. Nun könnte genau diese Unübersichtlichkeit als Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Aktionen und Blickwinkel Angst machen. Ist es doch die Unübersichtlichkeit der Welt, die durch permanente Informationssturzfluten heute Ängste auslösen kann. An der Sequenz Jungle Extravaganza lässt sich die irritierende Gleichzeitigkeit und Vielfalt genauer beschreiben. Würde sich der Zuschauer nur auf die Schlangenmenschenfrauen konzentrieren, entgingen ihm die Raupenfrau und der Pavianmann oder die Schmetterlingsfrau und der Faltermann mit Orchideenelementen. Vorgeführt wird eine verführerische Vielfalt, die sich nicht in einer Aktion oder einem Bild fassen lässt. Der Songtext (Jasmin Shakeri) für den Entertainer feiert gleichzeitig die Vielfalt: 

Bisher hast du dich nicht getraut 

Alles auszuleben, war Dir innewohnt. 

Doch genau diese Vielfalt gilt es zu leben. 

Erforsche die Grenzen, umarme die Angst. 

Was auch immer dich dir selbst näher bringt, 

hier kannst du es leben.[7]   

 

Vielfalt lässt sich nicht erfassen oder verorten. Das Leben ist vielfältig. Während die Revue als Bühnenformat mit der Girlreihe beispielhaft einer Vereinheitlichung, Disziplinierung und Standardisierung huldigte, feiert VIVID ein Leben und eine Lebendigkeit der Vielfalt, die unfassbar ist. Der Kulturphilosoph Jacques Rancière hat in seinem Buch Aisthesis„ästhetische Regime der Kunst“ analysiert, indem er u.a. die „Berichte von Aufführungen des Théâtre des Funambules oder der Folies-Bergère“ entfaltet hat.[8] Was schrieben die „Denker() oder Kritiker(), deren Ruhm längst verblasst ist“?[9] Welche Wechselwirkungen entstehen zwischen Kunst und Gesellschaft? Rancière nennt seine „vierzehn Episoden“ „Mikrokosmen, in denen man sieht, wie sich die Logik dieses Regimes herausbildet, sich verändert, ganz neue Gebiete einschließt und sich dazu neue Schemata schmiedet“.[10]VIVID mit seiner Regisseurin und ihrem ganzen Team, das Berndt Schmidt nicht unwesentlich zusammengestellt hat, ist in einem hohen Maße eine Team- und Gemeinschaftsproduktion aus einem gesellschaftlichen Diskurs heraus.


Passion and Breath (© Brinkhoff-Moegenburg) 

Am Genre Revue generierten die Geschlechterfragen spätestens seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts eine permanente Faszination. Tiere werden gezähmt, dressiert und vorgeführt, um nicht zuletzt den Menschen auf der Bühne in Szene zu setzen, wie noch 2014 in der Grand Show The Wyld. Die Tierdressur, und sei sie noch so artgerecht, bestätigte und bestätigt immer den Menschen und „Herrchen“. Einerseits werden in der 20er Jahren die Attraktionen wie La Revue Nègre mit Josephine Baker durchaus als Berauschung an dem anderen Geschlecht bzw. Rasse versprochen, andererseits werden die Geschlechter wie in Kurt Tucholskys Skript Seifenblasen als Rollenmodelle unterlaufen. Der Widerhall dieses Regimes, um terminologisch an Rancière anzuknüpfen, generiert Figuren wie The Entertainer in weißen High Heels als androgynen Führer durch die Revuewelt. Was hat sich verändert seit Kurt Tucholsky den Damenimitator Paulus erfand, der eigentlich Barbara heißt und vor seinen/ihren Verehrerinnen fliehen muss? 

Wir sehen auf der Bühne noch den letzten Tanzakt der Girls – dann geht der Vorhang herunter – Zwischentaktsmusik – kein Fräulein Nummer, sondern Ankündigung durch leuchtende Nummern an der Seite der Bühne – und man spürt, wie unter dem Programmgeraschel die Leute sich gegenseitig auf die Nummer aufmerksam machen, deretwegen sie hergekommen sind: Paulus, der Damenimitator Paulus.[11] 

 

Barbara als Damenimitator Paulus führt auf mehrfache Weise vor, worauf es in der Revue ankommt: die Kategorie des Geschlechts wird ausgehebelt, weil sie als Verkleidung der Verkleidung vorgeführt wird. Zum Damenimitator wird Barbara nur, indem sie in den Kleidern ihres Bruders beim Revue-Direktor vorspricht. Als Mann, der Frauen spielt, wird Barbara nur noch umso begehrenswerter. Kurt Tucholskys kühne literarischen Abfassung eines Skripts für einen Film, das sich in seinen sprachlichen Operationen – „kein Fräulein Nummer“ statt Nummernfräulein – einer Verfilmung mehr entzieht, als sie einfordert, gibt einen Wink auf das Genre und seine Konstruktionen selbst. Das Geschlecht und die Geschlechtlichkeit als Zauber bzw. Illusion. 

In der Herren-Abteilung aber sitzt ein ernster, junger Mann, der läßt sich gerade die Haare schneiden, er raucht und liest die Zeitung. Enttäuscht zieht der Gendarm wieder ab, und Barbara sendet ihm, was wir im Spiegel sehn, einen verschmitzten Blick nach. Es klappert die Schere des Friseurs, die Haare fliegen.[12]

 

Die Verwandlung von R’eye in eine Androidin durch Helm und Maschinenkörper mit weiblichen Brüsten als Anzug funktioniert in VIVID auf ähnliche Weise. Beiläufig wird im Programm von Berndt Schmidt auf die Mehrdeutigkeit von vivid als lebendig, hell, farbenprächtig, strahlend und als Logogryph für ID wie Identität hingewiesen. Welche Identität hat R'eye? Indem das Mädchen zum Roboter wird, werden ihre weiblichen Körpermerkmale auf dem Anzug grafisch nur umso stärker hervorgehoben. Die von Menschen verkörperten, tendenziell geschlechtslosen Androiden bedürfen umso stärkerer Geschlechtsmerkmale als Kostüme (Stefano Canulli). Die Maschine führt das Geschlecht auf, weil es wie ein Anzug am Körper anliegt. Natürlich geht es in den Bodysuites der Artist*innen in der Revue immer darum, einen Körper durch Überzeichnung herzustellen. Die 32 Androidinnen, die Androidonna (Glacéia Henderson) in High Heels und Latexsuite mit einem, sagen wir, verdrehten Heiligenschein auftreten lässt, um R’eye mit der „Binären Welt“ zu faszinieren, bilden die Girlreihe.

Die Storyline von VIVID ist besonders stark als Projektionsfläche ausgeprägt. Die Ängste werden mit den Danger Boys und Fallen Angels, deren High Heels an Hummerscheren erinnern, visualisiert. Auf subtile Weise entfaltet sich VIVID als eine Art hypermoderner Bildungsroman, in den die Leserzuschauer*innen eintauchen können. „R’eyes Reise“ lässt sich mit dem Programmtexten noch stärker als Bildungsreise des Publikums in einer unübersichtlichen Welt lesen. Durch die Reise als zauberhafte Revue wird im Idealfall ein Selbstfindungsprozess mit einer Legitimation der Individualität ausgelöst.

R’eyes Reise zu sich selbst führt sie zwangsläufig auch in die Tiefe ihrer Seele. Ein gefährlicher Ort, van dem man sich verletzen kann. Aber wir sind alle einzigartig und so steckt die Wahrheit über uns nur in uns. Das Spiel mit der Gefahr und Selbsterkenntnis übt großen Reiz auf R’eye aus.[13]  

 

Die Grenzen des Lebens und der Geschlechter werden in VIVID zunehmend in eine Vielfalt aufgelöst. So wird in Passion & Breath„das Sonett 43 von William Shakespeare in arabischer Sprache, ein Ausdruck von Liebe und eine Darstellung dieser schönen Gesangssprache“, zitiert.[14] Das erschließt sich in der Show selbst gewiss nicht so leicht, wenn man das Programm im Heft nicht genau mitliest, wofür es eigentlich keine Zeit gibt. Doch die arabische Übersetzung des Sonetts von Dr. Badr Tawfeeq mit der arabisch anmutenden Musik von Dave Kochanski in der Choreografie von Leo Mujić verknüpft hier wiederum sehr unterschiedliche Bereiche von europäischer „Hochkultur“ und Bildung, arabischer Kunst und Popmusik. Das hat etwas mit Berlin zu tun, mit Erfahrung, Bildung und Wissen. Vom Berliner Ensemble winkt sozusagen Bob Wilson mit Shakespear's Sonnets (2009) herüber. Die perfekte Revue erweist sich als Collage und Transformation.

 

Gerade in seiner Rätselhaftigkeit und Poesie gehört diese Sequenz zu meinen Höhepunkten der Show. Dass es sich bei William Shakespears Sonetten wenigstens dem Genre nach um Liebesgedichte an einen Freund und Geliebten handelt, macht deren Transformation in eine Revuenummer besonders subtil. Einerseits erweist Passion and Breath Shakespeare wie der arabischen Sprache Respekt, andererseits fordert es von der arabischen Kultur Respekt für die Liebe unter Männern ein. Das ist in der Gegenwart mutig und beweist Haltung. 

When most I wink, then do mine eyes best see, 

For all the day they view things unrespected; 

But when I sleep, in dreams they look on thee, 

And darkly bright are bright in dark directed; 

Then thou, whose shadow shadows doth make bright, 

How would thy shadow's form form happy show 

To the clear day with thy much clearer light, 

When to unseeing eyes thy shade shines so? 

How would, I say, mine eyes be blessed made 

By looking on thee in the living day, 

When in dead night thy fair imperfect shade 

Through heavy sleep on sightless eyes doth stay? 

      All days are nights to see till I see thee, 

      And nights bright days when dreams do show thee me.[15]

 

Die Revue/Show lässt sich nicht nur bühnentechnisch als eine große Maschine, in der alles aufeinander abgestimmt ist, formulieren. Das Maschinelle der Revue wird final mit dem Double Wheel of Steel in Prismatic Release gefeiert und, weil im wahrsten Sinne des Wortes von Menschenkörpern super schnell in Rotation versetzt, als akrobatische Herausforderung an die Menschen vorgeführt. Im Kontext des Lebens in einer „Binären Welt“ wird Prismatic Release zum anderen Bild der lichtschnellen Datenströme aus 0 und 1, an die eröffnend mit Typography als Video durch die Videodesigner von MAXIN10SITY erinnert worden war. Die maschinellen Zahlenkolonnen aus 1 und 0, die die Wirklichkeit nicht nur der Grand Show längst mitbestimmen, werden in der hyperschnellen Akrobatik am Double Wheel of Steel vorgeführt. Dafür gab es in der Weltpremiere Standing Ovations.

 

 

Doch die eigentliche Pointe der Grand Show blitzte im ausgetüftelten Timing von VIVID für einen Moment in der Girlreihe auf. Nicht nur das Timing der einzelnen Nummern wie in Prismatic Release muss exakt stimmen, vielmehr muss der Rhythmus aus schnellen, hyperschnellen und ruhigen Sequenzen für das Publikum funktionieren. Die fast hypnotische Ebru Malerei verdankt sich der Schnelligkeit von Mehmet Yilmaz, um zugleich beruhigend zu wirken. Die Comedy Sequenzen mit Jimmy Slonina sind eher langsam, aber ohne Längen. Die Wechsel der Szenen sind immer wieder medial fließend, so dass die Collage der Themen und Elemente stimmig wird. In Stay, der Girlreihe der 32 Androidinnen nun, setzt das rhythmische Klatschen schnell ein, um in einen Jubel auszubrechen, als sich die verdrehten oder auch queeren Heiligenscheine, die „Kickline Hüte“ von Philip Tracey nacheinander für einen Moment in den Regenbogenfarben der LGBTI*-Community erleuchten. Es ist fast wie eine Befreiung der Girlreihe aus der Geschlechtsbestimmung. 

 

Torsten Flüh 

 

VIVID 

Grand Show 

Palast Berlin 

Nächste Vorstellungen.

___________________________



[1] Siehe: Torsten Flüh: Die Bloggerin, das Model, der Weltstar und die Königin. Ein Bericht vom Roten Teppich zur Weltpremiere von The One im Friedrichstadt-Palast. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Oktober 2016 21:23.

[2] Michael Skasa: Alles wackelt. Die Münchner Kammerspiele erforschen in zwei Aufführungen den Anfang und das Ende des Menschseins. In: DIE ZEIT Nr. 42/2018, 11. Oktober 2018.

[4] Siehe: Alexa kennenlernen: Amazon.

[5] Ebenda.

[6] Stefan Schultz: Roboter als Altenpfleger – hier ist es bereits Realität. In Spiegel+ 14. Juni 2018.

[7] Siehe Programmheft VIVID. Berlin: Friedrichstadt-Palast, 2018.

[8] Jacques Rancière: Aisthesis. Vierzehn Szenen. Wien: Passagen Verlag, 2013, S. 15.

[9] Ebenda.

[10] Ebenda.

[11] Kurt Tucholsky: Seifenblasen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch, 2017, S. 35.

[12] Ebenda S. 112.

[13] Programmheft WIVID … [wie Anm. 7].

[14] Ebenda.

[15] Wenn ich im Schlaf die Augen schließe, dann bieten sie das Beste,
       Den ganzen Tag über sehen sie Dinge unbeachtet;
       Aber wenn ich schlafe, in Träumen schauen sie auf dich,
       Und dunkel hell sind hell im Dunkeln gerichtet;
       Dann du, dessen Schattenschatten hell werden,
       Wie würde deines Schattens Form dich fröhlich zeigen?
       Zu dem klaren Tag mit deinem viel klareren Licht,
       Wenn zu blinzelnden Augen dein Schatten so scheint?
       Wie würden, sagen wir, meine Augen gesegnet werden?
       Indem ich dich am lebenden Tag anschaue,
       Wenn in der toten Nacht dein unvollkommener Schatten ist
       Durch schweren Schlaf auf blinden Augen liegen bleibt?
              Alle Tage sind Nächte zu sehen, bis ich dich sehe,
              Und Nächte helle Tage, wenn Träume dich mir zeigen.

      (Übersetzung T.F.)

Vom Vermögen und Reichtum der Vielstimmigkeit - Zum Jubiläumskonzert des RIAS Kammerchors mit der Uraufführung der Chorkantate World Without End - Von Ewigkeit zu Ewigkeit

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Chor – 1918 – Stimmen 

 

Vom Vermögen und Reichtum der Vielstimmigkeit 

Zum Jubiläumskonzert des RIAS Kammerchors mit der Uraufführung der Chorkantate World Without End – Von Ewigkeit zu Ewigkeit von Roderick Williams 

 

Als am Mittwochabend die Konzertbesucher*innen aus dem Kammermusiksaal der Philharmonie strömten, standen Sie nicht nur unter dem Eindruck der Stimmen des RIAS Kammerchors, der mit dem Konzert unter Justin Doyle sein 70jähriges Jubiläum zelebriert hatte. Sie hatten vielmehr einen von Tod, Krieg und Frieden wechselvollen Konzertabend erlebt, der mit Roderick Williams‘ für diesen Chor komponierten Stück World Without End – Von Ewigkeit zu Ewigkeit in ihnen bisweilen aufwühlend nachklang. Das Auftragswerk erinnert in einer Mehrstimmigkeit von deutschen Texten in Kombination mit einem Englischen an das Ende des Ersten Weltkriegs mit dem Waffenstillstandsabkommen von Compiègn am 11. November 1918.

 

Die Uraufführung von World Without End bildete den Abschluss und Höhepunkt zur Feier des Chorjubiläums. Eröffnet wurde das Konzert mit Johann Sebastian Bachs Motette Jesu, meine Freude, die als Trauermusik verschiedenste Stimmungen des Trotzes und der christlichen Freude im Kontext eines Todesfalls intoniert. Die Ensemblekunst des Kammerchors wurde damit von Justin Doyle zum Funkeln gebracht, um mit Arnold Schönbergs frühem Chorwerk, Opus 13, Friede auf Erden noch 1907 einem kämpferischen Pazifismus eine kräftige Stimme zu geben. Es kam 1914 anders. Doch der einzigartige RIAS Kammerchor konnte auf diese Weise sein breites Spektrum der Sangeskunst zum Strahlen bringen.

 

Das Ensemblesingen als Königsdisziplin des Chorsingens kam so auf die schönste Weise zur Geltung, obgleich es eine eher begrenzte Fangemeinde hat. Was unterscheidet das Chor- vom Ensemblesingen? Vielleicht kann man das Ensemblesingen als eine Chorkunst des Hörens und der Polyphonie formulieren. Während der Chor beispielsweise in großen Sinfonien oder gar in der Oper ein Klangvolumen ausbildet, geht es im Ensemblesingen um eine vielstimmige Abstimmung, die bereits mit Johann Sebastian Bachs kunstvoller, facettenreicher Motette Jesu, meine Freude zur Geltung kommt. Für welchen Anlass und welchen Chor Bach hier genau komponiert hat, entzieht sich dem Wissen der Bach-Forschung. Konnte die Motette in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts überhaupt ein Chor in Weimar oder Leipzig singen? Kaum mit der Kunstfertigkeit, mit der es der RIAS Kammerchor vermag.

 

Das Ensemblesingen, wie es Justin Doyle mit dem RIAS Kammerchor praktiziert, wird zu einer sinnlichen Durchdringung der Komposition. Es wird nicht nur jede Nuance der Partitur intoniert, vielmehr werden die unterschiedlichen Stimmungen mit der Stimme durchdacht. Johann Sebastian Bachs durchaus schematische Kompositionsweise von Choral, Spruchmotette, Choral, Terzett, freier Choral, Fuge, Choral, Terzett, freier Choral Spruchmotette, Choral bekommt nicht zuletzt mit dem freien Choral Trotz dem alten Drachen eine geradezu dramatische Anlage. Der RIAS Kammerchor spart mit der betonten Aufforderungen, dem alten Drachen Tod und der Furcht zu trotzen, nicht. Das Trotzen wird mit Nachdruck und Pause eingefordert. Der Text erhält seine sinnliche Struktur durch die gesangliche Artikulation.  

Trotz dem alten Drachen, 

trotz des Todes Rachen, 

trotz der Furcht darzu![1]   


Titelkupfer mit himmlischem Orchester aus Engeln und dem irdischen in Johann Franckens Teutsche Gedichte .. (1674) 

Johann Sebastian Bach kombiniert und komponiert zwei Textquellen zu einem sinnlichen Erlebnis der Überwindung des Todes durch den Geist, in dem er den Römerbrief 8,9 zur Fuge der Motette auskomponiert. „Ihr aber seid nicht fleischlich,/sondern geistlich,/so anders Gottes Geist in euch wohnet./Wer aber Christi Geist nicht hat,/der ist nicht sein.“ Römer 8,9 wird zur zentralen Aussage oder als Motto des Liedes ausgebaut. Hatte der Jurist, geistliche und weltliche Dichter und Singspiel-Librettist Johann Franck 1674 in seinem 6 bändigen Werk der Teutschen Gedichte Bestehend im Geistlichen Zion oder neuen geistl. Liedern/un Psalmen/ nebst beygefügten/ theils bekandten/theils lieblichen neuen Melodeyen/sampt der Vater-unsers-HarfeJesu, meine Freude in der Abteilung „Bitt-, Lob- und Dank-Lieder“ veröffentlicht,[2] so kombiniert Bach 50 bis 60 Jahre später das Lied deutend und transformierend mit den Römerbriefen.  

Bach komponiert insofern nicht nur das Lied zur Motette, vielmehr nimmt er auch eine sprachliche Transformation des „Dank-Liedes“ zur Trauermotette vor. In seiner Widmung an den protestantischen Herzog Christian I. von Sachsen-Merseburg formuliert Franck die Poesie am 21. April 1674 entsprechend den Regeln seiner Zeit als „eine Säugamme der Frömmigkeit; Eine Heroldin der Unsterblichkeit; Eine Mehrerin der Fröligkeit; Eine Verstörerin der Traurigkeit; ein Vorschmack himmlischer Herrligkeit“.[3] Poesie und Chorgesang kulminieren bei Bach nun in den „himmlische(n)“ Koloraturen der Fuge mit dem Text des Römerbriefes. Die Poesie steht ganz im Dienste des christlichen Versprechens auf das Geistliche – „Ihr aber seid nicht fleischlich,/sondern geistlich,“ – als Leben nach dem Tod durch die zeugenhafte Auferstehung Christi. Der RIAS Kammerchor sang die Motette a capella, also durchaus ohne Begleitung, was in Aufführungspraxis umstritten ist, doch nun zur sinnlichen Klarheit beitrug.

Die Aufstellung des Chores und damit die Anordnung der Stimmgruppen wurde während des Konzerts von Justin Doyle mehrfach geändert. Der Chorklang wurde so auch für Arnold Schönbergs Friede auf Erden modifiziert. Schönberg wählte 1907 dieses Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer von 1886, das bereits eine eigene Wirkungsgeschichte entwickelt hatte. Denn 1901 überließ der Dichter der österreichischen Schriftstellerin, Frauen- und Friedensaktivistin Bertha von Suttner das Gedicht für deren Zeitschrift Die Waffen nieder, laut Therese Muxeneder.[4] Jedenfalls kursierte auf diese Weise das zuerst in der Berliner Zeitschrift Schorers Familienblatt als Weihnachtsgedicht abgedruckte Werk in der Friedensbewegung Bertha von Suttners in Wien. 1901 war Bertha von Suttner bereits für den Friedensnobelpreis vorgesehen. Doch erst 1905 erhielt sie ihn, womit das ursprüngliche Weihnachtsgedicht 1907 bereits eine beachtliche Karriere zum pazifistischen Friedensgedicht gemacht hatte.

Das Gedicht in vier Strophen endet in dreien mit der durch Wiederholung verstärkten Weihnachtsbotschaft „Friede, Friede, auf der Erde!“.[5] Durch die Interpunktion wird die christliche Botschaft mit dem Ausrufezeichen als Forderung markiert. Die Weihnachtsbotschaft wird angesichts von Kriegen im 19. Jahrhundert von Conrad Ferdinand Meyer bereits in Zweifel gezogen: „In wie mancher heil’gen Nacht/Sang der Chor der Geister zagend,/Dringlich flehend, leis verklagend: „Friede, Friede, auf der Erde!“. Anstelle des freudigen Versprechens wird ein Zweifel an der Weihnachtsbotschaft formuliert, was das Gedicht und seine Poesie beispielhaft von Johann Franck unterscheidet. Die christliche Botschaft wird nun von Meyer in ein Gerechtigkeitsversprechen transformiert. Der Mensch und die Menschheit haben ein Recht, einen Anspruch auf Frieden als Gerechtigkeit. 

Etwas wie Gerechtigkeit 

Webt und wirkt in Mord und Grauen 

Und ein Reich will sich erbauen, 

Das den Frieden sucht der Erde.       

Die komplexe Transformation des christlichen Glaubens in einen Rechtsanspruch der Menschen wird bereits von Meyer ausgearbeitet und mündet in einen Hymnus auf das Recht auf Frieden. In gewisser Weise wird so ein komplexer Argumentationsprozess vorgeführt. Wir wissen nicht, wie genau Arnold Schönberg um 1907 auf den Gedanken kam, diesen komplexen und durchaus dramatischen Prozess im Gedicht musikalisch für eine Chorkomposition aufzugreifen. Schönberg hat sich dahingehend kaum festgelegt.[6] Doch in der Komposition sparte er nicht mit Herausforderungen an das Genre Chormusik, so dass der RIAS Kammerchor mit diesem Stück wiederum seine ganze Kunst zeigen konnte. Ist Friede auf Erden eine andere Ode an die Freude, weil das idealistische Versprechen „alle Menschen werden Brüder“ sich widerlegt hatte? 

Mählich wird es sich gestalten, 

Seines heil’gen Amtes walten, 

Waffen schmieden ohne Fährde, 

Flammenschwerter für das Recht, 

Und ein königlich Geschlecht 

Wird erblühn mit starken Söhnen, 

Dessen helle Tuben dröhnen: 

Friede, Friede, auf der Erde!

Die Semantik und Lexik der Schlussstrophe von Friede auf Erden winken hinüber zu Schillers und Beethovens Ode an die Freude. Und Schönberg komponierte sein ca. achtminütiges Chorstück mit Musikmaterial, das Meyers prophetische Umdichtung der Weihnachtsbotschaft auf „ein königlich Geschlecht“ ernst nahm. „Der Einsatz von Konsonanz und Dissonanz, die Differenzierung von homophonem und polyphonem Satz entspricht einer allegorischen Sicht auf den idealen Frieden/realen Unfrieden, welche von der metaphysischen Grundvorstellung ausgeht, der Friede sei Gotteswerk. Der Kontrast von Himmel und Erde wird durch eine gelegentlich kirchentonal eingefärbte Dur-Moll-Polarität sakral gedeutet“, schreibt Therese Muxeneder.[7] Die Kirchentonalität wird gerade nicht für die Kirche, sondern für den Konzertsaal und das neue „Geschlecht“ des Friedensmenschen eingesetzt, den sie ankündigt. Es wird weniger eine Glaubensfrage, als eine Kompositionsaufgabe für Arnold Schönberg gewesen sein.

Roderick Williams hat mit seiner Chorkantate zugleich das Genre des Requiems erweitert. Ein vielstimmiges Requiem, das mit dem Atemhauch des Lebens im Akkordeon (Margit Kern) einsetzt. Bevor die ersten ebenso poetischen wie kryptischen Worte vom Chor intoniert werden, atmet das Akkordeon, womit das Atmen des Menschen auch trickreich in das Instrument verlagert ist. Dann setzt Schrei von August Stramm ein. Schrei bricht vielmehr los, weil das Gedicht schon zu Beginn des 1. Weltkrieges, die sinnentleerende Brutalität des Krieges sprachlich auswirft. August Stramm wird bereits am 1. September 1915 an der sogenannten Ostfront bei Horodec im heutigen Weißrussland getötet. Allerdings gehörte der promovierte Postbeamte Stramm ähnlich wie Paul Scheerbart in Berlin zur Avantgarde der Dichter um 1914.[8] 

Tage sagen 

Welten gräbern 

Nächte ragen 

Blute bäumen 

Wehe raumen alle Räume 

Würgen 

Schwingen 

Und 

Zerschwingen …

Die sprachliche Verarbeitung des Krieges wird in einer zersplitterten Syntax angeschrieben. Die eigenen Gesetze der verstümmelter Reime – „sagen, … ragen“, „gräbern, … bäumen“ – und der zu Verben transformierten Substantiven – „gräbern“, „bäumen“, „raumen“ – generieren eine Orientierungslosigkeit, die im finalen „Nichtall“ mündet. Nietzsches Nihilismus klingt im „Nichtall“ nach. Roderick Williams ist mit der musikalischen Transformation des Gedichts vorsichtig. In der Kombination von gemischtem Chor und Instrumentalensemble, dem Sheridan Ensemble, in dem der wunderbare Adam Weisman als Schlagzeuger Akzente setzt, lässt Williams die verstörende Poesie von Schrei wirken. Die Wechselwirkung von Nietzsches Kulturkritik, die beispielsweise mit Also sprach Zarathustra, Erster Teil 1883, selbst schon für Conrad Ferdinand Meyers „königlich Geschlecht“ auf andere Weise nachklingen könnte, und Kriegserlebnis in „Nichtall“ lässt sich bei August Stramm kaum bestimmen. Es geht nicht nur um Darstellung des Krieges, wie Historiker es vielleicht gern lesen würden.

Williams komponiert und montiert nun Auszüge aus erst postum veröffentlichten Texten von Helen Thomas als Prosa kontrastiv mit den Gedichten in deutscher Sprache. Das ist für eine Chorkantate ungewöhnlich genug und gibt dennoch einen Wink hinüber zu Johann Sebastian Bachs Kompositionsverfahren in „Jesu, meine Freude“. Auch dort wurde Poesie mit der Prosa der Römerbriefe kombiniert. Doch Williams Montage unterscheidet sich mit der Auswahl der Texte von Helen Thomas. Denn statt deren Ehemann und Kriegsdichter[9] Edward Thomas zieht er die verstörende Erzählung der Trennung durch den Krieg vor, die literarisch fast mit einer häuslichen Idylle einsetzt. Die Ehefrau und Mutter schreibt hier die Geschichte vom Abschied des Kriegsdichters.

Christmas had come and gone. The snow still lay deep under the forest trees, which tortured by the merciless wind moaned and swayed as if in exhausted agony. The sky, day after day, was grey with snow that fell often enough to keep the surface white, and to cover again and again the bits of twigs, and sometimes large branches that boke from the heavily laden trees…[10]     

Auf durchaus literarische Weise schreibt Helen Thomas in dem 1973 nach ihrem Tod veröffentlichten Text World Without End bildstark vom Eis- und Schneewinter 1916 im südwestlichen Londoner Vorort Clapham, wo Edward und Helen Thomas mit ihren Kindern lebten. Während die Shelgate Road 61 nicht gerade eine ländliche Szenerie umgibt, widmet sie sich ganz den Wettereffekten auf „the forest trees“. Sie werden gar vom gnadenlosen Wind gefoltert („tortured“). Die Wetterschilderung korrespondiert mit dem Zeitgeschehen des Krieges, in den Edward Thomas als Vater und Ehemann nicht hätte ziehen müssen. Doch die poetische Kriegsbegeisterung verlangt nach ihrer Realisierung. So beginnt der 1917 erschienene Band Poems, der seinem Freund Robert Frost gewidmet ist, mit dem Gedicht The Trumpet, das zur Teilnahme am Krieg in einer durchaus geschlechtlich-erotischen Metaphorik aufruft. Robert Frost forderte ihn 1915 zur Kriegsteilnahme auf und Thomas trat in das Artists Rifles-Regiment ein. 

Open your eyes to the air 

That has washed the eyes of the stars 

Through all the dewy night: 

Up with the light, 

To the old wars; 

Arise, arise![11]

 

Williams‘ Komposition und Montage der selbst in ihrer Kürze komplexen und mehrdeutigen Texte nimmt also eine Verschiebung der Geschichte vom Krieg und Ersten Weltkrieg vor, indem der Titel von Helen Thomas‘ Text zum geradezu programmatischen Titel der Chorkantate wird. Überhaupt komponiert Williams eher deutsche Gegenstimmen wie Edlef Köppens Einen Tag lang nicht töten, Ludwig Rellstab und Georg Trakl, aber auch das eher fürsprecherische Soldatenmädchen von Gertrud Kolmar von 1917 mit World Without End. Gertrud Kolmar veröffentlichte in ihrem ersten Gedichtband 1917 neben Kindergedichten gleich mehrere wie Marschlied, Schellenbaum und Soldatenmädchen mit einem zustimmenden Tonfall für den Krieg. Die Frau formuliert sich in diesen Gedichten im Dienst des Soldaten, um dadurch eine gewisse Freiheit zu genießen. So soll die Hochzeit unter der Standarte der Militärmusik, dem Schellenbaum, stattfinden und im Marschlied wird „der Becher“ der roten Lippen „nicht leer“.[12] Doch weil Gertrud Käthe Chodziesner Jüdin und eine Cousine von Walter Benjamin war, wurde sie im März 1943 in Auschwitz ermordet. Auch in Andrea Frahms Gedicht Zu Hause von 1915 empfindet das poetische, weibliche Ich eine „schreckliche Scham“, während die Soldaten kämpfen.[13]

Während die längeren Textpassagen von World Without End in einer Art Parlando komponiert und gesungen werden, setzt Williams für die Gedichte stärkere musikalische Akzente mit den Stimmen. Die musikalische Gestaltung mit Ensemble und Chor variiert dabei stark bis hin zu Tangoklängen für Soldatenmädchen und Zu Hause. Williams urteilt damit nicht über die schwierige Kriegsbegeisterung der Frauen, sondern wählt einen melancholischen Tonfall mit einer erotischen Sehnsucht. Man könnte sagen, dass er sich eher für die amibvalenten Stimmungen und Stimmen als für die politische Dimension der Texte interessiert. Als erfolgreicher Bariton-Solist versteht es Williams äußerst geschickt, die Stimmen und für sie zu komponieren. Textverständlichkeit und Stimmungen korrespondieren ausgezeichnet. Im leider nicht ausverkauften Kammermusiksaal wurde die Uraufführung so sehr gefeiert, dass Justin Doyle und Roderick Williams sich entschlossen, als Zugabe eine Schubert-Bearbeitung von Williams, bei der er im Chor mitsang, zu geben.

Torsten Flüh

RIAS Kammerchor
1918 - 1948 - 2018
Bach, Schönberg und Williams
gehe zur Mediathek des Deutschlandfunk Kultur mit dem Konzert vom 18. Oktober 2018, 20:03 Uhr

_______________________ 


[1] Johann Sebastian Bach: Jesu, meine Freude. In: RIAS Kammerchor Berlin (Hg.): Bach, Schönberg und Williams 1918 – 1948 – 2018. Berlin 2018, S. 12.

[2] Johann Franck: Teutsche Gedichte Bestehend im Geistlichen Zion oder neuen geistl. Liedern/un Psalmen/ nebst beygefügten/ theils bekandten/theils lieblichen neuen Melodeyen/sampt der Vater-unsers-Harffe/Wie auch Irrdischen Helicon/Oder Lob-Lieb- und Leid-Gedichte und dessen verneuere Susanna/Sampt hinzugethanen/denen Liebhabern der deutschen Poesie dienlichen Erklärungen der Redens-Arten/ und Historien/ auch hierzu nötigen Registern. Guben: Christoph Gruber, 1674, S. 191-192. (Digitalisat)

[3] Ebenda S. 4.

[4] Therese Muxeneder: FRIEDE AUF ERDEN FÜR GEMISCHTEN CHOR A CAPPELLA OP. 13 (1907/11). In: Arnold Schönberg Center (27. Juni 2018).

[5] Siehe: Arnold Schönberg: Friede auf Erden op. 13. (Schönberg Center)

[6] Vgl. ebenda.

[7] Therese Muxeneder: FRIEDE … [wie Anm. 4].

[8] Siehe zum ebenfalls 1915 allerdings in Berlin verstorbenen Dichter Paul Scheerbart: Torsten Flüh: Ein phantastisches Konzerttheater. Zur Uraufführung von Ruedi Häusermanns Gang zum Patentamt im HAU1. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. September 2010 17:41.

[9] Vgl. auch Edward Thomas als „war poet“ auf Wikipedia.  

[10] Zitiert nach: Roderick Williams: World Without End – Von Ewigkeit zu Ewigkeit. In: RIAS Kammerchor Berlin (Hg.): Bach … [wie Anm. 1] S. 14. 

[11] Edward Thomas: Poems. London: Selwyn& Blount, 1917, S. 9. (Digitalisat)

[12] Gertrud Kolmar: Gedichte. Berlin: Egon Fleischel, 1917. (Digitalisat)

[13] Andrea Frahm: Zu Hause. In: RIAS Kammerchor Berlin (Hg.): Bach … [wie Anm. 1] S. 20-21. 

Geheimnisvolle Schauplätze der Literatur - Zum 100. Todestag von Max Dauthendey und der Buchpremiere Brechts Berlin von Michael Bienert

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Weltreisen – Literatur – Flaneur

 

Geheimnisvolle Schauplätze der Literatur 

Zum 100. Todestag von Max Dauthendey und der Buchpremiere Brechts Berlin von Michael Bienert 

 

Von den Zwillingsbrüdern Friedrich und Karl Kröhnke, beide promovierte Literaturkenner und Bibliophile, focht der eine, Fritz, am Dienstagabend auf einer Podiumsdiskussion im Haus für Poesie um Max Dauthendey, und am Mittwochabend der andere im Literaturforum im Brecht-Haus für den Autor und literarischen Berlin-Führer Michael Bienert, dessen Buch Brechts Berlin Literarische Schauplätze an der Chausseestraße in Mitte vorgestellt wurde. Seit Friedrichs wunderbarem Geheimnisbuch (2009) wissen interessierte Leser*innen, wie die Zwillinge „Abel und Sascha“ schon seit frühester Jugend „eine Welt voller Bücher“ kursieren ließen. Jugend forscht war noch kein von Henry Nannen gestiftetes Förderprogramm in Naturwissenschaft und Technik, als es die Zwillinge schon früh zu Bibliologen gebracht hatten.  

 

Wie ist Max Dauthendey als Reiseschriftsteller und als Lyriker zu bewerten? Passt seine Literatur überhaupt in Kategorien, nach denen sich ein – neudeutsch – Ranking erstellen ließe? Am 29. August jährte sich zum einhundertsten Mal der Todestag des Würzburger Autors, der in Malang auf Java verstarb. Hans Christoph Buch, Hannes Schwenger, Charlotte Warsen und Friedrich Kröhnke unternahmen am Mittwoch eine Art Gegenwartsproof. Michael Bienerts Buch zu Brecht in Berlin ist nicht nur für Berlinreisende, vielmehr für Brecht-Leser*innen mit einem Interesse an „Literarische(n) Schauplätze(n)“ konzipiert. Wie kommt Berlin in Brechts Literatur vor? Bienerts opulent mit Fotos und Serviceteil ausgestattetes Buch ist eine Spurensuche.

 

2009 feierte Friedrich Kröhnke mit Ein Geheimnisbuch das Medium Buch, als es bereits nicht nur Blogs und EBooks gab, sondern eine gewisse Buchkultur im Verschwinden begriffen war. Abel und Sascha entwickeln in der Erzählung von den Büchern eine eigene Kultur der Buchordnungen. Es geht nicht allein um eine Sammelleidenschaft, vielmehr entfalten die Zwillinge ein eigenes ästhetisches Wissensgebiet von den Büchern. Es geht um das Haptische und das Visuelle der Bücher und noch viel mehr. Die Bücher und Editionen werden selbst zum literarischen Schauplatz von Farbenspielen und Einbänden. 

Jeder Band hat eine eigene Farbe, aber keiner ein Titelbild, statt dessen auf jedem nur der Name der Autors und des Buchs. Sie lieben das. Sie lieben am meisten, daß es diese Art papiernen Schutzumschlags in eben der jeweiligen Farbe gibt, aber unter dem Umschlag verborgen exakt dieselbe Beschriftung auf einem weißen, überaus schmalen und kleinen Taschenbuch. Beieinander in den Bananenkartons bilden die Bücher den Regenbogen. So lernen sie beide, statt in der Schule zu sitzen, die Schönheit kennen.[1]

 

Den Regenbogen in den Bananenkartons gab und gibt es wirklich. Die edition suhrkamp in den Umschlagentwürfen von Willy Fleckhaus. Bücher und ein Editionsprogramm werden zu einem Regenbogen in tendenziell endlos vielen Farbabstufungen.[2] Die „Schönheit“, sagen wir ruhig, der Welt des Wissens wird von Friedrich Kröhnke erinnernd mit den Büchern formuliert. Das kann man eine belletristische Literatur in einer Wahrnehmung der Welt durch Bücher nennen. Friedrich und Karl bemerkten auch auf den Podien der Buchvorstellungen und Literaturerörterungen am Dienstag und Mittwoch wiederholt die Schönheit der Bücher. Das ist etwas Anderes als – wie man sagt – ihr Inhalt. Der Regenbogen von Willy Fleckhaus stellt auch eine Vielfalt her, in der zwar Max Dautendey nicht, wohl aber Hans Christoph Buchs Dauthendey-Exotismus-Studie Die Nähe und die Ferne 1991 in einem mittelhellen Türkiston als Nummer 1663 erschienen war. Vorher aber: 

Jugendbücher. Dies ist die Abenteuerreihe: Der Berg der Abenteuer. Das Tal der Abenteuer. Der Fluß der Abenteuer. Die Insel, die Burg, die See, der Zirkus der Abenteuer. Es gibt Abenteuerbücher. Es gibt Geheimnisbücher. Fünffreundebücher. Rätsel um. Geheimnis um. Fünf Freunde in, bei, und.[3]

 

So oder so ähnlich kam Friedrich auch auf Max Dathendey vor Buch. Vielleicht kam er durch das rororo Taschenbuch 44 mit Leinenrücken Die acht Gesichter am Biwasee – Japanische Liebesgeschichten (1911) als Reprint von 1951 auf ihn. In den 50er Jahren erfreute er sich als Reiseschriftsteller einer Auferstehung im Taschenbuchformat. Vor 1918 bibliophile Privatdrucke und dann nach 1945 die Wiederkehr als Taschenbuch mit vielversprechenden farbigen Titelbildern und beispielsweise japanisch anmutender Typographie. Sascha und Abel wäre zuzutrauen, unter der Bettdecke in jungen Jahren Dauthendey entdeckt zu haben. Lesen als Abenteuer aus der Reihe. 

Wörter, die für eine weite Welt stehen. Es hat sich nichts geändert. Er hat sie alle: die alten rororo-Bände, die den Deutschen ums Jahr 1960 in so verwunderlicher Zahl nach Cochinchina führen wollten, die von niemandem mehr gelesenen Bücher von Pearl S. Buck und Jean Hougroun und Richard Mason und Frederic Prokosch.[4]

 

Hans Christoph Buch hat seinen edition-suhrkamp-Band, die Frankfurter Poetikvorlesung vom Sommersemester 1990 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität am Dienstagabend dabei, um daraus zu zitieren.[5] Der Reiseschriftsteller und Lyriker Buch hatte bei Walter Höllerer am Institut für Literatur der Technischen Universität Berlin promoviert. Eine legendäre Zeit an der Schnittstelle von literarischer Produktion und Wissenschaft. Am Dienstagabend sucht Buch Dauthendey in den Epochenbegriffen von Realismus, Impressionismus, Symbolismus, Exotismus und, ja, doch auch Expressionismus zu verorten. Funktionieren die literaturbewegten Ismen um 1900 noch oder stellen sie nicht vielmehr die literaturhistorische Ordnung der Epochen in Frage. Man könnte fast sagen, dass um die Jahrhundertwende monatlich, wenigstens aber jährlich ein neuer Ismus formuliert wurde, um eine Griffigkeit von literarischer Produktion zu versprechen. 

Am deutlichsten greifbar werden diese Zeittendenzen im Werk von Max Dauthendey, das, ähnlich wie die Frühschriften Kafkas, am Kreuzungspunkt von Neuromantik und Moderne, Impressionismus und Expressionismus, Symbolismus und Jugendstil angesiedelt ist.[6]

 

H. C. Buch erklärte die Schreibweise und die Themen bzw. die „exotische(n) Novellen“ Max Dauthendeys gar zum epochenlogischen Vorbild von „Döblin über Klabund bis zu Brecht und Kafka“.[7] Große Geste. Im Haus für Poesie hielt Buch am Exotismus, der bei einer „Entstofflichung des Bildes mit seiner Erotisierung, ja Sexualisierung Hand in Hand geht,“ fest.[8] Buch zitiert mehrfach seinen Vater, einen Diplomaten, um naturalistische Sprachbilder als ganz reale Erfahrungen in fernen Ländern zu bestätigen. Nichts Absonderliches in der „Dornenkrone der Sonne“, sondern Formulierungskunst der permanenten Sonneneinstrahlung in südlichen Breiten.  – Wie funktioniert das mit dem Exotismus und dem Lyrikband Schwarze Sonne/Phallus (1897/1910)? Phallus als episches Langgedicht lädt die Sexualität quasi kosmologisch auf, ohne es an pornographischer Eindeutigkeit fehlen zu lassen.[9] Exotismus ist eine durchaus schwierige Kategorie, auf die auch die anderen Podiumsteilnehmer und die Lyrikerin Charlotte Warsen nicht so recht anspringen wollen.

 

In den 1890er Jahren wird Sexualität für einen zunächst eher exklusiven Kreis in der Prosaliteratur, Lyrik, Wissenschaftsliteratur und Malerei auf eine neuartige Weise darstell- und sagbar. Ringt Dauthendey doch keinesfalls um eine „Entstofflichung“, sondern mit Phallus um eine handfeste Materialisierung, die ins Kosmologische gewendet wird. Zweideutig allerding bleibt das Geschlecht des „Mannweibs“. Ein Weib oder ein Mann? Beides? Woher diese geschlechtliche Verrätselung eines grammatischen Femininum? 

Er küßt ihr die Wangen, küßt ihr die Brüste, 

Küßt ihr die Brüste, küßt ihr die Wangen. 

Die Reben brennen, die Steine zerschmelzen, 

Riese und Mannweib biegen den Berg. 

Nachtwolken stehen tagfeurig und leuchten, 

Riese und Mannweib biegen den Erdball.[10]

 

Ja, doch, Max Dauthendey vermag zu faszinieren. Indessen schrammt er in seiner Literatur haarscharf an Sexismen und Rassismen vorbei. Wie der andere fast zeitgleiche Reiseschriftsteller Karl May verknüpft sich bei ihm die Kritik am Kolonialismus und der Suprematie der Europäer mit der Faszination der neuen touristischen Reisemöglichkeiten durch den Kolonialismus. Denn die neuartigen Schiffsrouten und Linienschiffe sind nur deshalb in Betrieb, weil sie zugleich die Warenströme für den Kolonialhandel und die Kolonialwaren-Läden in den deutschen Städten sichern. Kolonialwaren! Welch ein Versprechen von Welt in einem Krämerladen an der Ecke! Die Linienschiffe fuhren bis nach Yokohama, wo es 1908 deutsche Zeitungen gibt. Täglich berichten sie vom Besuch Robert Kochs in Japan und haben ihre Muttergesellschaft im Zeitungsviertel von Berlin, weshalb die Deutsche Japan-Post von Dr. A. Gramatzky aus Yokohama heute im Zeitungsarchiv im Westhafen-Speicher zu lesen ist.   

 

Friedrich Kröhnke, und dass hat er auch in seinem Buch Wie Dauthendey starb2017 erzählerisch ausgearbeitet, sieht den Reiseschriftsteller, Briefschreiber und Lyriker zwiespältig.[11] Hannes Schwenger fragt in die Runde und vor allem Charlotte Warsen, ob seine Schreibweise für junge Lyriker heute anregend sein könne. Eine Stilfigur, die sich überpointiert als Bedeutung generierend benennen lässt, wäre die Inversion. Kröhnke nennt es in seinem Buch „dieses unbeholfene Verkehrtherumstellen von Subjekt und Prädikat“.[12] Michael Mayer hat 2010 darauf hingewiesen, dass Dauthendey „bisher nur wenig Rezeption (in der Germanistik) erfahren“ habe.[13] Statt Exotismus sieht er in Dauthendeys Mexiko-Roman Raubmenschen (1911) vielmehr eine „Europamüdigkeit“[14] und einen „Eskapismus“[15] am Werk. 

Das Podium kann sich kaum auf ein literarisches Urteilüber Max Dauthendey einigen. Welthaltigkeit bei gleichzeitiger Überdrehung und Herumstellung. Ein seltsamer Materialismus, wie er mit dem Phosphor als Stoff zum Denken in den Kokosnüssen von Jacob Moleschott und Ludwig Feuerbach herüberwinkt.[16]„Das Gehirn kann ohne phosphorhaltiges Fett nicht bestehen.“ (Moleschott) Bei Dauthendey: Die Farben und Farbkomposita in Ultra-Violett (1893)! Schwerlich ließen sich die Farbtöne auf Reisen in Malang etc. wiederfinden. Sie mussten erst einmal geschrieben werden. „Licht ward zur Dornenkrone“ beschreibt eben nicht nur den Sonnenschein in südlichen Breiten. Das neuartige Wissen von der ultravioletten Strahlung, die dem menschlichen Auge unsichtbar bleibt, generiert sogleich in Amselsang ein neues, synergetisches Farb- und Tonspektrum. 

Fliehende Kühle von jungen Syringen, 

Dämmernde Grotten cyanenblau, 

Wasser in klingenden Bogen, 

Wogen, 

Auf phosphornen Schwingen, 

Sehnende Wogen. 

Purpurne Inseln in schlummernden Fernen. 

Silberne Zweige auf mondgrüner Au. 

Goldene Lianen auf zu den Sternen, 

Von zitternden Welten 

Sinkt Feuertau.

 

Karl Kröhnke kennt Michael Bienert seit den 80er Jahren, als dieser auf literarischen Spuren durch Berlin führte. Doch mit den Spuren Bertolt Brechts in Berlin ist es so eine Sache. „Frühe Wohnadressen (1920-1928) … 2) Zietenstraße 6 (zerstört) 3) Wohnung Arnolt Bronnens, Nürnberger Platz 3 (zerstört) 4) Spichernstraße 16 (zerstört, Gedenktafel am Neubau)“[17]. Zerstört, verschwunden, gelöscht. Aber natürlich das Brecht-Haus in der Chausseestraße 125. Und die Brecht-Weigel-Gedenkstätte im Hinterhaus, die jetzt Museum heißt. Hinterhäuser nennen sich in Berlin schon längst „Gartenhaus“. Da hängen noch die blauen Hemden von Brecht, verst. 14. August 1953, gut sichtbar im Schrank. Besuchbar: „Wohnraum und Denkfabrik“[18] sowieso. Das Blau überhaupt. Preußisch Blau, Berliner Blau?[19] Ein heller Ton Berliner Blau. Brecht Blau wie das Auto bestimmt. Die Brecht-Vignette von Michael Bienert auf dem Einband und überhaupt das Buch sind in Blautönen gehalten.  

Mit den „Literarische(n) Schauplätze(n)“ bemüht Michael Bienert kein Abbildungsverhältnis, obwohl der Band an Fotos, Postkarten, historischen Stadtplänen, Fahrkarten etc. reich ausgestattet ist. Karl Kröhnke lobt das Buch bei der Vorstellung besonders wegen seiner Ausstattung: dem festen Einband, „Hardcover mit Schutzumschlag, Fadenheftung, Format: 21,0 x 22,5 cm“. Kein Buch so einfach für die Jackett- und Jackentasche, wie es die besagten Taschenbücher sind. Das insel taschenbuch Mit Brecht durch Berlin: Ein literarischer Reiseführer 1998 von Bienert, war nicht so aufwendig gestaltet. Dies nun ein Buch, das sich nicht gleich in Lese- und Gebrauchsspuren auflöst. Das Buch legt quasi neue Spuren. Doch Bienert erinnert sogleich an Brechts Berliner Diktum „Verwisch die Spuren!“ aus dem Lesebuch für Städtebewohner (1926-1927). 

Was immer du sagst, sag es nicht zweimal 

Findest du deinen Gedanken bei einem andern: verleugne ihn. 

Wer seine Unterschrift nicht gegeben hat, wer kein Bild hinterließ 

Wie soll der zu fassen sein! 

Verwisch die Spuren!

 

Unterdessen hat Bertolt Brecht außergewöhnlich viele Spuren in Berlin hinterlassen, worauf Bienert im Literaturforum hinweist. Viele entstanden allerdings nachträglich. Also Spuren gar nicht von ihm selbst im Stadtbild, eher Materialisierungen Gesprächen, Erzählungen, Literaturen. Beispielsweise sitzt er seit Anfang 1988 überlebensgroß vor dem Berliner Ensemble auf dem Bertolt-Brecht-Platz.[20] Und natürlich sprechen viele heute noch vom Berliner Ensemble als dem „Brecht-Theater“. Das „Brecht-Theater“ hat sich nicht zuletzt seit Berlinfahrten für Schüler in den 70er Jahren ins mehr oder weniger kollektive Gedächtnis eingebrannt. Selbst dann, wenn man im Berliner Ensemble gar kein Brecht-Stück, sondern Die Physiker von Max Frisch zu sehen bekommen hatte. Brechts Berlin sind immer auch verschlungene Spuren. Oft lässt Bienert Brecht selbst sprechen: 

… Wenn Sie mich jetzt treffen würden, so würden Sie einen Mann vor sich sehen, dem Sie nicht ohne weiteres ein Trinkgeld anbieten würden. Aber damals war ich ein sehr kleiner Mann und an dem betreffenden Tag, wo ich am Untergrundbahnhof Kaiserhof einstieg, war nichts von meiner nachmaligen Großspurigkeit an mir zu bemerken. Man hatte mir eben irgendwo zu verstehen gegeben, daß man auf mein Vorhandensein in dieser Stadt keinen direkten Wert legte, man hatte es für unnötig befunden, mir noch ein weiteres Mittagessen bei Aschinger zu finanzieren, und als ich in der Untergrundbahn saß, war in meinem Kopf eine eigentümlich leere Stelle, die ich nicht mehr ausfüllen konnte.[21] 

 

Brecht verwandelte den U-Bahn-Plan von 1928 in Reiseliteratur. Wer Brechts Berlin durch Spaziergänge erkunden möchte, muss von vorneherein wissen, dass er selbst wohl kein guter Spaziergänger, gar Flaneur war. Auch in Meine längste Reise blitzen nur „Untergrundbahnhof Kaiserhof“, „Aschinger“, „Untergrundbahn“ etc. auf. Sie werden zum Schauplatz eines Ichs in der Großstadt. Als Brecht in der Chausseestraße 125 ab 1950 wohnte, ließ er sich möglicherweise aus gesundheitlichen Gründen die 15 bis 20 Gehminuten ins Berliner Ensemble mit dem Auto fahren. Doch selbst schon in den 20er Jahren wurde Brecht in Berlin zum passionierten Autofahrer, der die Geschwindigkeit genoss. Deshalb gibt es bei Bienert auch den Abschnitt „Autofahren“ vor dem „Sportpalast".[22] Dort zitiert er Elias Canetti: 

Der Kult des Amerikanischen hatte damals Wurzeln geschlagen, besonders bei den Künstlern der Linken. An Lichtreklamen und Autos tat es Berlin New York gleich. Für nichts verriet Brecht soviel Zärtlichkeit wie für sein Auto.[23]  

 

Brecht war kein Flaneur wie Walter Benjamin. Er beschreibt keine Orte oder Gebäude. Trotzdem oder gerade deshalb ist Michael Bienerts Schauplatz-Buch reich an Abbildungen und Fotografien. Es ist ein besonderes Brecht-Lesebuch geworden. Gerade die Fotos mit Bienerts Bildunterschriften wollen gelesen werden. Eine Fotopostkarte. Menschen gehen sichtbar schnellen Schrittes an einem „ASCHINGER“ vorbei.[24] Eine Stehbierhallen-Kette. Vielleicht ist diese Filiale eher ein Restaurant. Gardinenstangen auf halber Körperhöhe. Hinter den Gardinen Menschen an einfachen Tischen? Aschinger war wohl eher so etwas wie ein Schnellrestaurant. Auch die Stehbierhalle ist mehr für das schnelle und nicht das gemütliche Bier. Stehbierhallen gibt es kaum noch in Berlin. Sie verschwinden. Sie werden zu einer Arbeiterkultur gehört haben. Und dann gibt es bei Bienert „Brechts Berlin von A bis Z“: 

Atrium-Kino, Kaiserallee (heute Bundesallee) 178/179 und Berliner Straße 155 (zerstört)|Wilmersdorf Am 19. Februar 1931 wurde in dem Großkino die Verfilmung der Dreigroschenoper uraufgeführt, am 30. Mai 1932 fand hier die deutsche Erstaufführung des Films Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? statt àS. 32f.[25] 

 

Selbst wenn man den Literarischen Schauplatz gefunden hat, wird man schwerlich sagen können, dass die literarische Produktion von Bertolt Brecht in ihrer Zeit restlos verstanden wird. Dafür sollte man gar nicht erst die Orte aufsuchen. Es kann sich allerdings etwas anderes mit Michael Bienerts Brechts Berlin einstellen, das einem Erlebnis gleicht. Vielleicht eine Art Erfahrungswissen, wie es aus dem Titelbild, „Baustelle Stalinallee, Maurer bei der Arbeit, undatiertes Foto (ca. 1952)“, herausspringt. Der Himmel wolkenlos. Die Maurer tragen alle Mützen. Die Oberkörper frei. Die Sonne scheint. Die Mauer wird in mehreren Reihen mit Backsteinen gemauert. Wie aufwendig. Heute kommen die Fertigteile auf dem Sattelschlepper. Es ist ein geheimnisvolles Foto vom mehr oder weniger desaströsen Wohnungsbau auf der Stalinallee im großen klassizistischen Format. Sie heißt heute Karl-Marx-Allee. Brecht war in die Planung involviert, wie Hermann Henselmann berichtet: 

… Niedergeschlagenheit, die mich hintrieb eines abends zu Bert Brecht, mit dem mich eine sehr intensive Beziehung verband, und Brecht war es, nicht nur Brecht, es kamen noch die Argumente meiner Genossen hinzu, der mich davon überzeugte, dass das Bauen für Millionen Menschen ausgehen muss von den ästhetischen, den emotionalen, den geschmacklichen Vorstellungen dieser Millionen einfacher Menschen, und nicht, dass ich etwa ihnen eine Kultur beibringe.[26]

 

Man kann stundenlang und endlos in Michael Bienerts Brechts Berlin stöbern. Aus den Texten und Bildern springen immer wieder neue Blickwinkel als Erfahrungswissen heraus. Denn Bienert schreibt sozusagen das Berlin, wie es für Brecht existierte und wo er lebte nicht tot. Er hält sich mit Erklärungen und Deutungen eher zurück. Wie sehr Brechts Berlin auf eben Brechts Wahrnehmung fokussiert ist, wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass der Autor erstens das klassizistische Haus Chausseestraße 125 mit Perlstab und griechisch, lesbischen Blattwelle als Verzierung als Bürgerhaus falsch einschätzte. Es war ein europaweit bekannter Technologiestandort für den Berliner Eisenverzinker. Und zweitens nahm er offenbar gar nicht wahr, dass er mit der Chausseestraße an der Geburtsstätte der deutschen Industrie lebte. Natürlich hatte sich seit ca. 1900 die Straße längst von einer Industrie- zu einer Geschäfts- und Wohnstraße entwickelt. Doch bei August Borsig wurde auf dieser Straße 1848 als Flugblatt eine Art erster Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertrag ausgearbeitet.

Torsten Flüh 

Michael Bienert 

Brechts Berlin 

Literarische Schauplätze 

200 Seiten, 195 Abbildungen 

Hardcover mit Schutzumschlag, Fadenheftung, Format: 21,0 x 22,5 cm 

ISBN: 978-3-947215-27-0 

€ 25,00 (D) / € 25,70 (A)

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[1] Friedrich Kröhnke: Ein Geheimnisbuch. Zürich: Ammann, 2009, S. 7.

[2] Vgl. auch: Torsten Flüh: Hirn an der Wand scheibchenweise. Rainald Goetz liest loslabern im Edition Suhrkamp Laden. In: NIGHT OUT @ Berlin 17. Mai 2010 22:33.

[3] Friedrich Kröhnke: Ein … [wie Anm. 1] S. 26

[4] Ebenda S. 77.

[5] Hans Christoph Buch: Die Nähe und die Ferne. Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991.

[6] Ebenda S. 115.

[7] Ebenda S. 117.

[8] Ebenda S. 118.

[9] Max Dauthendey: Phallus. (Zeno)

[10] Ebenda.

[11] Siehe Torsten Flüh: Farbenfroh wuchernde Sehnsucht. Friedrich Kröhnke feiert den 150. Geburtstag von Max Dauthendey mit dem paradox-witzigen Text Wie Dauthendey starb. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. August 2017 13:07 .

[12] Friedrich Kröhnke: Wie Dauthendey starb. Graz: Droschl, 2017, S. 16.

[13] Michael Mayer: „Die Tropen gibt es nicht.“ Dekonstruktion des Exotismus. Bielefeld: Aisthesis, 2010, S. 179.

[14] Ebenda.

[15] Ebenda S. 180.

[16] Vgl. zum Phosphor: Torsten Flüh: Schönes Essen mit Kokosblütenstaub. Zu veganer Ernährung und dem Daluma-Laden im Weinbergsweg. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2015 18:38.

[17] Michael Bienert: Brechts Berlin. Literarische Schauplätze. Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg, 2018, S. 17.

[18] Siehe Literaturforum im Brecht-Haus, Geschichte, Wohnraum und Denkfabrik.

[19] Vgl. zu Preußisch Blau in der Kunst-Photographie auch: Torsten Flüh: Vom Verschwinden und Wiederkehren. Ute Lindners Ausstellung Pentimenti im Löwenpalais der Stiftung Starke. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. September 2012 22:11.

[20] Michael Bienert: Brechts … [wie Anm. 17] S. 157.

[21] Ebenda S. 9.

[22] Ebenda S. 35-37.

[23] Ebenda S. 36.

[24] Ebenda S. 11.

[25] Ebenda S. 180.

[26] Ebenda S. 135. 

Subversive Bilderzählschränke - Zu Kerstin Drechsels faszinierend queerer Ausstellung E-Werk in der Galerie Zwinger

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Schrank – Bauherren – Strom 

 

Subversive Bilderzählschränke 

Zu Kerstin Drechsels Installation E-Werk in der ZWINGER Galerie 

 

Am Samstag findet in der Mansteinstraße 5 die Finissage in der Galerie Zwinger von Werner Müller. Dann wird die Ausstellung E-Werk von Kerstin Drechsel wieder abgebaut. In einer neuen Werkgruppe knüpft sie an ein Objekt an, das derzeit fast an jeder Straßenecke in Berlin steht, ohne dass es bei den Passanten größere Aufmerksamkeit erregt. Es gibt unterschiedliche Bezeichnungen für diesen Gegenstand, der häufig mit Graffiti getagged bzw. beschmiert wird. Es geht um Territorien. Baustromschrank, Bauverteilerschrank oder Verteilerendschrank sind gängige Benennungen. Der Verteilerendschrank in Orange von Metall Meister Grimma heißt „Stuttgart“. „Solingen“ und „Salzgitter“ gibt es auch. Baustromschränke sind Männersache.

 

Vielleicht gibt es Architektinnen, die während ihres Studiums oder im Praktikum auch einmal auf dem Bau gearbeitet haben. Doch Bau ist erstens eine Männerdomäne und zweitens arbeiten auf Berlins Baustellen kaum noch deutsche Bauarbeiter. Bauarbeiter kommen aus Polen, vielleicht Afrika, oder osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten. Frauen sind so gut wie gar nicht darunter zu sehen. Auf dem Bau funktioniert eine nahezu uneingeschränkte Männerdominanz. Der Bauarbeiter ist ein Männlichkeitsmythos, obwohl es kaum noch um wirklich schwere Arbeit und Kraft geht. Die Bauteile werden fertig angeliefert und montiert. Kerstin Drechsel wird deshalb der Bauverteilerschrank im Stadtbild aufgefallen sein. Nun queert und feminisiert sie den Baustromschrank.

 

Kerstin Drechsel sprengt mit E-Werk die Männerdomäne der Bauverteilerschränke. Sie stehen wie die echten Schränke auf Klappfüßen, haben Sichtschlitze in der Tür oder auch nicht, und sind graffitiartig bemalt. „zuverlässig ... robust … variabel“ verspricht der Baustromverteiler Katalog für die sichere Energieversorgung auf der Baustelle. „Stabile klappbare Kranösen“ oder „Federarretierte Schlossfallen“, „Abklappbare verzinkte Transportgriffe“ sind Qualitätsmerkmale für Baustromverteiler. Sie sind genormt und zertifiziert nach Europäischer Industrienorm, die quasi die Deutsche Industrienorm, das berühmte DIN umsetzt. Klar, hier muss die Sicherheit im Schrankscharnier und der „Kranöse“ sichtbar werden – robust. Robustheit ist Männerwelt.

 

Baumaschinenführer bildeten 2010 zusammen mit Baggerführerinnen das Schlusslicht mit 0,2 % der von Frauen ausgeübten Berufe laut Wikipedia. Bautechnikerinnen waren mit 9,6% ebenfalls ziemlich weit hinten. Bauhilfsarbeiterinnen und Bauhelferinnen bringen es auch nur auf eine Frauenanteil von 2,0%. Möglicherweise ist es für Frauen in Deutschland nicht völlig unmöglich, auf dem Bau tätig zu sein, aber der Anteil ist verschwindend gering. In dieses Geschlechterszenario brechen Kerstin Drechsels E-Werke ein, die mit dicken „Kabeln“ mehr oder weniger verbunden sind. Die vermeintlichen Starkstromkabel – Männer können umgangssprachlich unter Starkstrom stehen – sind statt mit schwarzem Gummi ummantelt bei ihr mit hellem Stoff bezogen. Vielleicht wirken sie dadurch noch geheimnisvoll phallischer als das Normkabel.

 

Strom, elektrischer Strom ist auch so ein Männlichkeitsmythos. Schließlich waren es ausschließlich Männer um Emil Rathenau, die 1883 auf einem Hinterhof an der Chausseestraße in Berlin die Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektricität als Aktiengesellschaft gründeten. Heute gibt es noch AEG-Haushaltsgeräte, die aber nicht mehr von AEG produziert werden. Elektroinstallateure und Elektromonteure haben ebenfalls nur einen Frauenanteil von 2,7%. Kerstin Drechsel hat sich die Baustromverteiler genau angesehen. Intuitiv hat sie mit den Kabeln und Scharnieren die Konstruktion der sonderbaren Schränke erkundet und geschlechtskünstlerisch transformiert.

 

In der Welt der Baustromverteilerschränke sind Verortungen und Normierungen das A und O. Hier darf nichts wackeln oder unbestimmt bleiben. Zuverlässigkeit und exakte Bestimmung sind quasi gesetzlich vorgesehen. Man könnte fast sagen, dass der Baustromverteiler binäre Technik verkörpert. Er ist ein normierter Wissensbereich. Man könnte Drechsels skulpturale Gemälde einfach nur hübsch oder durch die Ähnlichkeit witzig finden. Doch die Dimension der Subversion tritt erst hervor, wenn man sich fragt, was ein Baustromschrank verkörpert.

 

In der Regel stört man sich nicht daran, dass der Begriff des Bauherren eine Geschlechtsbestimmung ist. Baudamen gibt es nicht. Sie werden als Wortfehler sogleich von Word markiert. Die Titel aus E-Werk sind minimalistisch mit E_1 bis E_6 durchnummeriert. Normiert sind sie nicht. Die Baustromverteiler werden materiell und visuell zu Bilderzählschränken umgewandelt. Nein, hier werden keine Bilder gezählt. Die Schränke sind vielmehr mit Bildern, die erzählen, unschätzbar angereichert. Drechsel verarbeitet ein „visuelles Wissen“, wie sich mit Georges Didi-Huberman sagen ließe.[1] Die Bilder oszillieren zwischen Geschlechtern und feministischen Bildwelten.

 

Obwohl Drechsel ihre Baustromverteiler in Energie-, Erzähl- wie Wissensschränke verwandelt und feministisches Bild- und Textmaterial mehr collagiert als erfindet, malt sie praktisch mit Eitempera, Acryl und Aquarell. Sie verwendet Kunststoffgips und Mixed Media, um Oberflächen reißen zu lassen. Doch sie baut die Schränke auch mit Holz und vor allem Scharnieren. Sie wird zur Baufrau. Doch gerade aus dieser Praxis heraus, entstehen Textbilder, die an den Bilderatlas von Aby Warburg erinnern. Das Auf-, Um- und Wegklappen von Deckeln und Türen bringt immer wieder neue Konstellationen hervor, obwohl sich fast nicht verändert hat. Es geht auch um ein anderes Lesen, wie es Didi-Huberman formuliert hat: 

So als ob »Was nie geschrieben wurde, lesen« die Praxis eines immer neu beginnenden Lesens erfordern würde: die Praxis, unablässig die Welt neu zu lesen.[2]

  

Kerstin Drechsel dockt an die Praxis des Tagging mit ihren Bildern und Slogans – „FRAUENBUCHLADEN“, „girls are strong“, „lesbians unite“ … – aus der Frauen- und Lesbenbewegung. „STILL Y‘ING FEMINISM“. Zwischen Neandertalerinnen und Suffragetten entstehen Bildströme. Pussy Riot taucht auf. Und die ornamentalen Kätzchen oder Katzengesichter sind keinesfalls kawaii wie Hello Kitty.[3] Statt niedlich werden die Kätzchen oder Pussys aggressiv. Die Pussys gruppieren sich um ein Baustromkastenfenster, als müssten sie es erobern. Es läuft auf das Tagging beim Graffiti hinaus. Der Kasten wird in Besitz genommen.

 

Graffiti ist auch so eine Jungenssache. MadC ist zwar eine Frau, die es immerhin unter die 10 bekanntesten deutschen Graffitikünstler geschafft hat. Aber sie wird nach dem Künstlerduo HERAKUT mit Jasmin Siddiqui (HERA) und Falk Lehmann (AKUT) auch erst an zehnter Stelle von LennArt auf spraybar genannt.[4] Drechsel nimmt nicht die Sprühdose oder den edding, sie malt und baut und schraubt. Strategisch bewegen sich E_1 bis E_6 trotzdem an der Schnittstelle von urbaner Kunst, Graffiti-Forschung sowie Queer und Gender Studies. Graffiti-Forschung oder -Research ist an Universitäten nicht institutionalisiert. Das Institut für Graffiti-Forschung (ifg) befindet sich in Wien und ist auf Vereinsbasis organisiert.[5] Das Graffiti Research Lab Germany befindet sich in Berlin und wird von Hauke Altmann, Semiramis Ceylan, Raphael de Courville und Jaime Schwartz betrieben.[6] 

 

Abgesehen von der Frage der Graffiti als Sachbeschädigung nach § 303 StGB situiert sich die Straßenkunst im öffentlichen Raum, vor allem Stadtraum am Rande der Legalität. Wahrscheinlich sind Graffitis heute die häufigsten Sachbeschädigungsfälle. Die Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes illustriert den Straftatbestand Sachbeschädigung auf der Website polizei für dich mit einem Foto von einem Sprayer bei der Tat. Über Graffiti wird ausführlich informiert. Denn Graffiti als „Art der Selbstdarstellung“ wird einerseits in der Szene mit „fame und respect“ honoriert und verursacht andererseits „Sachschäden in Millionenhöhe“. 

Graffiti steht international als Oberbegriff für eine subkulturelle Ausdrucksweise in Form von Schriftzügen und Bildern in unterschiedlichsten Varianten. Als Graffiti werden auf geeignete Flächen gezeichnete, gemalte, gesprühte oder gekratzte Bilder, Buchstaben oder andere Symbole bezeichnet.[7]

 

Der Bilderstrom der E-Werke von Kerstin Drechsel setzt gewiss eine „subkulturelle Ausdrucksweise“ in Szene, wenn sich denn so einfach zwischen Kultur und Subkultur unterscheiden ließe. „Frauenbuchläden“ waren in den 70er Jahren eine Subkultur, als die Welt der Fernsehwerbung noch von Frauen wie Johanna Königs Klementine für Ariel bestimmt wurde. Klementine wurde sozusagen 1968 als verspätetes Hausfrauenmodell geboren. Ausgerechnet im Revolutionsjahr `68 erschien Klementine als Inbild der sorgend, hygienischen Hausfrau. Ab 1974 wurden in Paris, 1975 in München und 1976 in Berlin Frauenbuchläden gegründet. Zwar lebten wohl auch damals schon Buchhandlungen ohnehin von lesenden Frauen, doch Frauenbuchläden richtet sich nun an Feministinnen und Lesben. Die Klementine-Kultur und die Subkultur der Frauenbuchläden? Eine vorherrschende Kultur wird wie bei Klementine meistens durch Trivia materialisiert oder verkörpert. Doch Drechsel geht es mit den oszillierenden Bildern nicht in erster Linie darum andere normative Bilder zu schaffen, sondern die Bilder in Bewegung zu bringen.

 

Zufällig streift die Künstlerin mit ihrer überachtzigjährigen Patentante durch ihre Installation. Bei ihr entstehen andere Bilder, die Drechsel im Gespräch nicht etwa zurückweist, sondern gleichfalls gelten lässt. „Diese Striche auf der Brust der Frau sind Markierungen für Schönheitsoperationen …“ Die Barbiepuppen sind gar keine. Sie erinnern zugleich an das normative Frauenbild der Barbie und sind doch aus anderem Material geschnitzt. „Puppen und Katzen“, ja, aber eben keine niedlichen oder hübschen Puppen und Katzen. Katzen lösen wie Hunde bei einigen Menschen sogleich einen Streichel- und Beschützerinstinkt aus. Nennen wir es einfach mal Instinkt. Doch weder die Puppen noch die Katzen erlauben die heimliche Anverwandlung.

 

Die Materialität der Kunst von Kerstin Drechsel ist künstlich. Statt robustem Metallschrank werden die Schaltschränke in stabilem Holz zusammengebaut und bemalt. E_1 setzt noch einen drauf, indem der Schrank nun mit Farben und Kunststoffgips an Porzellan erinnert. Als wolle Drechsel einen Wink dahin geben, dass die Materialität immer schon eine Täuschung und Kategorie ist, lässt E_1 an Delfter Kacheln für die Küche denken. Materialität und Tagging – Delfter Kacheln und „Frauenbuchladen“ – kollidieren. Sie bringen queere Materialitäten ins Spiel. So montiert sie denn auch nicht nur Türen und Türchen sowie Deckel mit besonders großen Scharnieren.

 

 

 

Die Größe der Scharniere steht ganz offensichtlich in einem Missverhältnis zur Größe der Türen und was sie tragen müssen. Die Scharniere halten nicht nur zwei Teile zusammen, werden in Größe und Robustheit geradezu dysfunktional an die kleinsten Türchen angebracht. Die Dysfunktionalität der Scharniere gibt unterdessen einen Wink auf die Sicherheitsmythen von Robustheit und Stabilität. So können die E-Werke einerseits an die Energien, die sie freisetzen, und andererseits an das Visuelle erinnern. Die Kraft des Visuellen, die sozusagen in den Bildern steckt und die mit den Klappen und Türchen im Innern verschachtelt ist, lässt sich durch die Scharniere nicht bändigen.

 

 

 

Gleichwohl können die E-Werke an Möbelstücke für den täglichen Gebrauch erinnern. Von Fern erinnern sie an ein Nachttischchen neben dem Bett. Die Größenverhältnisse und Energien sind außer Kontrolle geraten. Wie schon mit den artifiziellen Tischplatten als anderes Gemälde mit Comicfiguren und der Venus von Willendorf geht es nicht nur um die schöne Kunst oder das eine Bild, sondern auch um ihren Gebrauch. Wie schon mit der Ausstellung Wie wenn am Feiertag oder in der Ausstellung Gegen und zusammen in der Galerie September 2013. Gehören bei Kerstin Drechsel der Gebrauch und die Gebrauchsspuren zum Bilderstrom. Um die Öffnung für das Kabel sind Brauntöne verschmiert. An den Ecken und Kanten haben sich Griffspuren eingefärbt. Wer weiß, ob nicht doch ein E-Werk im Haushalt einer Feministin zur pittoresken Minibar umfunktioniert werden wird. Robust genug sind sie ja.

 

 

 

Die E-Werke funktionieren mit ihren visuellen Strömen wie ein „üppig wucherndes Wissen“[viii], von dem Georges Didi-Huberman in Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft schreibt. Denn das Verhältnis von Innen- und Außenbemalung oder Tagging erinnert in gewisser Weise an die Himmelskugel des Atlas Farnese. Denn der plastische Himmel auf der Oberfläche der Kugel wirkt wie „ein umgedrehter Handschuh“.[ix] Didi-Huberman fügt dieser Bildlichkeit noch einen weiteren Gedanken hinzu. Nämlich, dass „die Himmelskugel auf den Schultern des Atlas für diesen die Gelegenheit zu einem wahrhaft tragischen Wissen darstellte, einem Wissen durch Berührung und durch Schmerz: Alles, was er über den Kosmos wusste, bezog er von seinem eigenen Unglück, seiner eigenen Bestrafung.“[x]

 

 

 

Das energetisch Visuelle der Arbeiten von Kerstin Drechsel berührt als ein „unreines Wissen“, weil es in den Schränken verschachtelt ist und beispielweise als danke auf der eine Handyhülle gestickt wiederkehrt. Es ist ein Wissen aus Berührung von der Trauer, um Mutter, die den evangelischen Kirchentagssong Danke gerne sang. Wie schwarzes Haar hängen die Fäden aus der Hülle von der Decke. „Danke für diesen guten Morgen“ wurde und wird seit 1961 recht häufig bei evangelischen Gottesdiensten gesungen und der Popstar Ralf Bendix machte es 1963 auf dem Evangelischen Kirchentag in Dortmund zum Hit. Die Arbeiten und Objekte verkörpern eine Art Wissen wie es Didi-Huberman mit und für den Mythos des Atlas formuliert hat.

 

Er verfügt also über ein abgründiges Wissen, das ebenso beunruhigend wie notwendig, ebenso »unheilvoll« wie grundlegend ist.[xi]

 

 

 

Schon Drechsels Tischplatte visualisiert ein geradezu kartographisches Lebenswissen von Spiderwoman über „Meine Mutter hat mich beim Mittagessen noch bis zum 10. Lebensjahr gefüttert…“[xii] bis zur Venus von Willendorf. In den E-Werken wird diese Art Wissen verschachtelt und geheimnisvoll. Georges Didi-Huberman hatte im Kontext seiner Forschungen zu Aby Warburgs Bilderatlas auf den Tisch als Tafel für ein Tafelbild hingewiesen. Der Tisch sei nur „der Träger einer Arbeit“, die immer wie modifiziert werden könne. Zwar lassen sich die Bilder auf der Tischplatte nicht verschieben, doch befinden sie sich in einem Prozess wie auf einem Tisch.

 

Er ist nur eine Oberfläche für flüchtige Begegnungen und Anordnungen: Auf ihm legt oder räumt man abwechselnd all das ab, was seine „Arbeitsfläche“, man so schön sagt, hierarchiefrei aufnimmt. Die Einmaligkeit des Tafelbilds weicht auf einem Tisch der unaufhörlich erneuerten Offenheit für neue Möglichkeiten, neue Begegnungen, neue Vielfältigkeiten, neue Konfigurationen.[xiii]    

 

 

 

Georges Didi-Huberman kennt die E-Werke von Kerstin Drechsel noch nicht. Doch die Klappen, Deckel und Türen generieren über die Scharniere ebenfalls immer wieder neue Konfigurationen von queerer Weiblichkeit. Erst wenn die Scharniere bewegt werden, ergeben sich neue Bildverweise und springen für oft nur einen Moment andere Bilder aus der Konstellation. Die Bilder lassen sich kaum fassen. Mal springen sie als Markierungen für Schönheitsoperationen heraus, dann wieder als Lungenflügel und plötzlich als gespiegelte antike Architektur. Es hilft ja nicht nur das Wissen um ein Bild, das im nächsten Moment von der Öffnung im Boden durch ein Schlauchkabel schon wieder abgesogen werden könnte, vielmehr fasziniert Kerstin Drechsels neue Werkgruppe durch ihren Bilderreichtum, der nicht zum Stillstand kommt.

 

 

 

Torsten Flüh

 

 

 

Kerstin Drechsel

 

E-Werk

 

Finissage in Anwesenheit der Künstlerin

 

3. November 2018 12 bis 18 Uhr

 

ZWINGER Galerie

 

Mansteinstraße 5

 

10783 Berlin

 

Tel.: 28 59 89 07

_______________________



[i] Georges Didi-Huberman: Atlas oder die unruhige Fröhlich Wissenschaft. Das Auge der Geschichte III. Paderborn: Wilhelm Fink, 2016, S. 69.

[ii] Ebenda S. 67.

[iii] Vgl. zu kawaii: Torsten Flüh: Yoko Tawadas grandiose Eisbombe. Zu Kaligrafien, Nō und Yoko Tawadas Hybrid-Roman Etüden im Schnee. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. April 2014 23:28.

[iv] LennArt: 10 bekannte Deutsche Graffitikünstler, die man kennen sollte. spraybar: Posted on 03/11/201605/10/2017.

[v] Institut für Graffiti-Forschung und Wiener Graffiti-Archiv http://www.graffitieuropa.org 

[vi] Graffiti Research Lab Germany https://www.graffitiresearchlab.de

[vii] polizei für dich: Graffiti.

[viii] Georges Didi-Huberman: Atlas … [wie Anm. 1] S. 103.

[ix] Ebenda S. 102.

[x] Ebenda S. 103.

[xi] Ebenda.

[xii] Siehe zu Kerstin Drechsels Tischplatte: Torsten Flüh: Gegen und zusammen. Galerie September mischt Mütter und den Kotti auf. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. November 2013 17:34.

[xiii] Georges Didi-Huberman: Atlas … [wie Anm. 1] S. 19.

 

Die "göttliche Leere" und die Polyphonie der Sprache - Zu Julia Kristevas Refounding Europe Through Culture im ici Berlin

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Europa – Identität – Kultur 

 

Die „göttliche Leere“ und die Polyphonie der Sprache 

Zu Julia Kristevas Vortrag Refounding Europe Through Culture im ici Berlin, Institute for Cultural Inquiry 

 

Das Forschungsinstitut ici Berlin liegt quasi auf dem Pfefferberg zwischen Galerie Aedes, ANCB The Metropolitan Laboratory, Pfefferwerk und dem Pfefferbett Hostel. Auf Französisch wird ici als hier gelesen. Hier auf dem einstigen Brauereigelände zwischen Christinenstraße und Schönhauser Allee mit seiner Industriearchitektur aus Backstein und Gusseisen, haben sich nicht nur Künstler*innen, Architekt*innen und Gastronomen etabliert, vielmehr ist es in den letzten Jahren zu einem internationalen Kulturlabor zur Befragung von Kulturen geworden. Es geht nicht um eine homogene Kultur, die sich territorial oder sozial verorten ließe, sondern um Pluralität von Queer Israelis in Berlin bis Refounding Europe Through Culture mit der Grande Dame der französischen Wissenschaftsliteratur Julia Kristeva.

 

Die Verkehrssprache im ici Berlin ist Englisch. Doch gerade Julia Kristeva gibt ihrem Vortrag, den sie synchron projizieren lässt, mit Roland Barthes‘ Formulierung von der „göttlichen Leere“ eine entschieden literarische Dimension. Sie selbst lernte erst Französisch als sie 1965 mit einem Promotionsstipendium von Bulgarien nach Paris übersiedeln konnte. Heute gilt sie als eine der besten französischen Schriftstellerinnen. 2017 erhielt Julia Kristeva den französischen Literaturpreis Prix Saint Simon für ihr Erinnerungsbuch Je me voyage (Ich bin unterwegs). In ihrem Vortrag spielen der Spracherwerb und die Praxis, französisch zu sprechen, eine paradigmatische Rolle für die Kultur eines polyphonen Europas.

 

Julia Kristeva studierte Ende der 60er Jahre bei Roland Barthes. Die Schriftstellerin Ginka Steinwachs erlebte sie als Kommilitonin an der École practique des hautes études in Bathes‘ Seminaren zu Sarrasine von Honoré de Balsac, in denen er aus dem Strukturalismus heraus eine poststrukturalistische Analyse von Literaturen entwickelte, die 1970 als S/Z in Buchform erschien. Götz Wienold erinnert sich an den ersten Kongress der Association Internationale de Sémiotique 1974 in Mailand, auf dem Julia Kristeva ihre poststrukturalistische Intertextualität vorstellte und Umberto Eco mit einer Taube auf der Schulter in der ersten Reihe saß. Bereits 1969 hatte sie ihr Buch Semeiotikè veröffentlicht. Mit dem Konzept der Intertextualität verschob sie zugleich in Anknüpfung an die Psychoanalyse bei Freud und in der Dekonstruktion derselben durch Jacques Lacan den Begriff von Literatur, Kultur und Subjektivität. 

Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen.[1] 

 

Julia Kristeva hat die Literatur- und Kulturforschung wenn nicht geprägt, so doch mit der Intertextualität wesentlich initiiert. Der Direktor des ici Berlin, Christoph F. E. Holzhey, und die Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Eva Geulen, eröffneten den Abend und bezeugten gewissermaßen die Nachhaltigkeit ihrer Arbeiten. Denn ici wie ZfL wurden als Forschungslabore wenigstens durch Julia Kristeva angestoßen. Anders als Roland Barthes verlegte sich Kristeva mehr auf die Psychoanalyse, weshalb heute vielleicht Barthes für die Literatur- und Kulturforschung präsenter ist. Sie ist seit einigen Jahren Ehrenmitglied des ZfL. In ihrer Einführung betonte Eva Geulen die Vielfalt der Bereiche, in denen Julia Kristeva als Semiotikerin, Psychoanalytikerin, Feministin, Anthropologin, Literatur- und Kulturforscherin, Schriftstellerin gearbeitet hat. Sie hat sechs Romane und ihre preiskrönte Autobiographie geschrieben. 2015 verwandelte sie Laurent Binet in seinem Barthes-Roman Le Septième Fonction du langage in eine Romanfigur.  

 

Die Einführung und Anwendung der Intertextualität als Literatur- und Kulturtheorie durch Julia Kristeva und Roland Barthes mit S/Z um `68 lässt sich als folgenreich ansehen. S/Z dockt an Julia Kristeva an[2] und lässt sich nicht zuletzt als Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht als Phallogozentrismus lesen. Sarrasine wird von Barthes mit seinen Student*innen als Kastrationsszenario entfaltet, weil er mit einer Kulturtheorie und einer Geschlechtertheorie („théorie des sexes“) korrespondiert.[3] Die „symbolische Kastration“ wird mit Balzacs Formulierung des Kastraten als einer „Form ohne Substanz“ zu einer einschneidenden wie entscheidenden literatur- und kulturtheoretischen Operation.[4] Später wurde sie weiter ausdifferenziert. Doch wie nachhaltig das Seminar auf die Geschlechterdiskussion, die Schreibweisen und den Feminismus wirkte, lässt sich beispielsweise an Ginka Steinwachs‘ Geschlechtsoperationstext die weiße woche von 1978 lesen. 

dr. aphr. herm, seines zeichens großindustrieller der medizinischen zulieferindustrie, hatte am tage davor, the day before, einen plan gefaßt. diesen führte er am tage, welchem, auch aus, und zwar ließ er einen operativen eingriff in sein physisches selbst vornehmen, den einer dadurch gewissermaßen vorweggenommen noch individuellen, später globalen phallusektonomie mit totaler entfernung der hoden.[5]        

 

Die Frage des Zeichens oder auch des Signals – σημεῖον – wird von Kristeva und Barthes entschieden mit dem Wissen verknüpft. In Ginka Steinwachs' dramatischer Erzählung bekommt der „operative() eingriff in (das) physische selbst“ als Subjektoperation eine weitere Drehung. Denn „dr. aphr. herm“ ist als „seines zeichens großindustrieller“ zugleich ein symbolischer Kapitalist. Kapitalismuskritik und Geschlechtsoperationen werden auf diese Weise verknüpft. Das intertextuelle Zitat generiert nun eine andere „Realität“ als literarisches Wissen. Denn Sarrasine stirbt laut Barthes vor Unwissen (ignorance). 

Sarrasine, der ständig für sich mittels dieses Enthymeme die falsche Weiblichkeit der Zambinella bewies, wird durch die Schuld einer schlecht geführten und schlecht begründeten Überlegung sterben: er stirbt an dem Diskurs des Anderen, an dessen Überfülle von Gründen. Aber umgekehrt und komplementär dazu tötet ihn auch ein Fehler des Diskurses: alle kulturellen Codes, von Zitat zu Zitat verstreut, bilden in ihrer Gesamtheit ein kleines enzyklopädisches, merkwürdig zusammengestückeltes Wissen, einen Wust (fatrasie): dieser Wust bildet die landläufige »Realität«, im Verhältnis zu dem das Subjekt sich anpaßt und lebt.[6]

 

Roland Barthes schrieb selbstverständlich nicht Wust, wie Jürgen Hoch „fatrasie“ übersetzte.[7] Selbst dann, wenn man das „merkwürdig zusammengestückelte Wissen“ einen Wust oder eine Privatmythologie[8] nennen könnte, rekurriert und zitiert Roland Barthes mit „fatrasie“ eine mittelalterliche Poetologie des Unsinns. Doch im Französischen ist die etymologische Herkunft der poetologischen Fatrasie von farcire (vollstopfen) und die Nähe zur Farce als Unsinnsrede wie als Füllung bei der Zubereitung einer Speise stärker erhalten. So gehört denn auch La Farce de Maître Pathelin aus dem 15. Jahrhundert zu den bekanntesten Fatrasien. An der Schnittstelle von „Realität“ und Kirchenkritik kann die Fatrasie einen ebenso politisch kritischen wie unsinnigen Zug bekommen.  Der Unsinn stopft eine fundamentale Leere.


© Dr. Claudia Peppel ici Berlin

Julia Kristevas Vortrag nun im ici Berlin kann und sollte vor dem Hintergrund ihrer weitreichenden, kulturwissenschaftlichen Methode der Intertextualität rezipiert werden. Die Projektion des Textes, den sie verlas, war nicht nur einem besseren Verständnis ihrer englischen Rede geschuldet, vielmehr wurde die Rede so noch einmal als Text mit seinen Zitaten und graphischen Elementen inszeniert. Der Text erschien eben nicht als Power Point Präsentation mit der heutzutage ein Auszug der Vortragsrede Sinn generiert, vielmehr wird der buchstäbliche Text so vorgeführt. Daraus können verschiedene Sinneffekte angestoßen werden. Einerseits kann der Text durchaus besser mitgelesen werden. Andererseits entsteht zwischen dem gelesenen und gehörten Text eine leichte Irritation, weil die Lesegeschwindigkeiten z.B. im Akustischen und Visuellen abweichen können. Auf diese Weise kann man den Text und seiner Intertextualität durch eine doppelte Performanz doch nicht habhaft werden.

 
© Dr, Claudia Peppel ici Berlin

Allerdings stellt sich mit dem akustischen und visuellen sowie synchronen Lesen auch eine Geste des Zwangs oder Therapie ein. Man soll jetzt verstehen, was vorgetragen wird. Die Kulturtheoretikerin Julia Kristeva lässt sich kaum von der Psychoanalytikerin und Literaturwissenschaftlerin trennen. Doch ihre Kulturtheorie entwickelt sich auch mit einer starken Praxeologie. Was praktisch gemacht wird, bringt nicht nur eine Kulturtheorie der Intertextualität hervor, vielmehr gehört die Praxis zur Theorie. 

We all know, that under the guise of crises – presidential turbulence in the United States of Ameria, political recomposition in France, the rise of nationalism in Europe, Daesh fought but not defeated, the incapacity of democracies to successfully face down radical Islam, etc. – I cannot enumerate them all, but under the guise of these crises an anthropological transformation is underway. 

Some rejoice, other fear an new apocalypse.[9] 

/Wir alle wissen, dass unter dem Deckmantel von Krisen - Turbulenzen des Präsidenten in den Vereinigten Staaten von Amerika, politische Neuordnung in Frankreich, der Aufstieg des Nationalismus in Europa - Daesh bekämpft, aber nicht besiegt wurde, die Unfähigkeit der Demokratien, sich erfolgreich gegen den radikalen Islam zu stellen, usw. Ich kann sie nicht alle aufzählen, aber unter dem Deckmantel dieser Krisen ist eine anthropologische Transformation im Gange. 

Einige freuen sich, andere fürchten eine neue Apokalypse.

 
© Dr. Claudia Peppel ici berlin

Damit setzte Julia Kristeva vor allem bei Daesh an. Was ist Daesh? Und worin unterscheidet sich Daesh vom IS, Isis oder Isil? Für die Autorin von Étrangers à nous-mêmes/Fremde sind wir uns selbst (1988/deutsch 2001), die ihr Buch mit einer Toccata et fugue pour l’étranger eröffnete, ist der thematische Schwenk zum Daesh in gewisser Weise verblüffend. Hatte sie nicht den Fremden poetologisch gefeiert: „Fremder: erdrosselte Wut tief in meinem Hals, Schwarzer Engel, der Transparenz stört, undurchsichtige Spur, unergründlich. Figur des Hasses und der Andere, der Ausländer ist weder das romantische Opfer unserer familiären Faulheit, noch der Eindringling, der für alle Übel in der Stadt verantwortlich ist.“[10] Der feine Unterschied vom Daesh oder vom Islamischen Staat zu sprechen, was dem Hörer wie Leser entgangen sein mag, ist von Alice Guthrie u. a. 2015 decodiert worden. 

„Daesh“ heißt … nichts anderes als Isis oder Isil, es wird aber vermehrt auch in nichtarabischsprachiger Umgebung verwendet, weil es das von vielen Muslimen zurückgewiesene „islamisch“ verschwinden lässt. Es heißt zwar das Gleiche, klingt jedoch neutraler. Auf Arabisch hat es eine – erwünschte – pejorative Note.[11]

 
© Dr. Claudia Peppel ici Berlin

Lesen und Hörer verlaufen bei Daesh nicht synchron. Denn die im Arabischen erwünschte „pejorative Note“ kommt nur phonologisch durch die arabische Aussprache des Worts داعس (daeš) für jemanden oder etwas, das etwas zerstampft, und die Schreibweise dem Wort جاهليةāhilīya), das im Koran abwertend für das vorislamische Heidentum beziehungsweise die Gegner des Propheten Mohammed gebraucht wird, zustande. Daesh macht deshalb noch lange nicht alle Muslime oder Menschen, die den Islam praktizieren, zum fremden Anderen, sondern unterscheidet „den radikalen Islam“ von anderen Ausübungspraktiken des Islam. In der Debatte über den Islam in Deutschland kommt diese Unterscheidung kaum vor, weil sich beispielsweise die CSU der Eigennamensgebung und Selbstermächtigung der Terroristen des Islamischen Staates unterworfen hat, um weiterhin lieber national und rassistisch zu argumentieren, um damit ihrerseits einen vorherrschenden Diskurs in Deutschland zu prägen.

 

Die Benennung und Codierung Daesh macht den Unterschied, was Julia Kristeva sehr genau als Semiotikerin weiß und einsetzt. Doch wem, wird das im Vortrag aufgefallen sein? Die „anthropologische Transformation“ hat bei und für Julia Kristeva mit der Sprache zu tun. Mit einer starken Wissensgeste – „wir alle wissen“ – lenkt sie die Aufmerksamkeit von den Krisen ab und auf die Funktion der Sprache und des Spracherwerbs in der therapeutischen Praxis, indem sie die Fallgeschichte einer radikalisierten Jugendlichen aus dem Cochin Hospital, Paris, in Zeiten „neuer Versprechen des Transhumanismus“ erzählt. Das Humanum und der Humanismus stehen beispielsweise mit den prozessualisierten Wähleridentitäten auf Twitter und Facebook während der amerikanischen Präsidentschaftswahl auf dem Spiel, ob nun Trumps Team oder russische Hacker die Chatbots als Trumpisten-Farce programmiert haben oder nicht.

 

In diesem Szenario wirkt Kristevas Fallgeschichte von einer radikalisierten Muslimin, die dem islamischen Staat angehören will, sich von den muslimischen Eltern abwendet, in einer Anorexie zugleich einen suicidalen Wunsch auslebt, schließlich beginnt den Islam in Französisch zu lesen und kreativ wird, fast niedlich. Die Aufzeichnung der Veranstaltung und des Vortrags wird demnächst als Video auf der Website von ici Berlin verfügbar sein. Doch die psychoanalytische Entfaltung der Fallgeschichte mit der Frage der Identität, insbesondere mit der „identity of radicalized teens“ fokussiert die „role of ideals in the construction of identity“. Welche Rolle spielen in der Adoleszenz also Ideale für den Glauben? Kristeva bringt das psychoanalytische Wissen und dessen Praxis in einem zweiten Zug für „the disadvantaged, the disabled, and those in precarious situations“ thematisch in Anschlag. In einem dritten Zug geht es ihr um eine Reformulierung des Konzepts der Freiheit. 

Finally, in this approach to identity, I will finish on the concept of freedom, seen not as a transgression, but as a creativity.[12] 

 

Refounding Europe Through Culture ist nach Julia Kristeva ein komplexer, nicht nur analytischer, vielmehr therapeutischer Identitätsprozess, den sie unter philosophischer Bezugnahme insbesondere bei Jugendlichen in ihrer psychosexuellen Konstruktion als Person mit der Psychoanalyse ausmacht. Die anthropologische Transformation, der Kristevas Aufmerksamkeit mehr als den Krisen wie der Demokratie gilt, findet nicht einfach nur in der Digitalisierung als Künstliche Intelligenz statt, wenn wir uns mit Alexa, Siri oder Cortana mit Frauenstimmen unterhalten und Ada als Googles „Gesundheitshelferin“ unsere Wehwehchen klagen, damit sie uns sagt, was wir tun müssen, damit wir uns wohlfühlen – „Hallo Sarah, ich bin Ada. Ich kann dir helfen, wenn du dich nicht wohlfühlst. Kopfschmerzen? #tellAda“[13]–, vielmehr fragt sie danach, was das mit Jugendlichen und dem Humanum macht. 

Scientific innovations, the promises of transhumanism, and now the changes in our behaviour that new technologies and hyperconnectivity bring about, transform the psychosexual construction that is called a person.[14]

 

Die Therapie von Souad, der radikalisierten Jugendlichen, endet mit Roland Barthes im Vortrag glücklich. Nachdem sie wie andere Jugendliche „writing and theater workshops“ besucht, ein Buch mit arabischen Gedichten in der französischen Übersetzung ausgeliehen, französische Literaturkurse besucht hatte, zog sie statt der Burka wieder „her jeans“ an und ging nicht zum Daesh. Wenn man „meaning in the fullness of language“ findet, kann „the divine void … no longer threaten““. Und Julia Kristeva fügte hinzu, dass auch der Exzess des totalitären Göttlichen nicht mehr erschrecken könne. Durch die kreative Praxis des Schreibens und Theaterspielens erlangt Souad eine Freiheit, die sie vor der suizidalen Entscheidung rettet, zum Daesh zu gehen, weil sie „analytical attention“ erfahren habe. Doch wie lässt sich die Freiheit in eine Polyphonie verwandeln?

 

Es kam der Zweifel auf, ob die Frage der Identität nicht in Zeiten einer wohlkalkuliert mit auswählbaren, aber meist weiblichen Stimmen sprechenden Künstlichen Intelligenz nicht eher die Domäne der Medienwissenschaft sei. Für junge Menschen sind die psychologisch trainierten und programmierten Chatbots wie Social Bots längst psychosoziale und psychosexuelle »Realität«. Mehr noch: in der Geschichte der Chatbots von Eliza über Ada bis Dialogflow von Google sind Psychologen und -analytiker an der Konstruktion beteiligt, wenn nicht federführend. Mandi Galluch, Digital Experience Program Leader, sagt ganz offen als Werbung für Unternehmen: „Dialogflow is user-friendly, intuitive, and just makes sense. Its natural language processing (NLP) is the best we've tried.“[15] Das einst hoch gepriesene NLP als Neuro-Linguistisches Programmieren wird von Galluch in ein „natural language processing“ transformiert. Verspricht Julia Kristeva mit Refounding Europe Through Culture in einem therapeutischen Gestus vielleicht genau jene Konstruktion von Identität und Person, die sich in Alexa und Dialogflow bereits verwirklicht? 

 

Torsten Flüh

 

Julia Kristeva 

Refounding Europe Through Culture 

ici Berlin – Kulturlabor 

Upcoming Events
Christinenstraße 14-18, Haus 8

10119 Berlin   

 

 

Performance

Ginka Steinwachs 

die weisse woche (1978)

am Sonntag, 11. November 2018, 16:00 Uhr

in der Installation

HIJRA FANTASTK 

bis 19. November 2018 

Schwules Museum 

Veranstaltung in der Reihe „Jahr der Frau_en“ bis 01.01.2019. 

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[1] Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Jens Ihwe (Hg): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Band 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II, Frankfurt a.M.: Athenäum, 1972, 348.

[2] Bei Barthes heißt es: „Je renvoie à Kristeva“. Roland Barthes: Sarrasine de Balsac. Séminaires à l’École practique des hautes études 1967-1968, 1968-1969. Paris: Seuil, 2011, S. 58.

[3] Ebenda S. 78.

[4] Carlo Brune: Roland Barthes: Literatursemiologie und literarisches Schreiben. Würzburg: Könighausen & Neumann, 2003, S. 116.

[5] Ginka Steinwachs: die weisse woche. In: Claudia Reiche: Hijra Fantastik. Heft 5. In: Claudia Reiche, Andrea Sick: Schriftenreihe queer lab 2018, Bd. 6. Bremen: theatlit, 2018, unnummeriert (S. 9). (Zuerst in die schwarze botin, 1978)

[6] Roland Barthes: S/Z. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1987, S. 183-184.

[7] Roland Barthes: S/Z. In: ders.: Œuvres complètes Tome II. Paris: Seuil, 1994, S. 679.

[8] Zur Privatmythologie siehe: Torsten Flüh: Verkehrte Sicherheit und die Rückkehr der Rasse. Eine kleine Nachlese zum Tag der Deutschen Einheit, Bündnis Berlin und zur Aktion Deutschland spricht. In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. Oktober 2018 18:41.

[9] Julia Kristeva: Refounding Europe Through Culture. (Projektion am 6.11.2018, ici Berlin)  

[10] Julia Kristeva: Étranger à nous-mêmes. Paris: Fayard, 1988, S. 9. (Übersetzung T.F.)

[11] Alice Guthrie: Decoding Daesh: Why is the new name for ISIS so hard to understand? In: Free Word. 19. Februar 2015, abgerufen am 16. November 2015.

[12] Julia Kristeva: Refounding … (wie Anm. 9).

[13] So ein Plakat auf dem U-Bahnhof Oranienburger Tor. Dem U-Bahnhof, an dem das Gesundheitsministerium in der Friedrichstraße liegt. Siehe auch https://ada.com/de/.

[14] Julia Kristeva: Refounding … (wie Anm. 9).


Vom Wandel der Verfassung und der Schrecken des Populismus - Christoph Möllers' Mosse-Lecture zu Autokratien, Philip Manows Die politische Ökonomie des Populismus und ein Wetterbericht

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Verfassung – Wetter – Autokratie 

 

Vom Wandel der Verfassung und der Schrecken des Populismus 

Christoph Möllers‘ Mosse-Lecture zu Autokratien, Philip Manows Die Politische Ökonomie des Populismus und ein Wetterbericht 

 

Für die Verfassung gibt es Grafiken, aber kein Bild. Das Grundgesetz dient der Bundesrepublik Deutschland als Verfassung, die mit 146 Artikeln allenfalls als Buch mit Goldschnitt dargestellt wird. Christoph Möllers hielt nun als Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin seine Mosse-Lecture mit dem ambigen Titel Die autoritäre Revolte. In seinem Vortrag ging es nicht zuletzt um die Verfassung, die mit einem historisch-empirischen Argument schon außergewöhnlich, wenn nicht viel zu lange halte. 2018 hat er mit Friedliche Totalpolitisierung zum Wetterbericht – `68 und die Krise der Demokratie von Susanne Schüssler beigetragen. Gerade im Herbst kann das Wetter zu beinahe beglückenden Goldeffekten des Sonnenlichts verhelfen.

Michael Kämper-van den Boogaart begrüßte als Mitveranstalter der von George L. Mosse und Klaus Scherpe initiierten Vortragsreihe mit internationalen Gästen zu politischen Themen die Erstsemester wie Langzeithörer und Vortragenden. Für George L. Mosse spielte die Erfahrung der antidemokratischen Radikalisierung durch rechtsradikale Brandstiftungen, Menschenjagden und Körperverletzungen gegen vietnamesische Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen vom August 1992 eine entscheidende Rolle, sich mit der Begründung der Mosse-Lectures ab dem 14. Mai 1997 zu engagieren. Christoph Möllers als Proponent und Philip Manow als Respondent nehmen sich in rechtsphilosophischer und politikwissenschaftlicher Hinsicht der Frage der Autokratien an. Wie lässt sich das aktuelle Geschehen in Politik und Gesellschaft, nicht zuletzt mit der Wahl Brett Kavanaughs zum Verfassungsrichter der USA, kritisch analysieren?  

 

Funktioniert der Begriff der Autokratie für aktuelle politische Analysen? Vom Populismus als eine demokratieschädliche Politikpraxis zu sprechen, hatte sich schon vor ziemlich genau zwei Jahren mit dem Vortrag Rage, Rebellion, New Power von Slavoj Žižek als wenigstens ambivalent erwiesen.[1] Kurz danach wurde Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt, obwohl er weniger Wähler*innenstimmen erhielt als seine Kontrahentin Hillary Clinton. Ist seine Politik noch Populismus oder reine Fake-Politik zur Erhaltung der Macht? Pierre Rosanvallons Mosse-Lecture im Juni dieses Jahres ließ die Frage aufkommen, ob wir nicht mehr Populismus bräuchten.[2] Mit Christoph Möllers und Philip Manow nehmen sich zwei renommierte Wissenschaftler und Autoren dieses Fragenkomplexes an. Denn das Konzept der Autokratie beschreibt „populistische() Bewegungen“: 

… Unter dem Druck grassierender Globalisierungsängste, mit dem Erstarken populistischer Bewegungen und im Zeichen von Wirtschafts- und Sicherheitskrisen scheint mittlerweile das zur Option geworden zu sein, was man als Autokratie beschreibt: eine Herrschaftsform, die auf Selbstermächtigung und Machtmonopolisierung gründet und die sich durch den Ausschluss des Anderen und Fremden konsolidiert. In der geopolitischen Strategieplanung der Demokratieforschung der 1990er Jahren wurde, zumeist im Auftrag westlicher Staaten, ein weltweiter Systemwechsel beobachtet…[3]

 

Wie steht es um die Autokratie als Systemwechsel in Deutschland? – An dieser Stelle kommt der Wetterbericht bzw. der von Susanne Schüssler herausgegebene Band mit einem eher anekdotischen, doch gleichfalls präzise formulierten Beitrag von Christoph Möllers zum Zuge. Schüssler dockt in ihrem Vorwort, Wozu einen Wetterbericht? an ein Plakat des „sozialistischen Studentenbund(es)“ von 1968 an, das den Werbeslogan der Bundesbahn „Alle reden vom Wetter – wir nicht“ kopiert und mit „den Köpfen von Marx, Engels und Lenin“ montiert hatte.[4] Das utopische Überwindungsversprechen der Wetterabhängigkeit durch die Bundesbahn wurde von Ulrich Bernhardt und Jürgen Holtfreter in Agitprop verwandelt und in politische Aktion umgedeutet. Möllers trägt zum Band seine „Jugendliche Erinnerung an eine Generation“ und die WG, in der er mit seinem Vater in den 1980er Jahren lebte, bei, um zugleich auf die „Systemkanonisierung“ zu verweisen. 

Wer gegen Umweltschutz oder Frauenemanzipation ist oder sich gar ausdrücklich gegen die 68er wendet, dürfte im heutigen Deutschland aller Wahrscheinlichkeit Anhänger der AfD sein und als solcher zur freiheitlich demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes in einem zumindest ambivalenten Verhältnis stehen, während viele politische Projekte der 68er mittlerweile im Grundgesetz verankert sind, also die maximale Systemkanonisierung erfahren haben.[5]

 

Am Horizont der politischen Agenda der AfD steht gewiss der Traum statt von der Systemkanonisierung vom Systemwechsel, für den indessen Alexander Gauland, Alice Weidel und Bernd Höcke nicht annährend die Kapazität zum Autokraten vom Schlage eines Donald Trump oder Recep Tayyip Erdoğan bieten. Die „freiheitlich demokratische Grundordnung des Grundgesetzes“ als Verfassung steht mit der AfD in der Bundesrepublik Deutschland erstmals signifikant in Frage, während Christoph Möllers in seiner „Erinnerung“ darauf aufmerksam macht, dass von der „FDGO“ in der WG zwar „mit einem ironischen Unterton gesprochen“ wurde, aber der Marsch durch die Institutionen wollte sie vielleicht zunächst beseitigen, in der Praxis verwandelte er sie. Die WG sei trotz „Regelanfrage“ und Überprüfung aller „Bewerber für den öffentlichen Dienst vom Verfassungsschutz“ „so unglaublich staatsnah“ gewesen. 

Soweit ich mich erinnere, waren alle Freundinnen und Freunde meines Vaters Beamte oder öffentliche Angestellte – und alle arbeiteten im weitesten Sinne im Bildungs- und Kulturbetrieb.[6]

 

Christoph Möllers gehört mit Alexandra Kemmerer und Maximilian Steinbeis zu den Mitbegründern und Blog-Autoren des Verfassungsblog, „der 2009 gegründet und seit 2011 in Kooperation mit dem Forschungsverbund Recht im Kontext am Wissenschaftskolleg zu Berlin zu einer wissenschaftlichen Diskursplattform ausgebaut“ wurde.[7] Weiterhin operiert der Verfassungsblog„an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und politischer Öffentlichkeit mit dem Ziel, in beide Richtungen für mehr Durchlässigkeit zu sorgen“. Möllers hat zwar zuletzt kurz vor dem Brexit-Referendum am 15. Juni 2016 im Interview mit Maximilian Steinbeis „gebloggt“ – „Wir sollten sagen: Wer nicht will, der hat schon“–, doch kooperiert dieser mittlerweile mit dem Center for Global Constitutionalism am sozialwissenschaftlichen Wissenschaftszentrum Berlin. Am 10. November 2018 postete Maximillian Steinbeis Constitutionalizing Facebook. Kurz: Es gibt kaum einen ausgezeichneteren Kenner der Verfassungsfrage als Christoph Möllers. In seiner Mosse-Lecture zeigte er sich nun vor allem von einer verfassungsphilosophischen Seite.

  

Möllers erklärt in seinem Vortrag nicht den Populismus oder die Autokratie, vielmehr untersucht er die Geste der wissenschaftlichen Erklärung. Und stellte die provozierende Frage: Was heißt es eine Erklärung zu finden? Nach Möllers fällt an ihr „zum Ersten auf, dass sie die antiliberale politische Mobilisierung nicht beim Wort nimmt, sondern durch etwas Anderes zu erklären pflegt, etwa durch soziale Ungleichheit oder Verlustängste. Zum Zweiten verläuft die Argumentation zumeist so, dass die Erklärungslast der Krise liberaler Institutionen auferlegt wird, nicht ihrem bisherigen Erfolg. Dabei könnte es erstaunlicher sein, dass demokratische Rechtsstaaten so lange funktioniert haben, als dass sie jetzt zu zerfallen drohen. Zum Dritten schließlich wird der politisch-performative Gehalt sozialwissenschaftlicher Erklärungsmuster gerne unterschlagen, also der Umstand, dass sich jede Erklärung der Krise auch als politische Stellungnahme in dieser deuten lässt. Diese drei Faktoren könnten im Ergebnis dazu führen, dass sozialwissenschaftliche Erklärungsversuche einer politischen Auseinandersetzung um die Zukunft liberaler Demokratien eher im Wege stehen, als sie weiterzubringen. “[8] Möllers lenkt stattdessen die Aufmerksamkeit auf demokratische Narrative und erinnert an die Bewegungsform politischer Aktionen, für die er die Grünen als Bewegung anführt.

 

Die Bewegungsform politischer Aktionen ließe sich gewiss nicht nur für die Grünen, sondern bereits im Kaiserreich für das Frauenwahlrecht, Berta von Suttners Friedensbewegung[9] und die Sozialdemokratie ansetzen. Sarah Wagenknechts Bewegung „Aufstehen“ trägt gar eine politische Bewegung im Namen, will indessen nicht so recht populär werden und tritt seit Monaten auf der Stelle. Doch auch Emmanuel Macrons politische Bewegung En Marche fegte die ausgeklügelte Hierarchie der Parti socialiste, wenn nicht gleich der Parteiendemokratie hinweg. Indessen stellt Emmanuel Macron ebenso wenig wie die Linken oder Grünen das System bzw. die französische Verfassung in Frage. Christoph Möllers argumentiert in seinem Vortrag unter vollem gestischen Körpereinsatz. Seine Beispiele der Unterschiede zwischen einem SPD-Ortsverein und einem Grünen-Ortsverein leuchten ein. Und man kann sich denken, dass der SPD-Ortsverein bloß nicht zu viel politische Bewegung will, während der Abglanz der Bewegung die Grünen von Wahlsieg zu Wahlsieg trägt. Möllers verschiebt die Begrifflichkeiten von Populismus und Autokratie zum Autoritarismus.

 

Der Autoritarismus stellt die Systemfrage und will die Demokratie mit ihren ausgeklügelten Minderheitenrechten, durch ein autoritäres System der Mehrheit ersetzen. Deshalb spricht Möllers in seinem Vortrag von Autoritarismus statt vom Populismus. Als Beispiel führt er Polen an. Die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwosc, PiS) führt bereits die Autorität des (nationalistischen) Rechts in ihrem Namen. Die populären, einstigen Kinderstars des polnischen Fernsehens Lech Kaczyński und sein Zwillingsbruder Jarosław Kaczyński gründeten ihre Partei zur Besetzung des Rechtsbegriffs und der Machterlangung in Polen. Deshalb ist es fast schon folgerichtig oder systemimmanent, dass sich die autoritäre Partei und Regierung gegen das polnische, durch demokratische Prozesse besetzte Verfassungsgericht wendet. Die oberste Verfassungsrichterin Malgorzata Gersdorf wird in den Ruhestand versetzt, weil der autoritäre Rechtsbegriff von Recht und Gerechtigkeit durchgesetzt werden muss, um die Partei und ihre Herrschaft zu legitimieren.[10] Nur mit Hilfe dem Europäischen Parlament und Europäischen Gerichtshof kann Widerstand gegen die autoritäre Rechtsbeugung geleistet werden.

 

Christoph Möllers hatte Philip Manows sozusagen druckfrisches Buch zum Populismus, Erscheinungsdatum 12.11.2018, edition suhrkamp 2728, vor der Zeit erhalten und gelesen. Die Politische Ökonomie des Populismus von Philip Manow wurde von Möllers bereits für seine Argumentation gegen die Erklärungsgeste der Sozialwissenschaften genutzt. Indem sich Möllers schon in seinem Vortrag mit einer Art Vorwissen aus der Position der Proponenten heraus begab, wurde für ihn Philip Manows Analyse des Populismus mit der Erklärung, dass „eine vergangene Erfahrung von Arbeitslosigkeit“ zu diesem geführt habe, bereits als Respons formuliert. Möllers will die Erklärung, dass der Populismus im Kapitalismus begründet sei, nicht gelten lassen. Deshalb veränderte er die „Erklärungsrichtung“ und verwies auf die durchschnittliche „Verfassungsdauer“ von 19 Jahren in den letzten 200 Jahren. Anders gesagt: Die rechtsphilosophische Befragung der Geste einer wissenschaftlichen Erklärung wird von Möllers konkret auf Manows Buch bezogen. Eigentlich hatte Möllers damit die Regeln von Proponent und Respondent umgedreht oder gar verletzt. – Vermutlich wird in den nächsten Tagen das Video auf dem YouTube-Channel der Mosse-Lectures zur Verfügung gestellt.

 

Philip Manows am Montag erschienenes Buch, das dem Berichterstatter vorliegt, wird als eine „vergleichende Erklärung“ von Links- und Rechtspopulismus angekündigt.[11] Als Respondent in der Mosse-Lecture hatte Christoph Möllers sein entscheidendes Argument – „Wer vom Populismus reden will, aber vom Kapitalismus nicht, landet immer nur bei Identitätspolitik – und wird dann unweigerlich selbst Partei im Streit.“[12]– im Voraus, wahrscheinlich aber auch strukturell für die Sozialwissenschaften als Erklärung kritisiert. Dennoch oder gerade deshalb räumte Möllers ein, dass „wir alle (…) Erklärer“ seien. Vielleicht kann man Christoph Möllers sprühende Eloquenz als Kritik mit einer ebenso verallgemeinernden wie verbrüdernden Geste am vertrackten Wissen der Erklärung verstehen. Unterdessen hatte er in einer mehr oder weniger freien Rede den Begriff des Autoritarismus gesetzt, auf den Manow in seinem Respons einging.

 

Wenn Philip Manow in seiner Vorrede konstatiert, dass „Theoriedefizit und Moralüberschuss (…) die öffentliche Debatte gleichermaßen“ kennzeichneten[13], dann fordert er eine Theorie oder einen theoretischen Unterbau ein. Doch welche Art Wissen verspricht die Theoriebildung? Gibt es dann nicht verschiedene Theorieblöcke, die den Populismus jeweils unterschiedlich erklären und verfehlen? Geht es um eine Theoriebildung in den Sozial- und Humanwissenschaften, wie es für `68 verbindlich war? Philip Manow erkennt sehr wohl das Problem der Theorie, das darin liegt, wenn „man keine begründete und belastbare Erwartung (sprich: keine Theorie)“ habe, „welche Muster zu erkennen sein werden,“ „man meistens auch keine – oder die falschen“ sehe.[14] Dennoch bietet er eine „Politische Ökonomie des Populismus“ als Theorie an, die er „anhand der vorliegenden Empirie überprüfen“ möchte.[15] Die Theorie steht unterdessen als Literaturgenre bereits seit Philipp Felschs Der lange Sommer der Theorie (2015) in Frage.[16] Auch Christoph Möllers erinnert sich kritisch an „die Theoretiker, die gelesen wurden, von Marx bis zu obskurer New-Age Literatur, pflegten einen Gestus der Tiefe und Formkritik“.[17]      

 

Manow hält in seinem Buch an der Analyse des Populismus daran fest, dass es trotz „unterschiedliche(r) Politische(r) Ökonomien in Europa“ „sehr wohl bestimmte, spezifische, und vor allem auch beschreibbare Problemkonstellationen vornehmlich ökonomischen Charakters sind, die populistischen Protest provozieren und seine diversen politischen Ausrichtungen mit jeweils unterschiedlichen Hauptträgergruppen erklären können“.[18] Er „beton(t) die Variation dieser ökonomischen Problemkonstellationen“, weil er eine „generelle Erklärung“ durch die „Modernisierungsverlierer-These“ falsch findet.[19] Es geht ihm damit vor allem um eine Differenzierung, der vielfältigen Erscheinungsformen des Populismus zwischen „Donald Trump, Marine Le Pen, Beppe Grillo, Matteo Salvini, Geert Wilders, Hugo Chávez (und sein Wiedergänger Nicolás Maduro), Pablo Iglesias, Jarosław Kaczyński, Beatrix von Storch und Alexander Gauland, Norbert Hofer und Heinz-Christian Strache, Jimmie Åkesson, Jean-Luc Mélenchon, Nigel Farage (und Boris Johnson?), Viktor Orbán, Alexis Tsipras, Recep Tayyip Erdoğan, Rodrigo Duterte, Narendra Modi“.[20] Die Differenzierung des Populismus und seiner ökonomischen Ursachen führt wenigstens zu einer genaueren Betrachtung der politischen Praktiken, während schlagwortartige Wiederholungen entweder Angst durch oder Rausch des Wissens generieren.

 

Das Buch über die Erscheinungsformen des Populismus ist mit dem umfangreichen methodologisch-theoretischen Vorwort in 6 Kapitel eingeteilt. Das 2. Kapitel – „Populisten vs. Elite, Elite vs. Populisten“ setzt bei dem „Eindruck“ an, „hier gäben vornehmlich Repräsentanten der Oberschicht zu Protokoll, wie sehr sie mittlerweile von der Unterschicht angewidert sind“.[21] Im 3. Kapitel geht Manow von seiner „Ausgangsbeobachtung … einer ausgeprägten geografischen Varianz“ aus, um den „Populismus und die Politische Ökonomie der Globalisierung“ zu untersuchen.[22]„Der Aufstieg der Rechtspopulisten in Deutschland“ versucht im 4. Kapitel den „Aufstieg der AfD“ zu erklären.[23] Im 5. Kapitel formuliert er eine „Erklärung“ für die geografische Varianz des Populismus in Europa: „Die europäische Geografie des Populismus“.[24] Zum Schluss im 6. Kapitel, „Die Europäisierung des Populismus“, versteht und analysiert Manow den populistischen Protest „als Protest gegen die Folgen, die das Aufgeben nationaler Grenzen mit sich brachte, und als Protest gegen die Folgen der Abschaffung nationaler Währungen“.[25] Dieses methodologische Vorgehen indessen erklärt z.B. nicht, die Privatmythologie von Karl Adolfs (Name geändert), der in Sozialen Netzwerken seine AfD-Gesinnung feiert und feiern lässt.[26]

 

Die Politische Ökonomie vermag nur ansatzweise, die kursierenden Privatmythologien von AfD-Wählern, die in finanziellem wie sozialem Wohlstand leben, zu erklären. Adolfs beispielsweise gibt als Neuzigjähriger in Kiel in einem sehr großen Einfamilienhaus mit Auto, russischen oder türkischen Haushaltshilfen und am Flugsimulator im Wohnzimmer neben seiner körperlich eingeschränkteren jüngeren Ehefrau spielend vor, bei der Flüchtlingskrise 2015 gar nichts anderes habe wählen können als die AfD. Herr Adolfs genießt nicht nur eine luxuriöse Altersabsicherung und die Fürsorge der Haushaltshilfen mit Migrationshintergrund, sondern profitiert auch noch von einer gesellschaftlich geförderten Selbstorganisation alter Menschen, die ihn und seine Frau trotz politischer Meinungsunterschiede mit dem Auto regelmäßig zu gemeinsamen Unternehmungen abholen. Das ist gewiss nur ein winziger Kritikpunkt, der indessen aus einer Mikrologie eine ganze Bewegung zu befördern vermag. Doch Philip Manow kommt zu einem anderen Schluss: 

An dieser Stelle würde sich dann der Kreis schließen. Der linke südeuropäische und der rechte nordeuropäische Protest gegen die Globalisierung als freie Bewegung von Gütern und Geld einerseits sowie von Personen andererseits richtet sich schließlich gegen ein Europa, das in den letzten drei Dekaden jene Bewegungen enorm intensiviert hat. Die politische Unterstützung für dieses Projekt scheint rapide zu schwinden, ohne dass bislang klar wäre, wie ein weitgehend verselbstständigtes Integrationsregelwerk und ein abnehmender politischer Konsens dafür in Zukunft wieder stärker in Übereinstimmung zu bringen wären.[27]

 

Mikrologische Privatmythologien leugnen in einer Art Fatarsie (Roland Barthes) historische und wissenschaftliche Erkenntnisse, um daraus Macht bzw. Autorität zu gewinnen. Auf paradoxe Weise will der Populist von allen geliebt werden. Denn Karl Adolfs Outing als AfD-Wähler unter langjährigen Freunden wurde sogleich von der beschwichtigenden Bemerkung begleitet, dass in diesem Kreis doch nie Politik eine Rolle gespielt habe. Sehr wohl erinnert man sich allerdings daran, dass er einen größeren Verein verließ, als er nicht mehr die Preise gewann, die ihm nach seiner Wahrnehmung zugestanden hätten. Zumindest dieser Wähler des rechten Populismus gewinnt ansatzweise als Neunzigjähriger über die Sozialen Medien eine Autorität, die es sich kaum noch zu erhoffen gewagt hatte. Philip Manows kenntnis- und materialreiches Buch verfehlt allerdings genau diesen Punkt im bewegenden Rechtspopulismus. 

 

Torsten Flüh 

 

Nächste Mosse Lecture: 

Karl Schlögel 

Russland-Versteher – 

Wenn es doch welche gäbe! 

Über eine neue Wirklichkeit und alt gewordene Kategorien 

Donnerstag, 22.11.2018, 19 Uhr c.t. 

Unter den Linden 6, Senatssaal 

Philip Manow 

Die Politische Ökonomie des Populismus 

D: 16,00 €, A: 16,50 €, CH: 23,50 sFr 

Erschienen: 12.11.2018 

edition suhrkamp 2728, 

Taschenbuch, 160 Seiten 

ISBN: 978-3-518-12728-5 

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[1] Siehe Torsten Flüh: Die Katastrophe akzeptieren. Slavoj Žižek eröffnet mit Rage, Rebellion, New Power die Vorlesungsreihe Populismus und Politik der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Oktober 2016 21:29.

[2] Siehe Torsten Flüh: Brauchen wir mehr Populismus? Pierre Rosanvallon hält eine Mosse-Lecture zur radikalen Demokratie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Juni 2018 20:36.

[3] Mosse-Lectures: Autokratien. Herausforderungen der Demokratie. Wintersemester 2018/2019.

[4] Susanne Schüssler: Wozu einen Wetterbericht? In: dieselbe (Hrsg.): Wetterbericht. `68 und die Krise der Demokratie. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2018, S. 7. (Zuerst: Berlin: Klaus Wagenbach, 2017).

[5] Christoph Möllers: Friedliche Totalpolitisierung. In: Ebenda S. 8-9.

[6] Ebenda.

[7] Steinbeis/Kemmerer/Möllers (Hrsg.): Gebändigte Macht: Verfassung im europäischen Nationalstaat. Verfassungsblog II. Baden-Baden: Nomos, 2015, S. 7.

[8] Christoph Möllers: Die autoritäre Revolte. In: Mosse-Lectures: Autokratien.

[9] Vgl. dazu auch Arnold Schönbergs Chorwerk Friede auf Erden von 1907 in: Torsten Flüh: Vom Vermögen und Reichtum der Vielstimmigkeit. Zum Jubiläumskonzert des RIAS Kammerchors mit der Uraufführung der Chorkantate World Without End – Von Ewigkeit zu Ewigkeit von Roderick Williams. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Oktober 2018 21:49.   

[10] Siehe auch: Florian Hassel: Es war einmal eine Justiz. In: Süddeutsche Zeitung 21. August 2018, 18:45 Uhr.

[11] Philip Manow: Die Politische Ökonomie des Populismus. Berlin: Suhrkamp, 2018, S. 2 (ohne Seitenzahl).

[12] Ebenda.

[13] Ebenda S. 10.

[14] Ebenda S. 13.

[15] Ebenda S. 10

[16] Vgl. zur Theorie als Literatur und Philipp Felsch auch: Torsten Flüh: Zukunft in der Vergangenheit am Kiebitzweg. 50 Jahre Peter Szondi-Institut an der Freien Universität Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Dezember 2015 22:19.

[17] Christoph Möllers: Friedliche … [wie Anm. 5] S. 16.

[18] Philip Manow: Die … [wie Anm. 11] S. 15.

[19] Ebenda S. 15-16.

[20] Ebenda S. 7.

[21] Ebenda S. 26.

[22] Ebenda S. 38.

[23] Ebenda S. 70.

[24] Ebenda S. 103.

[25] Ebenda S. 131.

[26] Vgl. Torsten Flüh: Verkehrte Sicherheit und die Rückkehr der Rasse. Eine kleine Nachlese zum Tag der Deutschen Einheit, Bündnis Berlin und zur Aktion Deutschland spricht. In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. Oktober 2018 18:41.

[27] Philip Manow: Die … [wie Anm. 11] S. 138. 

Revolutionäres Lesen auf der Straße - Zur Ausstellung Druckerschwärze Roter Stern Revolution an der Litfaßsäule Deutschland 1918/20

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Revolution – Litfaßsäule – Lesen 

 

Revolutionäres Lesen auf der Straße 

Zur Ausstellung Druckerschwärze Roter Stern Revolution an der Litfaßsäule Deutschland 1918/20 in der Staatsbibliothek zu Berlin 

 

Revolutionen leb(t)en von Flugblättern, Plakaten und revolutionären Aufrufen, vom Hörensagen, Gerüchten und Proklamationen. Am Samstag, den 9. November 1918 marschierten organisierte Arbeiter aus den Fabrikhallen der AEG und von Schwartzkopff am Humboldthain über die Gustav-Meyer-Allee, Schering- und Liesenstraße zur Chausseestraße, um an der Maikäferkaserne die Soldaten zur Revolution gegen den Kaiser, seine Regierung und Generäle aufzurufen. An der Ecke zur Wiesenstraße stand ein gusseisernes Pissoir für die Fabrikarbeiter. Man kann sich denken, dass an den Innen- und Außenwänden zahlreiche Plakate und Aufrufe angeklebt waren. Auf dem Rondeel bei Schwartzkopff unter der Eisenbahnbrücke, wo Acker-, Garten-, Liesen-, Schering- und Gerichtstraße zusammentreffen, wird eine gusseiserne Litfaßsäule wiederum neben einem „Café Achteck“ gestanden haben.[1]

 

In der Geschichte der Revolution kommt die Litfaßsäule nicht vor. Dabei wird sie bereits vor der Revolution ein wichtiger Kommunikationsknotenpunkt gewesen sein. Litfaßsäulen wurden in mehreren Lagen plakatiert. Plakate zur Werbung und Politik wie öffentliche Mitteilungen Lage um Lage übereinander geklebt. Es gab noch kein Telefon, kein Smartphone, kein Internet mit Social Media. Wohl überhaupt erstmalig rückt die Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz die aus den Stadtbildern fast verschwundene Schnittstelle der Kommunikation mit einer Ausstellung im frei zugänglichen Foyer ins Interesse. Neben der historischen Revolutionserzählung auf den Stellwänden faszinieren die zeitgenössischen Plakate und Aufrufe in Grafik, Text und Farbe auf den Säulen des Foyers ganz außerordentlich – Druckerschwärze Roter Stern. 

 

 

Die Litfaßsäule ist eine Berliner Erfindung des Druckers Ernst Litfaß, dessen zwar schlichte, doch großflächige Grabstätte sich auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof unweit der von Brecht, Weigel, Becher, Zweig, Mann etc. befindet. Die Säule wurde bereits am 5. Dezember 1854 vom Polizeipräsidenten Karl Ludwig von Hinckeldey als „Annoncier-Säule“ zugelassen. Dann ging sie als Gusseisen-Produkt der Berliner Eisenindustrie in Serie. Bereits während der Kriegsjahre 1870/71 wurden die hochoffiziellen Kriegsdepeschen an ihr plakatiert. Bei den Reichstagswahlen 1932 wurde der Wahlkampf mit Plakaten z.B. der NSDAP noch an der Litfaßsäule für die breite Bevölkerung geführt, wie ein Foto vom 24. April 1932 verrät.[2] Der Maler Georg Scholz portraitierte sich 1926 vor einer Litfaßsäule als Zeugnis der Großstadtmoderne im Stil der Neuen Sachlichkeit.[3] Im Zuge des Spartakusaufstands im Januar 1919 wurde eine Litfaßsäule in der Großen Frankfurter Straße am Alexanderplatz umgestürzt und als Barrikade genutzt.[4] 

 

Das Lesen an der Litfaßsäule wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Berlin eingeübt. Wiederholt werden Lesende vor der Litfaßsäule, oft einfache Leute, zum Bildsujet für das Straßenleben in der wachsenden Großstadt. 1871 malt A. Müller-Schönhausen in Öl auf Malpappe Die Friedensdepesche, wo Kinder, Frauen und Männer unterschiedlicher Stände sich lesend an einer Litfaßsäule drängen.[5] Dass der Maler, das Bild nicht auf teurer Leinwand, sondern auf billiger Malpappe durchaus detailliert ausgestaltete, gibt einen Wink auf die halboffizielle Herkunft des Bildes. Ob alle auf dem Bild Angemalten tatsächlich lesen konnten, dürfte fraglich sein. Der Eine oder Andere las vermutlich laut vor, woraufhin die Neuigkeit in der Bevölkerung mündlich kursierte. Daraufhin wollten sich sicher Einige vom Gehörten auf der Litfaßsäule mit eigenen Augen überzeugen. Die Litfaßsäule war ebenso sehr Faszinosum wie Kommunikationsknotenpunkt.   

 

An der Litfaßsäule zu lesen, muss etwas von einem Versteckspiel in der Öffentlichkeit gehabt haben. Eine Erinnerung daran vermitteln die Säulen im Foyer. Gewiss wollte nicht jeder beim Lesen einer Annonce beobachtet werden. Lesen ist in gewisser Weise eine private oder gelehrte Angelegenheit. Das Lesen aber an der Litfaßsäule geschah – und geschieht vielleicht noch immer – in der nackten Öffentlichkeit, wobei sich Lesende auf entgegengesetzten Seiten der Säule nicht sehen können. Man will dem anderen Lesenden gar nicht in die Augen schauen. Hier ein Ellenbogen, dort eine Hutkrempe. Sich gemeinsam und doch getrennt lesend an der Litfaßsäule vor einem Text drängen, wird schon fast ein intimer Austausch gewesen sein – 1871 wie 1918 wie 2018. Auf keinen Fall sollten die Anderen wissen, was man heimlich in der Öffentlichkeit las. Die frühe Annoncier-Polka von Kéler Béla aus dem Jahr 1855 bleibt ohne Text.[6]

 

Erstaunlicher Weise ist dem Spaziergänger Walter Benjamin und dem Agitator Bertolt Brecht die Litfaßsäule entgangen. Keine Erwähnung in Einbahnstraße (1928) von Benjamin. „Tankstelle“, „Frühstücksstube“, „Souterrain“, ja, alles da. Aber keine Litfaßsäule. Sie muss für beide durchaus präsent gewesen sein – und wird übersehen. Vielleicht war sie zu selbstverständlich, zu normal, unordentlich und ein bisschen schmuddelig. Der andere große Spaziergänger im Berlin der 20er Jahre Franz Hessel erwähnt die Litfaßsäule ebenfalls nicht. Doch Joachim Ringelnatz machte aus ihr und auf sie im verallgemeinernden Plural 1923 ein Gedicht, das 1927 in Reisebriefe eines Artisten abgedruckt wird.[7] Ausgerechnet im Genre des humorvollen, halbernsten Gedichts erhalten Die Litfaßsäulen Beachtung. 

Es stehen die Litfaßsäulen 

Verstreut, den Leuchttürmen gleich, 

Und lassen vom Wind sich umheulen 

Und werden im Regen ganz weich.

 

Und rufen und locken und preisen 

Aus buntem und grellem Papier 

Und drohen und stechen und beißen 

Und lügen noch schlimmer als wir.

 

In 8 Strophen mit 32 Versen nähert sich Ringelnatz den Litfaßsäulen. Das ist gerade nicht zu viel und auch nicht zu wenig. Denn Ringelnatz hat wirklich hingeschaut, wie ein Mann die Leiter an die Säule legt und die Lagen der Plakate abreißt. Auf erstaunlich genaue Weise verarbeitet Ringelnatz eine Praxeologie der so oft übersehenen, geringgeschätzten Litfaßsäulen in seinem Gedicht. Dabei reimt sich spaßig „heiter“ auf „Leiter“ und „begeistert“ auf „bekleistert“. Keinesfalls sind die Passanten und Leser „begeistert“, vielmehr ist der Plakatierer von seiner zügigen Arbeit, dem Bekleben der Litfaßsäule „begeistert“. Es gibt eine gewisse Schräglage des Sinns im Gedicht, die amüsiert. 

Früh lehnt ein Mann eine Leiter 

An das, was Litfaß erfand. 

Er reißt ihr vandalisch doch heiter 

In Fetzen das bunte Gewand.

 

Nachdem er sie darauf bekleistert – 

Als brächte ihn Nacktes in Zorn – 

Klebt er ihr wieder begeistert 

Viel Buntes auf Hinten und Vorn.

 

Die Litfaßsäule wird bei Ringelnatz zum Schauplatz des anderen Stadtromans, wenn das poetisch-spaßig erzählende Ich genau jene Lese- und Erzählpraxis in Versen und Strophen formuliert, die bislang kaum beachtet worden war. Der Mann, bezeichnenderweise, liest „das ernst ohne Pause“, um es später seiner Frau zu erzählen, damit man dann 1923, ca. 4 Jahre nach der Novemberrevolution, wieder durch die Straßen geht, und der Mann möglicherweise zeigt, wo er was gelesen hat. Die Hommage an die Litfaßsäulen endet mit der Mahnung, dass „wir nicht etwa achtlos vorübergehn“ sollten an den standhaften Säulen. Doch genau diese Achtlosigkeit war selbst bei literarischen Spaziergängern bereits eingerissen. 

Theater ... – Auktion ... – Zigaretten ... – 

Wohltätigkeits... – Raubmord ... – Und Sport 

Proteste ... – Amtliche ... – Betten ... – 

Kurz alles in Bild oder Wort.

 

Ich lese das ernst ohne Pause. 

Mich interessiert so was sehr. 

Und meiner Frau sag’ zu Hause 

Ich alles dann auswendig her.

 

Ihr Sinn für Romane, Gedichte 

Und Zeitungen ist nicht so groß. 

Sie hört meine Litfaßberichte, 

Und abends ziehn wir dann los.

 

Und wie, wie in Sturm und Wellen, 

Die Litfaßsäulen starr stehn, 

So sollen am Aktuellen 

Auch wir nicht etwa achtlos vorübergehn.

 

Alles wird „Bild oder Wort“ an der Litfaßsäule, reimt Ringelnatz auf „Sport“. Und genau jener Prozess lässt sich nun im Foyer der Staatsbibliothek beobachten. Alles wird in einer Verknappung von Bild und Wort auf die Säulen geklebt. Verknappung, Einfachheit und Zuspitzung sind die Modi der Texte und Bilder auf der Litfaßsäule. Sie „drohen und stechen und beißen/Und lügen noch schlimmer als wir“, schreibt Ringelnatz. Das gilt insbesondere für die Anschläge um 1918/19. Auf der Litfaßsäule haben, wie man heute sagt, hatespeech und Fake News ihren Platz: „Spartakistische     Pressefreiheit“ und dazwischen Brände, Rauchschwaden, ein spartakistischer Arbeiter, der über „Berl. Tageblatt“, „Vorwärts“, „Voss“ und „Berl. Volkszeitung“ personifiziert in Männern in Anzügen trampelt. Ein anderes: „Kameraden! … Helft uns! Gegen den Mordbrenner Spartakus! Laßt Eure Kameraden nicht im Stich! …“ Dann: „Denkt an Liebknecht! Wählt Spartakus!  

 

Das Spiel aus Bild, Wort, Ausrufezeichen und Farben schlägt durch auf den Litfaßsäulen der Novemberrevolution. In der politisch zugespitzten Zeit der Revolution verwandelt sich die Sprache der Litfaßsäule in eine befehlsförmige. Die Inflation der Ausrufezeichen heizt geradezu die Stimmung an. Kameraden, Arbeitern – „Arbeiter!“ –, Genossen, „An das deutsche Volk!“, „Münchner!“, „Arbeiter und Soldaten!“, allen wird mit dem Ausrufezeichen befohlen. Das fällt auf. Von den Befehlen hin- und hergerissen, gerieten die Befohlenen sicherlich ins Schwanken. Welchem Befehl sollte man denn nun folgen? Wahrscheinlich war und ist genau diese widerstreitende Befehlsförmigkeit der Sprache ein entscheidendes Moment der Revolution. Auf der Litfaßsäule werden regelrechte Parolen-Gefechte mit einer Überbietung an bis zu 3 Ausrufezeichen ausgetragen:

          Liebknechts Parole:

Und willst Du nicht mein Bruder sein,

dann schlag ich Dir den Schädel ein!!! 

 

Die Revolution findet auch deshalb an der Litfaßsäule statt, weil kein Zensor mehr das Plakatieren regelt. Nicht mehr der Staat und die Polizei verfügen über ein Befehls- und Gewaltmonopol, sondern plötzlich befehlen alle durcheinander und rufen zur Gewalt auf. Reinhard Hildebrandt hat kürzlich mit sich teilweise vehement widersprechenden „Beschreibungen der Abläufe“ an der „Maikäferkaserne“, der Kaserne des Garde-Füssilier-Regiments in der Chausseestraße, auf die „Lücken“ und „Widersprüche“ in „zeitgenössischen Zeitungsartikeln“ hingewiesen.[8]Vossische Zeitung, Berliner Tageblatt, Wolffsches Telegraphen-Büro, das vom „Arbeiter- und Soldaten-Rat“ besetzt worden war, und Zeitzeugen berichten widersprüchlich. In der DDR wird die Version des spartakistischen „Arbeiter- und Soldatenrats“ als offizielle Geschichtsschreibung übernommen.[9] 1958 zum 40jährigen Jubiläum wird auf dem Grundstück der Chausseestraße 121 ein Spartakus-Denkmal zur Erinnerung an die Anwaltskanzlei der Liebknecht-Brüder im zerstörten Haus aufgestellt. 

Spartakus 

das heisst 

Feuer und Geist 

das heisst 

Seele und Herz 

das heisst 

Wille und Tat 

der 

Revolution 

des 

Proletariats. 

Karl Liebknecht 

Einige Anschläge bieten eine grafisch ausgeklügelte Befehlserzählung, die gemeinsame, revolutionäre Aktionen generieren sollen. In der Ausstellung im Foyer bleibt unklar, wie genau und ob überhaupt den Anschlägen gefolgt wurde. Oft werden „Massen“ angesprochen, doch dann ist in der Geschichtsschreibung von diesen kaum etwas zu lesen. Wann war „Heute nachmittag pünktlich 4 Uhr“? War das am 9. November? Wie mit dem nie geklärten ersten Toten, dem Arbeiter des Lokomotivbauers Schwatrzkopff Erich Habersaath, an der Maikäferkaserne entzieht sich das revolutionäre Geschehen der Beschreibung. Im Nachhinein wird das Ereignis litfaßsäulenartigen in mehreren Lagen überklebt und überschrieben. 

Arbeiter und Soldaten! 

Heute nachmittag pünktlich 4 Uhr 

findet eine 

Öffentliche 

Versammlung 

auf dem Schloßhof statt. 

In derselben sollen sehr wichtige Maßnahmen besprochen 

werden. Es wird von drei Stellen aus gesprochen. 

Arbeiter, Soldaten erscheint in Massen. 

                   Der Arbeiter- u. Soldatenrat. 

Die Matrosen bitten wir, sich nach der Versammlung 

im Fürstenhof, Stobenstraße, einzufinden.

  

Ein Extrablatt vom Sonnabend, 9. November 1918, 21 Uhr aus der Braunschweigischen Landeszeitung wird „Amtlich“ auf die Litfaßsäulen gekleistert worden sein: „Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Thron zu entsagen. Der Reichskanzler bleibt noch solange im Amte, bis die mit der Abdankung des Kaisers, dem Thronverzicht des Kronprinzen des deutschen Reiches und von Preußen und der Einsetzung der Regentschaft verbundenen Fragen geregelt sind…“ Man weiß heute, dass Kaiser, Kaiserin und Kronprinz ihr Leben lang davon träumten, mit oder ohne Adolf Hitlers Hilfe wieder an die Macht und auf den Thron zu gelangen. Gleichzeitigkeiten und zeitliche Überschneidungen führten vermutlich dazu, dass die Anschläge schnell veralteten, weshalb die Litfaßsäule ein ebenso schnelles, flüchtiges wie schnell veraltendes Medium in revolutionären Zeiten gewesen sein wird. Philipp Scheidemann hatte bereits um 14:00 Uhr vom Westbalkon des Reichstagsgebäudes die Republik ausgerufen. Um 16:00 Uhr rief Karl Liebknecht am Berliner Schloss die „freie sozialistische Republik Deutschland“ aus.[10]

 

„Berliner! Schützt Euch und Eure Familie! Meldet Euch zur Einwohnerwehr!“ Das Bürgertum nutzte die Litfaßsäule als Massenmedium in der Revolution offenbar ebenfalls. Dazu die Zeichnung eines Bürgers im Anzug mit einem großkalibrigen Jagdgewehr vor einer Frau mit Kind, die sich in eine Ecke kauern. An der Tür ist bereits ein Arbeiter erschossen niedergesunken. In der Flucht noch ballt ein anderer die Faust und ein dritter Arbeiter oder Soldat drängt zur Tür hinaus. Das durchaus bürgerliche Szenarium inszeniert einen Übergriff der Arbeiter und Soldaten in ihre Privaträume. Bild und Wort – „Einwohnerwehr“ – stellen eine Angst dar, die in der Geschichtsschreibung so nicht überliefert ist. Handelt es sich um eine Falschmeldung, um die Stimmung anzuheizen?  

 

Die Litfaßsäule als Ort der Staatsmeldung und Besatzungspolitik kehrt noch einmal in einer Radioreportage der Besetzer am 30. Oktober 1939 mit einer „Reportage vor einer Litfaßsäule in Krakau“ wieder. Die Litfaßsäule wird zum Ort der Normalität im besetzten Polen mit Filmplakaten und Schauplatz der Judenverfolgung im sogenannten Generalsgouvernement. Der Besatzungsreporter, der sich „deutscher Rundfunksprecher“ nennt, wählt die Litfaßsäule nicht nur, um über Krakau zu berichten, sondern um die Besetzung des öffentlichen Raumes durch die deutsche Wehrmacht als Gesetzgeber zu inszenieren. Er „beschäftigt“ sich mit dem „Inhalt und Plakaten“ der Litfaßsäule. Die Behörden und die Verwaltung Krakaus informieren die Bevölkerung durch sie. Eine ganze Reihe von „deutschen Filmen“ wird auf der Litfaßsäule mit einem Zeitungs- und Zigarettenkiosk angepriesen. Dann kommt die „ernste Seite einer solchen Säule“: „Verordnungen des Stadtpräsidenten, Verordnungen des Generalgouverneurs“: „Kennzeichnung der Juden im Gebiet Krakau …“[11] 

 

Die Radioreportage des seit 1. Januar 1939 Großdeutschen Rundfunks, der „deutsche Rundfunksprecher“ spricht nur von deutschem Rundfunk, vor einer Litfaßsäule verknüpft die Lebenswirklichkeit der Hörer in Berlin und dem Deutschen Reich mit der von Krakau. Die Litfaßsäule, obwohl sie ein wenig anders aussieht, wird zur Schaltstelle der deutschen Normalität in Polen. Und der Rundfunksprecher macht genau das, was so häufig an der Litfaßsäule geschah. Er liest vor. Was sollte daran falsch sein?! – Über die Litfaßsäulen, die immer und überall in den Städten da sind, wird kurz nach dem Überfall auf Polen zwischen dem 1. September und 6. Oktober 1939 die größtmögliche Normalität hergestellt. Auf diese Weise wird die Litfaßsäule zum Ort des Schreckens durch Normalität.  

 

Torsten Flüh

 

DRUCKERSCHWÄRZE ROTER STERN 

Revolution an der Litfaßsäule 

Deutschland 1918/20 

bis 15. Dezember 2018 

Mo-Fr 9-21 Uhr 

Sa 10-19 Uhr 

Staatsbibliothek zu Berlin 

Haus Potsdamer Straße 33 

10785 Berlin

__________________________



[1] Die Überreste beider Pissoirs wurden nach eigener Augenzeugenschaft erst um 2004 beseitigt. Ältere Berliner konnten sich gut an beide Anstalten erinnern. Nach 1945 lag vor allem das Rondeel an der Grenze zwischen Französischem und Sowjetischen Sektor bzw. an der Mauer der DDR.

[2] Siehe Litfaßsäule mit NSDAP-Wahlplakat 1932 im Bundesarchiv Wikipedia

[3] Georg Scholz: Selbstportrait vor der Litfaßsäule Wikipedia.

[4] Siehe Sabine Reichwein: Die Litfaßsäule. Die 125jährige Geschichte der Litfaßsäule. Berlin: Presse- und Informationsamt, 1980, S. 39.  

[5] A. Müller-Schönhausen: Die Friedensdepesche. Berlin 1871. Stadtmuseum Berlin Online Sammlung.

[6] Siehe Sabine Reichwein: Die … [wie Anm. 3] S. 27.

[7] Joachim Ringelnatz: Die Litfaßsäulen. In: ders.: 103 Gedichte. Berlin: Rowohlt, 1933 (zuerst 1927), S. 14-15. (Digitalisat Uni Bielefeld)

[8] Reinhard Hildebrand: Der Sturm auf die ‚Maikäfer‘-Kaserne am 9. November 1918. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, 114. Jahrgang, Heft 4, Oktober 2018, S. 346.

[9] Ebenda S. 347.

[10] Ebend S. S. 346.

[11] 1939-10-30 - Reportage vor einer Litfaßsäule in Krakau, Generalgouvernement (2m 58s) (Archive.org)

Von Haltung, Heimat und Herabwürdigung - Ulrike Lunacek, ehem. Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, eröffnet die Rainbow Lectures

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Europa – Österreich – Recht 

 

Von Haltung, Heimat und Herabwürdigung 

Ulrike Lunacek, ehem. Vizepräsidentin des Europarlaments, eröffnet die Rainbow Lectures in der neuen taz Kantine 

 

Mit der Vizepräsidentin des Europaparlaments von 2014-2017, Ulrike Lunacek, aus Wien wurden die 6 Rainbow Lectures anlässlich des 150. Geburtstags von Magnus Hirschfeld und der Erinnerung an den 100. Jahrestag der Eröffnung des Instituts für Sexualwissenschaft im Juli 1919 hochkarätig eingeleitet. Ulrike Lunacek war 1995 die erste Politikerin Österreichs, die bei ihrer ersten Wahl zum österreichischen Nationalrat ihr Lesbischsein öffentlich machte. Das ist ungefähr 23 Jahre her, was wirklich nicht so lange ist, wenn Lesben, Schwule, Bis, Trans und Inter heute offenbar meinen, man könne einfach mal eine rechte-autoritäre Partei zur Sicherheit wählen. Auf LSBTI*s ist politisch durchaus kein Verlass und das ist peinlich genug. Bei den Nationalratswahlen 2017 erreichten die Grünen 3,8 % und flogen aus dem österreichischen Parlament.

 

Ulrike Lunaceks Rainbow Lecture fiel zwanglos und biografisch, politisch und informativ sowie kämpferisch aus. Sie spannte einen Bogen von ihren lesbischen Aktionen mit SAPHOS TRA(U)M bis zu ihrem Termin als Vizepräsidentin mit Papst Franziskus, dem sie mit Haltung doch diplomatisch einen Regenbogenschal aus Südamerika überreichte. Die Farben des Friedens und der LSBTI*s nahm das Oberhaupt der Katholischen Kirche gleichermaßen an. Weil sie Dolmetscherin für Spanisch ist, konnte sie dem Papst das mehrdeutige Geschenk durchaus vermitteln. Sie berichtete von der Arbeit der LSBTI*-Intergroup im Europaparlament und ließ nicht unerwähnt, dass ihr Politiker angehören, die nicht offen schwul oder lesbisch leben, was eben einen Wink auf den immer noch sensiblen Bereich der Vereinbarkeit von politischer Karriere und sexueller Praxis in Europa gibt. Lunaceks Wahlspruch für ihre Rainbow Lecture – „Es ist normal, anders zu sein“ – harrt insofern nach wie vor seiner Einlösung.

 

Die Rainbow Lectures werden von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V. (MHG) mit Raimund Wolfert und der Initiative Queer Lectures e. V. (IQN) mit Jan Feddersen in der neuen taz Kantine in der Friedrichstraße 21 organisiert. Die Veranstaltung bei freiem Eintritt war gut besucht. Mit den Rainbow Lectures geht es darum, einen europäischen Rahmen der Rechte von LSBTI*s herzustellen. Durch Katarzyna Remin wird die nächste Veranstaltung von der Vertreterin der größten polnischen LSBTI*-Organisation, Kampania Przeciw Homofobi am 22. Januar 2019 um 19:00 Uhr, bestritten. Denn in „Polen blüht ein neuer Autoritarismus“[1], der national, rassistisch und katholisch gefärbt ist. Anna Hájiková von der University of Warwick, Großbritannien, wird ebenso wie Patrick Hinze und Aeyal Gross von der Universität in Tel Aviv sowie Dennis Altmann von der La Trobe University in Melbourne, Australien, von aktuellen Entwicklungen zu LSBTI*-Rechten berichten. Damit versprechen die Rainbow Lectures in der taz Kantine ein hohes internationales Niveau.

 

Europa und das Europaparlament werden in ihrer Arbeit nach wie vor unterschätzt. Dabei werden die rechtlichen Aushandlungsprozesse, wie beispielsweise in der Besprechung Das Flüssige in der Politik (2016) dargestellt, von maximaler Transparenz begleitet. Doch die rechtlichen Aushandlungsprozesse und langwierigen Debatten haben ein Darstellungsproblem in einer von Twitter- und Facebook-Meldungen beherrschten Öffentlichkeit. Die Prozesse sind komplex und haben meistens einen Informationsnachteil gegenüber Meldungen aus der nationalen Politik. Europa und das Europaparlament sollten nicht nur mit staubtrockenen Meldungen von aberwitzigen Brexit-Verhandlungen präsenter in den Medien werden. Bis auf die Nominierungswettbewerbe der Spitzenkandidaten für die Europawahl 2019 kommt Europa als politischer Schauplatz kaum in den Medien vor. Deshalb war es nun in dem von Ulrike Lunacek gehaltenen Vortrag wichtig und aufschlussreich, aus erster Hand von einer lesbischen Frau etwas über den Alltag im Europaparlament zu erfahren.

 

Die aktuelle, demokratieskeptische Bewegung des Autoritarismus in Europa hat u.a. einen Bezug zum Rechtsempfinden und dem Begehren nach dem Recht, das dann autoritär umgesetzt werden soll.[2] Das Recht lässt sich insofern als eine Gefühlslage beschreibe, was Juristen und Rechtsphilosophen eher fremd ist, in der aktuellen Politik indessen eine zunehmende Rolle spielt. Die LSBTI*-Bewegung hat dahingehend nicht zuletzt mit Ulrike Lunacek in den letzten 30 bis 50 Jahren viel zu einer gesetzlich verbrieften Gleichberechtigung beigetragen. Und zwar in weiten Teilen Europas. Rechte für LSBTI* waren und sind Freiheitsrechte. Sie nehmen keinem anderen Bürger irgendein Recht oder eine staatliche Leistung. Es muss niemand schwul, lesbisch, trans oder inter* werden. Aber es war und ist wichtig, dass ihnen keine Rechte wie Ehe und Adoption vorenthalten werden. Tatsächlich gehört die LSBTI*-Bewegung nicht nur zu den buntesten und vielfältigsten politischen Bewegungen der Rechtsgeschichte, vielmehr auch zu den friedfertigsten. Es ging politisch nie darum, einen/eine Hetero „umzudrehen“. Das war und ist eine Privatangelegenheit.

 

Warum erhielt Ulrike Lunacek 2014, wie sie eher en passant berichtete, vor einer Abstimmung im Europaparlament 40.000 E-Mails mit haltlosen Falschmeldungen und herabwürdigenden Drohungen? Die Herabwürdigung gehört genuin zum politischen Aktionsrepertoire des Autoritarismus. Sie setzt das Ich auf paradoxe Weise in eine Position des Rechts. Denn gerade, weil der, sagen wir E-Mail-Schreiber, sich rechtlos oder entrechtet fühlt, muss er den anderen herabwürdigen, um die Position des Rechts zu erlangen. Es ist letztlich ein leeres, hohles Recht, das der Herabwürdiger erlangt. Schließlich hat die Herabwürdigung einen Ad-hoc-Charakter, weil sie nur destruktiv und entwertend für kurze Zeit funktionieren kann. Um die Position des Rechts durch die Herabwürdigung zu erhalten, muss sie permanent wiederholt werden, sonst müsste der Herabwürdiger die Haltlosigkeit seines Tuns erkennen. Die Herabwürdigung entrechtet den anderen, um ein Recht an ihm und seiner Position zu erlangen. Wie gesagt, eine paradoxe Rechtsposition, die in der LBTI*-Bewegung nie eine Rolle gespielt hat, obwohl einzelnen Schwulen und Lesben etc. ganz bestimmt nicht die Praxis der Herabwürdigung fremd ist.

 

Der Berliner Magnus Hirschfeld (1868-1935) und der Wiener Sigmund Freud (1856-1939) gingen mit der Sexualwissenschaft der eine und der Sexualtheorie der andere unterschiedliche Wege, wie bereits anlässlich des Festakts zum 150. Geburtstag Hirschfelds im Mai deutlich gemacht werden konnte.[3] Doch es ist Freud, der die Herabwürdigung in Bezug auf die „Sexualtheorie“ anspricht. 1923 schreibt er „Eine Einschaltung in die Sexualtheorie“ unter dem Titel Die infantile Genitalorganisation. Freud hatte seit 1905 seine Sexualtheorie mehrfach überarbeitet und erweitert. Die letzte Auflage war 1922 erschienen. Knapp ein Jahr später kommt es zur ziemlich kurzen „Einschaltung“.[4] Sie formuliert erstmals den Begriff der Herabwürdigung im Kontext von Sexualität, Homosexualität und Phallus. 

Es ist auch bekannt, wieviel Herabwürdigung des Weibes, Grauen vor dem Weib, Disposition zur Homosexualität sich aus der endlichen Überzeugung von der Penislosigkeit des Weibes ableitet. Ferenczi hat kürzlich mit vollem Recht das mythologische Symbol des Grausens, das Medusenhaupt, auf den Eindruck des penislosen weiblichen Genitales zurückgeführt.[5]

 

Der Begriff der Herabwürdigung ist in der Einschaltung neu im Vokabular Sigmund Freuds und der wiederholten „Einschaltungen und Abänderungen des Textes“[6] seiner Sexualtheorie. Gibt die Herabwürdigung doch hier einen Wink auf deren psychosexuelle Verkopplung von Phallus und Penis ebenso wie von Begehren, Recht und Macht. Die Herabwürdigung als problematische Redewendung zur Behauptung eines Rechts entspringt einer „infantilen Genitalorganisation“, zu der die Kastrationsangst gehört. Sie vollzieht letztlich eine Regression als politische Strategie. Dass Sigmund Freud erst relativ spät in seiner Sexualtheorie und der Psychoanalyse die Herabwürdigung als beachtenswert auffällt und diese Benennung vornimmt, mag ein Hinweis für ihre Verschachteltheit sein. Sie grenzt sich deutlich gegen die viel häufiger von ihm thematisierte „Schmähung“ ab. Schmähungen kommen in der Traumdeutung ebenso wie in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten vor. Doch auf diese Ebene gelangt die regressive Herabwürdigung nicht, denn die Schmähung wird im Traum durchaus witzig und empathisch begleitet, während die Herabwürdigung keine Empathie kennt. 

Wenn mein Traum im Vergleiche zu seinem latenten Inhalt in diesem Punkte entstellt, und zwar ins Gegensätzliche entstellt ist, so dient die im Traume manifeste Zärtlichkeit dieser Entstellung oder, mit anderen Worten, die E n t s t e l l u n g erweist sich hier als absichtlich, als ein Mittel der V e r s t e l l u n g. Meine Traumgedanken enthalten eine Schmähung für R.; damit ich diese nicht merke, gelangt in den Traum das Gegenteil, ein zärtliches Empfinden für ihn.[7]

 

Ulrike Lunacek unterstrich in ihrer Rainbow Lecture die positiven Gemeinsamkeiten der LGBTI*-Geschichte seit den 1920er Jahren bis zum Austrofaschismus und seiner Vollendung im Nationalsozialsozialismus. Sie erinnerte dabei an den Textdichter von Wienerliedern wie Schlagern Erich Meder, der bis zu seinem Tod am 18. September 1966 sein Schwulsein versteckt habe leben müssen. Sein „Rechtsnachfolger“ ließ erst im September 2017 eine Gedenktafel an dem Haus enthüllen, in dem Meder bis zu seinem Tod gelebt hatte. 1936 im Austrofaschismus texte er seinen wortlängenrekordverdächtigen Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän, für den Charles Loubé die Musik komponierte. 1948 kam das Erfolgsheimatlied Du bist die Rose vom Wörthersee hinzu. „Holiolioliholie, holioliolie.“ Insgesamt textete er über 1.300 Titel für Komponisten wie Peter Igelhoff, Nico Dostal und Peter Kreuder, um nur diese zu nennen.

 

Der „Rechtsnachfolger“, Dr. Dr. Wolfgang Bacher, nennt Erich Meder als Texter des Fox-trots Ich möcht so gerne wissen, ob sich die Fische küssen (Maly-Haas-Meder), der sein erster Liedtext gewesen sein soll.[8] Er ist gleich in mehreren Versionen mit Max Hansen, Will Glahé, Peter Igelhoff und Doddy Delisson aus der Zeit um 1934 im Netz überliefert. Die Frage danach, ob sich die Fische unter Wasser küssen, lässt sich in mehrere Richtungen auflösen. Einerseits soll Max Hansen als Kabarettist die Homosexualität bei Adolf Hitler nahegelegt haben, denn das küssen bleibt ja unsichtbar. Andererseits kann der Text als eine verallgemeinerbare Praxis der in der Öffentlichkeit unsichtbaren Homosexualität verstanden werden. Sie küssen trotzdem. 

So nach Stunden vier, 

Sag' ich plötzlich ihr: 

"Du, ich werd' verrückt, 

Weil mich was bedrückt!

 

Ich möcht' so gerne wissen, 

Ob sich die Fische küssen – 

Unter'm Wasser sieht man's nicht, 

Und über'm Wasser tun sie's nicht!

 

Es werden doch die Ludern 

Nicht nur im Wasser rudern! 

Einmal muss so'n böses Tier 

Doch auch küssen, so wie wir!

 

Aber du weißt gut Bescheid da, 

Weil du doch Fischblut hast. 

Denn sonst hättest du mich heut' ja 

Geküsst, 'ne Stunde fast!

 

Drum möcht' ich von dir wissen, 

Ob sich die Fische küssen – 

Ich glaub', dass jeder Fisch gern küsst, 

Wenn es nicht ein Karpfen ist!" 

 

 

Ulrike Lunacek erzählte von Erich Meder als einem für Österreich durchaus typischen Beispiel. Der Fall Erich Meder (1897-1966) dürfte vergleichbar mit dem von Bruno Balz (1902-1988) sein[9], der unter vergleichbar starken Repressalien als Homosexueller im Nationalsozialismus und Nachkriegs-Österreich bzw. -Deutschland gelitten hat. Der Rechtsnachfolger aus Salzburg-Heuberg verzichtet nach wie vor darauf, auf die Homosexualität Meders hinzuweisen. Immerhin sind auf seinem Grabstein 2 weitere Männernamen eingemeißelt. Wahrscheinlich gehört das zur Spannbreite der Darstellungsmöglichkeiten von Homosexualität in Wien und Österreich. Möglicherweise könnte es heute die IDENTITÄT manches Wieners und Österreichers bedrohen, dass die schönsten Liebes- und Heimatlieder – Über den Dächern von Wien – Es klopft mein Herz bum bum – Lügen haben hübsche Beine (Heimatfilm 1956)[10]– ein Schwuler gedichtet hat! Ulrike Lunacek hat während ihrer Amtszeit als Vizepräsidentin Conchita Wurst ins Europäische Parlament nach Brüssel eingeladen, wo diese allerdings nicht im Plenarsaal sprechen durfte. Während es aktuell geradezu Mainstream ist, Angst statt Mut zu schüren, hat Lunacek seit den 90er Jahren danach gehandelt, „Mut statt Angst zu fördern“.

 

Die Arbeit der Intergroup on LGBTI Rights des Europäischen Parlaments wurde von Ulrike Lunacek genauer vorgestellt. Die LGBTI Intergroup ist die größte von 28 Intergroups und versammelt 150 überwiegend heterosexuell orientierte Mitglieder des Parlaments. Sie überwacht die Arbeit der Europäischen Union, die Rechte von LGBTIs in den Institutionen der Europäischen Einrichtungen in Brüssel, Luxemburg, Straßburg und Wien. Weiterhin mischen sie sich aktiv in die Verbreitung von Menschenrechten für LGBTIs in den Mitgliedsstaaten ein und erinnern regelmäßig andere Länder ihrer Pflicht LGBTIs Rechte in Kandidatenstaaten der EU, aber auch in Afrika, der Karibik und dem Pazifikraum nachzukommen. Sie arbeiten daran, Reporte, Beschlüsse und Änderungen für LGBTI in EU Texte zu transformieren. Auch die Teilnahme an Pride Märschen und Konferenzen gehört zu den Werkzeugen, mit denen sich die Intergroup in Europa und weltweit für die Rechte von LGBTI Rights oft recht effektiv einsetzt.[11] 

 

Lunacek berichtete weiterhin von EU-Botschafter-Konferenzen, auf denen LGBTI Themen und Rechte vermittelt werden. Doch selbst in der Europäischen Union lassen sich die LGBTI-Rechte in immer verteidigen, wie Ungarn zeigt. Gerade Viktor Orbáns ideologischer Feldzug gegen den Masterstudiengang Gender Studies, der im Oktober seinen traurigen Höhepunkt erreichte,- Ungarn verbannt Geschlechterforschung aus den Unis (Die Zeit) –, zeigt, wie viel oder wie wenig das Europäische Parlament und die LGBTI Intergroup gegen den Autoritarismus in Europa verrichten können. Natürlich will Viktor an seiner infantilen Geschlechtsorganisation festhalten, weil sie ihm Macht verspricht. In gewisser Weise will Viktor niemals erwachsen werden.

 

Die erste Rainbow Lecture endete, wie sie in diesen Zeiten ehrlicher Weise nur enden kann, nämlich mit Ulrike Lunaceks kämpferischen Appell, sich gegen jene zu wappnen, die wie die aktuelle Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) die Ehe für alle rückgängig und die LSBTI-Rechte einschränken wollen. Da tut sich dann gerade bei der Bildungsministerin der GroKo ein riesiges Bildungsloch auf, das man nicht für möglich gehalten hatte. Lunacek hatte am 4. Dezember 2017 bei der Wahl des österreichischen Bundespräsidenten mit einem schwulen Kollegen die Auszählungen erwartet, als dieser zu ihr sagte, wenn der Hofer gewinne, er wohl nicht mehr händchenhaltend mit seinem Freund auf der Straße gehen könne. Daraufhin habe sie ihn heftig kritisiert, dass er so seine errungenen Rechte niemals preisgeben dürfe. Schwule haben offenbar sehr leicht Haltungsprobleme, wenn die Gefährdung der Wellnesszone droht.

 

Die Bildungsministerin Anja Karliczek aus der 52.037 Einwohner zählenden Mittelstadt Ibbenbüren im Regierungsbezirk Münster könnte man daran erinnern, dass am 29. April 1972 in Münster die allererste Gay Pride als Folge der Ausstrahlung von Rosa von Praunheims Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Gesellschaft in der er lebt am 31. Januar 1972 in den 3. Programmen der ARD in Deutschland stattgefunden hat. Das und das ganz besonders sollte zum regionalen Geschichtswissen einer Bildungsministerin aus Ibbenbüren gehören. Die deutsche Gay Pride begann in der Universitätsstadt Münster. Es gibt Geschichte, die vielleicht viele Schwule nicht kennen wollen, die aber bei Haltungsproblemen zur Therapie beitragen kann. - Und dann hält Ulrike Lunacek eine Werbekarte für die Europawahl am 26. Mai 2019 in den Regenbogenfarben hoch, verteilt sie im Publikum und lädt zur Europride am 15. Juni 2019 nach Wien ein. 

 

Torsten Flüh 

 

Nächste Rainbow Lecture: 

Katarzyna Remin 

Zwei Schritte vor und einen zurück 

Wie die polnischen Lesben und Schwulen 

trotz religiösem Rechtsruck mit der 

konservativen Gesellschaft ins 

Gespräch kommen    

22. Januar 2019, 19:00 Uhr 

Eintritt frei 

taz Kantine 

Friedrichstr. 21 

10969 Berlin-Kreuzberg 

U-Bahnhof Kochstraße oder U-Bahnhof Hallesches Tor 

_______________________________ 



[1] Rainbow Lectures in Berlin: Magnus Hirschfeld zum 150. Geburtstag: Internationale Vorträge zu Fragen der queeren Zeit. Berlin, Flyer, 2018.

[2] Vgl. zur Diskussion von Autoritarismus und Populismus: Torsten Flüh: Vom Wandel der Verfassung und der Schrecken des Populismus. Christoph Möllers‘ Mosse-Lecture zu Autokratien, Philip Manows Die Politische Ökonomie des Populismus und ein Wetterbericht. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. November 2018 17:09.

[3] Siehe: Torsten Flüh: Gefeierte Enden der Sexualwissenschaft. Zum Festakt für Magnus Hirschfelds 150. Geburtstag im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ Berlin 18. Mai 2018 16:46.  

[4] Sigmund Freud: Die Infantile Genitalorganisation (Eine Einschaltung in die Sexualtheorie). In: ders. Studien zur Psychoanalyse der Neurosen aus den Jahren 1913-1925. Leipzig – Wien – Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1926, S. 140-146.

[5] Ebenda S. 144. (Digitalisat)

[6] Ebenda S. 140.

[7] Sigmund Freud: Traumdeutung. (Dritte vermehrte Auflage) Leipzig/Wien: Franz Deuticke, 1911, S. 103-104.

[8] Siehe: Wolfgang Bacher: Erich Meder Sein Leben auf www.ErichMeder.at

[9] Zu Bruno Balz siehe: Torsten Flüh: Der Wind, das Foto und Bubi. Verzaubert in Nord-Ost – Queer History Ausstellung in Berlin-Pankow. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Juni 2010 23:08.

[10] Lügen haben hübsche Beine. Österreich 1956, Regie: Erik Ode, Musik: Hans Lang, Liedtexte: Erich Meder (YouTube).

Wie geht Sein, wie geht Leben? - 20 Jahre aufbruch, Gefangenentheater in der Jugendstrafanstalt Berlin spielt Hamlet

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Familie – Hamlet – Geschlecht 

 

Wie geht Sein, wie geht Leben? 

20 Jahre aufbruch, Gefangenentheater in der Jugendstrafanstalt Berlin spielt Hamlet 

 

Wer in der Jugendstrafanstalt Berlin eine Haftstrafe verbüßt, hat schon einmal ganz entschieden danebengegriffen, um es einmal so zu formulieren. Jugendstrafanstalt ist kein Urlaub. Aber sie ist eine Chance für jugendliche Straftäter. Und eigentlich ist die Jugendstrafanstalt Berlin am Friedrich-Olbricht-Damm 40 bei 430 Haftplätzen sogar unterbelegt, wie die Leiterin der Sozialpädagogischen Abteilung und Öffentlichkeitsarbeit, Janina Deininger, beim Pressegespräch vor der Generalprobe zu William Shakespeares Hamlet verrät. Deshalb habe man nun einige offene Plätze mit jungen Erwachsenen bis 27 Jahre belegt. Das Verständnis des Jugendlichen wird also durchaus erweitert, weil auch für Mitte-Zwanzigjährige manchmal die Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist.

 

Überhaupt Hamlet! Ist das ein Jugendlicher? Shakespeares Hamlet lässt sich schwer einordnen. Hamlet, ein Stück für einen Schauspieler? Hamlet, ein Familiendrama, wie es sich überall in Deutschland zutragen könnte? Peter Atanassow sucht in seinen Inszenierungen insbesondere mit Gefangenen der Jugendstrafanstalt den Anknüpfungspunkt an die Lebenswirklichkeit der Darsteller. Und natürlich sind die familiären Verstrickungen Hamlets – Vater ermordet vom Bruder, der die Mutter heiratet – ein Anknüpfungspunkt. Familie ist für die Mitwirkenden Jugendlichen und jungen Männer eine Referenz. Familiäre Verhältnisse mit der An- oder Abwesenheit einer Vaterfigur, Freud spricht vom symbolischen Vater, der angenommen wird oder nicht, spielen für jugendliche Straftäter keine geringe Rolle. Was ist da los mit dieser Hamlet-Familie?

 

Wer in der Jugendstrafanstalt im Gefängnistheater mitspielt, opfert seine Freizeit für 7 Wochen mit intensiven Proben an den Wochenenden. Ursprünglich hatten sich 18 Jugendstraftäter für die Mitwirkung im Gefangenentheater gemeldet, 13 wirken schließlich mit. Bei der Frage, wer mitwirken darf, entscheidet der Ort und nicht die Straftat, für die die Jugendlichen verurteilt worden sind, erklärt Frau Deininger. Die Mitwirkung im Theater wird als Möglichkeit gesehen, dem Leben noch einmal eine Wende geben zu können. Vielleicht ist die Hamlet-Frage Sein-oder-Nichtsein eine Zuspitzung der grundsätzlichen Frage danach wie Sein bzw. Leben geht? Das Gefängnistheater aufbruch bietet nun mit der 12. Produktion in der Jugendstrafanstalt Berlin den natürlich ausschließlich männlichen Jugendlichen die Chance, einmal Erfolg und Anerkennung vom Publikum und ihren Familienangehörigen zu erfahren. Die Mitspieler haben Texte zu Hamlet geschrieben, wie diesen:

Selbstmord ist der endgültige Schrei nach Aufmerksamkeit. Wenn sich jemand umbringt, zeigt es seine Verzweiflung und er sieht keinen Grund mehr weiterzumachen, aber bis man zu dieser Verzweiflung gekommen ist, ist mein meistens schon tot, aber ich find's traurig, dass Leute, die 20 bis 30 Jahre als sind, die nich mal 20% ihres Lebens gesehen haben, sich selbst umbringen, wie sie nicht kämpfen wollen und bei dem kleinsten Anzeichen von Druck sich irgendwie selbst verletzen mit Drogen, Alkohol oder Selbstmord.  

 

Gerade für nach dem Jugendstrafrecht verurteilte Täter gilt nach wie vor der Resozialisierungsgedanke. Liest man bisweilen heute die Zeitung oder hört die Stimmen von der Straße, dann könnte der Eindruck entstehen, dass in Deutschland nach einem Vergeltungsstrafrecht selbst oder gerade für männliche Jugendliche gerufen wird. Das ist absurd. Der Jugendstrafrechtsgedanke gehört zu den größten und zu den verteidigenswerten Errungenschaften der Rechts- und Strafrechtsgeschichte in Deutschland. Bezeichnenderweise geht die Infragestellung des Strafrechts und des Jugendstrafrechts einher mit der Herabwürdigung,[1] die sich immer in die Position eines Rechts des Geschlechts im weiteren Sinne bringt. Das Geschlecht nimmt in der deutschen Sprache immer auch die Bedeutung von [1] die Eigenschaft höherer Lebewesen, männlich, weiblich, inter* oder trans zu sein, [2] Kollektivum: die Gruppe entweder aller männlicher Menschen oder aller weiblicher oder anderer, [3] kurz für Geschlechtsteil, [4] Gattung, Art [5] Familie, Sippe, Clan [6] Grammatik: grammatische Kategorie von Hauptwörtern, Beiwörtern, Geschlechtswörtern und Fürwörtern (Substantiven, Adjektiven, Artikeln, Pronomen), also von Nennwörtern (Nomen; im traditionellen weiteren Sinn) [7] Generation im Sinne von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen, Alten [8] Topologie: eine topologische Invariante.[2]

  

Das Geschlecht in diesem weiten Sinne auch der Familie und der Jugendlichen als Generation spielt die Hauptrolle oder weist auf den Hauptkonflikt in William Shakespeares Hamlet hin. Lässt Hamlet sich geschlechtlich verorten? Wohin gehört er? Das ist absolut keine Neuinterpretation, sondern ein seit dem 18. Jahrhundert diskutiertes Problem dieses Dramas. Man kann auf verschiedene Weise zu diesem Gedanken gelangen. Doch den eigentlichen Hinweis verdankt der Berichterstatter Peter Atanassow und Pascal Rehnolt, der für Videoeinspielungen aus Asta Nielsens Hamlet von 1920, gedreht in Deutschland, wahrscheinlich überwiegend in Babelsberg und Umgebung, verantwortlich ist. Im Vorspann zum von Asta Nielsen produzierten Stummfilm Hamlet, mit ihr als Prinz Hamlet, heißt es: 

Seit Jahrhunderten 

streiten sich die Gelehrten 

über Hamlet und den 

Sinn der Hamletsage. 

Auch die bedeutendsten 

Dichter aller Zeiten 

haben das Leben Hamlets 

eifrig diskutiert. 

Voltaire, der berühmte 

französische Philosoph, 

nennt Shakespeares Stücke 

einen geschmacklosen 

Mischmasch von Laune 

und Unsinn. 

Herder hält das Wesen 

Hamlets für das eines 

gewohnheitsmäßigen 

Affektanten. 

Selbst Goethe hat die heute 

unbestrittene Wertschätzung 

des Hamlet-Dramas in 

schärfster Weise verworfen. 

Hamlet ist ein Hammel! 

In neuer Zeit hat der 

amerikanische Literaturforscher, 

Professor Vining, der 

Hamletsage eine neue 

Deutung gegeben. 

Die Hamlet-Gestalt war 

bisher von einem tiefen 

Geheimnis umhüllt~~ 

Hamlet war in Wirklichkeit 

ein Weib!


© Thomas Aurin

Ob nun gerade darin die Lösung des „tiefen Geheimnis(ses)“ des Hamlet liegt, dass er kein Jugendlicher, sondern „ein Weib“, eine Frau war, mag einmal dahingestellt bleiben. Für Asta Nielsen als Schauspielerin bot die Anknüpfung an Edward P. Vinings Shakespeare-Studie The Mystery of Hamlet. An Attempt To Solve An Old Problem von 1881[3], die Möglichkeit, Hamlet im Stummfilm zu spielen. Hamlet von und mit Asta Nielsen wurde in den USA zum ersten erfolgreichen Stummfilm aus Deutschland, wozu das Versprechen auf die Lösung eines alten Problems einiges beigetragen haben mag. Gleichzeitig kreierte Asta Nielsen damit einen neuartigen Frauentypus der zwanziger Jahre. Doch entscheidend für die 20er wie die 1880er Jahre und die Hamlet-Rezeption überhaupt war das Problem der geschlechtlichen Einordnung. Das hatte ja ganz offenbar Voltaire wie Herder und Goethe gleichermaßen beschäftigt und zu Verwerfungen geführt. Wie begründet Vining seine These, dass Hamlet eine Frau ist? 

Seltsamer als all dieses ist jedoch die Tatsache, dass all seine Bewunderung auf männliche Stärke und männliche Tugenden beruht, während ihn auf weibliche Besonderheiten, auf die Frau im Allgemeinen und auf seine Mutter und insbesondere auf Ophelia, die ganze Bitterkeit seiner Verabscheuung ausfüllt. Hier ist eine Anomalie fast gegen die Natur. Der Schöpfer hat in der Menschheit eine subtile Anziehungskraft auf das andere Geschlecht vorgesehen, die in einem Mann und besonders in einem Mann aus Hamlets Zeit alle Frauen mit einem zärtlichen Charme anlegt. Jedes Geschlecht bewundert die charakteristischen Tugenden des anderen und denkt leicht an seine eigenen guten Eigenschaften. Da sich in zwei Magneten ähnliche Pole abstoßen, während sich die gegenüberliegenden Pole anziehen, besteht diese gegenseitige Anziehung zwischen Gegnern und Abstoßung der Gegenspieler. Dies macht die Verbindung zwischen Mutter und Sohn, Vater und Tochter häufig stärker und zarter als zwischen Vater und Sohn oder Mutter und Tochter.[4]


Hamlet, 1920 mit Asta Nielsen (Screenshot T.F.) 

Hamlet ist nach Vining familienpsychologisch schwul oder eine Frau. Diese familiale und geschlechtliche Irritation bringt sozusagen Asta Nielsens Hamlet hervor, um seinerseits nicht nur das Problem zu lösen, sondern in der Frau als Prinz Hamlet rechteigentlich zu perpetuieren. Männer und Frauen werden sich heillos in Asta Nielsen als Hamlet verliebt haben. In gewisser Weise ist Hamlet das Drama des geschlechtlichen Chaos' im weiteren Sinne. Wie richtig leben und lieben? Die Besonderheit des Gefängnistheaters besteht nun darin, dass Peter Atanassow nicht mit Berufsschauspielern arbeitet, die ihm nach der Schauspielschule etwas anbieten können sollen. Stattdessen wird die Rollenarbeit zur Auseinandersetzung mit den Fragen des Stücks. So sind denn auch im Programmheft zu diesem merkwürdigen und hochbrisanten Hamlet Ausschnitte aus Texten der Mitspieler abgedruckt. 

Ohne Regeln wären wir alle wie Tiere Weil in jedem Menschen seit der Geburt Chaos herrscht. Wir haben alle Urinstinkte, die die Regeln unterdrücken. Für ein paar Leute sind Regeln gut, für manche sind sie schlecht. Es kommt immer auf die Sache an, die manche Menschen machen, z.B. würde es keine Gesetze in Deutschland geben, würde an jeder Ecke ein toter Mensch sein. Wie es schon in der Bibel heißt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Regeln sind wie eine Autorität und mache kommen damit klar und manche nicht. Das Gesetz ist das, was Leute daran hindert, anderen was anzutun oder zu schaden, aber Regeln, die sich jemand ausdenkt, weil er denkt, er dürfe das, sind für mich Bla Bla Bla.[5] 


© Thomas Aurin 

Die Gefängnistheaterproduktion ist ein hochkomplexer, kreativer Prozess und erinnert an Julia Kristevas Vortrag Refounding Europe Through Culture. Die Produktion mit den Gefangenen arbeitet mit dem Leben und der Kultur bzw. kulturellen Praktiken. In der Hamlet-Inszenierung wird schnell klar, wie sehr sich das Ensemble engagiert. Hamlet gibt es dreimal, was sich sogar denken lässt, weil dieser erstens doch eine recht zerrissene Persönlichkeit ist und zweitens es darum geht, dass diese dreizehn etwas zusammen produzieren. Vsevolod Silkin hat mit dem Ensemble die Schlager Junge komm bald wieder (1961), Ich wollt ich wär ein Huhn (1936) und Du bist als Kind zu heiß gebadet worden (1928) einstudiert. Das gehört eher nicht zum kulturellen Musikgeschmack und -schatz von Jugendlichen zwischen 17 und 27. Das ist ein wenig Freddy Quinn-Operette mit Comedian Harmonists und frechem One-step. Doch die Texte erzählen beiläufig auch etwas von den Träumen und Sehnsüchten der Jugendlichen. Dafür müssen sie sich die Texte nicht einmal genauer bedenken. 

Junge, komm bald wieder, bald wieder nach Haus. 

Junge, fahr nie wieder, nie wieder hinaus. 

Ich mach mir Sorgen, Sorgen um dich. 

Denk auch an morgen, denk auch an mich. 

Junge, komm bald wieder, bald wieder nach Haus. 

Junge, fahr nie wieder, nie wieder hinaus. 

Wohin die Seefahrt mich im Leben trieb, 

ich weiß noch heute, was mir Mutter schrieb. 

In jedem Hafen kam ein Brief an Bord. 

Und immer schrieb sie: "Bleib nicht solange fort."


© Thomas Aurin 

Die innige Beziehung des Musical-Seefahrers Freddy Quinn zu seiner Mutter entfaltete in den 60er Jahren als Schlager bereits eine große Anziehung auf alle Frauen und Männer, die sich gemeint fühlten. Das ist schon tiefste Bundesrepublik Deutschland der 60er Jahre, als es in Hamburg noch Seefahrer gab, die auf der Reeperbahn ihr Geld verjubelten. Eugen und Ingwer fuhren noch in den 60er Jahren auf Walfängern bis nach Japan zur See. Und die Schwestern Maria und Liesbeth hatten mit den Männern ihre liebe Not. Sollen Eugen und Ingwer doch einmal zum Geburtstag bei Maria oder Liesbeth in Hamburg mit einem großen Strauß Tulpen aufgekreuzt sein. Aber alle Tulpenköpfe sollen abgeschlagen gewesen sein. Seefahrer und Tulpen passte nicht. Sie gingen auch noch Anfang der 70er Jahre auf den Hamburger Fischmarkt, von wo sie Samstagmittag „ordentlich geladen“ an den heimischen Küchentisch in der Bornstraße zurückkehrten.


Hamlet, 1920 mit Asta Nielsen (Screenshot T.F.) 

Peter Atanassow arbeitet mit einer Textcollage aus Shakespeares Hamlet von Erich Fried übersetzt, Bernard-Marie Koltès Hamlet, Tag der Morde und Heiner Müllers Hamletmaschine. Wie autonom ist Hamlet? Entscheidet er autonom? Oder befindet er sich in einer Maschine aus Lügen und Intrigen? Wie sehr wird er selbst zur Maschine? Auch oder vielleicht gerade Jugendstraftäter nutzen Soziale Medien, Smartphone und PC. Sie sind in einer Jugendkultur von What’s App, Instagram und Snapchat und YouTube mit Influencers zutiefst verwickelt. Das Internet und Computerspiele beeinflussen zumindest ihre Wahrnehmung. Und natürlich wissen sie, was gerade sexy und also begehrenswert ist. Was man gerade haben muss, um etwas zu gelten. Der Druck bestimmte Markenklamotten und Gadgets haben zu müssen, dürfte mindestens so groß sein, wie früher Sammelbilder. Und dann ist man plötzlich in dieser Maschine des Habenmüssens und des Habenwollens drin, so dass man gar nicht mehr genau weiß, was man will. Am lautesten wird dann die Kritik von Älteren bekundet, die immer schon damit klar kamen, alles haben zu können. Auch davon handelt Hamlet in der Jugendstrafanstalt.


© Thomas Aurin

Natürlich hat Prinz Hamlet alles, sonst wäre er ja nicht Prinz. Doch auch darin liegt zugleich für die Generation Prinz oder Hamlet heute ein großes Problem. Denn wenn man nun aus guter Mittelschicht kommend sogleich in ein durch getaktetes Studium gerät, dann könnte es vorkommen, dass man sich selbst zur Maschine werden fühlte. Bei aller Künstlichen Intelligenz soll man dann auch noch seine menschliche fühlen und begründen können. „Sein oder Nichtsein“ als Frage hat sich entweder verschoben oder betraf schon bei Shakespeare eine fundamentale Erschütterung der Frage nach der Existenz. 

Ich bin mein Gefangener. Ich füttere mit meinen Daten die Computer. Meine Rollen sind Speichel und Spucknapf Messer und Wunde Zahn und Gurgel Hals und Strick. Ich bin die Datenbank. Blutend in der Menge Aufatmend hinter der Flügeltür. Wortschleim absondernd in meiner schalldichten Sprechblase über die Schlacht. Mein Drama hat nicht stattgefunden. Das Textbuch ist verlorengegangen.[6]   


© Thomas Aurin 

Was Heiner Müller Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre mit dem Computer und der Datenbank poetologisch formulierte, ist für Jugendliche und junge Erwachsene längst zur ebenso komfortablen wie erschreckenden Ablage des Lebens in den Cloud-Diensten geworden. Heiner Müller hat sich um 1980 noch nicht träumen lassen können, was heute zur Lebenswirklichkeit von Ataev, Ciprian, Memo, Shamil, Mutlu, Hamza, Mimo, Ali, G-Kay, Tarum-Aktiv, Haso, Jalal, Batek, Fero mit verschlüsselten Namen geworden ist. Künstliche Intelligenz war für Heiner Müller als Thema noch nicht präsent. Aber der Verhältnis von Datenbank und Ich, Daten und Ich zog als Schrecken bereits herauf. Andererseits hat sich das ganze Leben durch Datenströme so unglaublich beschleunigt, dass man selbst als Hamlet nicht darauf verzichten möchte. Und der eine oder andere Mitwirkende des Gefängnistheater in der Jugendstrafanstalt wird bestimmt schon Asta Nielsens Hamlet gegooglet und vielleicht sogar gesehen haben. 

 

Torsten Flüh  

 

Hamlet 

frei nach William Shakespeare 

28., 30. November sowie 

3., 5., 7. Dezember 2018 jeweils um 17.30 Uhr 

Spielort: Jugendstrafanstalt Berlin (Kultursaal) 

Friedrich-Olbricht-Damm 40 · 13627 Berlin 

Pforte 3 

Tickets: 15 € / 10 € (ermäßigt) 

Kartenverkauf ab Montag, 5. November 2018 um 11 Uhr im aufBruch-Onlineshop 

oder an der Kasse der Volksbühne Berlin 

nur persönliche Abholung mit Ausweis.

________________________


[1] Zur Herabwürdigung siehe: Torsten Flüh: Von Haltung, Heimat und Herabwürdigung. Ulrike Lunacek, ehem. Vizepräsidentin des Europarlaments, eröffnet die Rainbow Lectures in der neuen taz Kantine. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. November 2018 18:12.

[2] Siehe dazu auch Synonyme und die aktuelle Bedeutungsvielfalt bei Wiktionary für Geschlecht.

[3] Edward P. Vining: The Mystery of Hamlet. An Attempt To Solve An Old Problem. Philadelphia: Lippinscott, 1881. Archive.Org.

[4] Eigene Übersetzung nach ebenda S. 55.

[5] aufbruch: Hamlet. Berlin, 2018, o. Seitenzahl.

[6] Heiner Müller: Hamletmaschine. In: ders.: Werke 4 Stücke 2. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 2001, S. 551. 

Bernd Alois Zimmermanns Welttheater für den Funk - Zur Uraufführung eines vergessenen Meisterwerks durch die Sing-Akademie zu Berlin und das Deutschlandradio in der Volksbühne

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Welttheater – Funkoratorium – Agitgericht 

 

Bernd Alois Zimmermanns großes Welttheater für den Funk 

Zur Uraufführung eines vergessenen Meisterwerks durch die Sing-Akademie zu Berlin und das Deutschlandradio in der Volksbühne 

 

Das Welttheater beginnt schon auf den Stufen zur Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Ensemblemitglieder des Hauses führen eine szenische Lesung von Jakov Rezuškins Gericht über Gott auf. Eine Frauenstimme singt. Arbeiter in Blaumännern schlagen mit Gummihämmern gegen die orangenen Müllkästen vor dem Theater. Die Scheinwerfer tauchen die Szenerie in grelles Licht. Zuschauer*innen drängen sich an den Akteuren irritiert vorbei ins Foyer. Dies wird einmalig gewesen sein. Uraufführung für einmal. Der Text ist harter Agitprop-Stoff von 1924, als alles anders gewesen war. Das Projekt des Neuen Menschen in der UdSSR will keinen Gott. Mit Gott oder ohne Gott? Bernd Alois Zimmermanns Funkoratorium Des Menschen Unterhaltsprozess gegen Gott, Ursendung am 12. Juni 1952 durch den Westdeutschen Rundfunk Köln, ist eine ursprüngliche Wiederentdeckung.

 

Bereits die Kombinatorik von Pedro Calderón de la Barcas Auto sacramental zu Fronleichnam aus dem spanischen Barock, dem Siglo de Oro[1], mit Jakov Rezvuškins Gericht über Gott im Libretto durch Hubert Rüttger gibt einen Wink auf die Ambiguität des Funkoratoriums sieben Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Lässt sich an den Katholizismus als moralische Instanz nach dem Nationalsozialismus wieder anknüpfen? Die Ursendung des Funkoratoriums zu Fronleichnam 1952 rahmt es als katholisch-rituelle Handlung. Auf den Straßen Kölns wird es in der Trümmerlandschaft der Stadt ausgeschmückte Prozessionen mit Weihrauch gegeben haben. Doch in der Partitur von Bernd Alois Zimmermann erklingen nicht nur barocke Choräle, sondern auch Jazzelemente, impressionistische Klangfarben und elektroakustische Experimente. Am 26. November um 19:30 Uhr luden Christian Filips (Regie) und Kai-Uwe Jirka (Musikalische Leitung) zur einmaligen Uraufführung.

Das Funkoratorium verlangt die Imagination des Welttheaters. Wie intensiv die Radiohörer*innen zu Fronleichnam im sommerlichen Juni Des Menschen Unterhaltsprozess gegen Gott live gehört haben, wissen wir nicht. Die Ankündigung einer Uraufführung durch den Rundfunksprecher wird womöglich nicht jeden Hörer angesprochen habe. Die großen klassischen Symphonien hat man bestimmt hören wollen, die schöne Musik. Doch dann kommen da mit dem Vorspiel barocke Klänge aus dem Radio, als sei die Welt so ganz und gar in Ordnung. Und eine Bassstimme singt mit dem Chor wie in der Messe: „Nun bit-ten wir dem Heil‘ - - - gen________ Geist_________ um___ rech  - ten   Glau – ben al - - - ler - - - meist, … Ky - - ri – e e – lei --- son.“[2] Adam wird vom Vater, von Gott, vertrieben. Ein Strafgericht nach den Sünden und Verbrechen des Nationalsozialismus? Vater: „Bösewicht, aus meinem Haus!“ Adam: „Bin dein Sohn!“[3]

Es gibt offenbar keine Kritiken über die Ursendung. Wir wissen kaum etwas darüber, wie das musik- und rundfunkgeschichtliche Ereignis wahrgenommen worden ist. Immerhin war schon das Genre des „Funkoratorium“, wenn nicht ganz neu, so doch gewiss nicht allzu weit verbreitet. Der Rundfunkprogrammleiter und -theoretiker Eugen Kurt Fischer „experimentierte in den 1930er Jahren u.a. mit der handlungsfreien, chorischen Form des »Funkoratoriums«“.[4] Doch Des Menschen Unterhaltsprozeß gegen Gott bietet bei Bernd Alois Zimmermann eine welttheatrale Handlung. Immerhin ist das Stück „in freier Gestaltung von Hubert Rüttger“ so einzigartig, dass es auch als „Funkoper in drei Akten für Sprecher, Soli, Frauenchor, Männerchor, großen gemischten Chor und Orchester“ untertitelt wird.[5] Als „Funkoratorium“ wird der religiöse Rahmen des Oratoriums herausgestrichen, während das bei Fischer gerade keine Rolle spielte.

Hubert Rüttger hatte zum 350. Geburtstag von Caldéron am 17. 1. 1950 das Stück Der Siebenstern. Eine Tafelrunde… veröffentlicht.[6] Der Jahrestag des Geburtstags wirkt in gewisser Weise mit dem Funkoratorium nach. Denn am Schluss der als Symposium zur Aktualität Caldérons abgehaltenen „Tafelrunde“ von sieben Freunden annonciert der Autor als „freie Nachgestaltung der autos“ „Des Menschen Unterhaltsprozeß gegen Gott. (Los alimentos del Hombre) ein Spiel von der hl. Versöhnung; zum Jahr 1950“.[7] Wie die „Nacherzählung der Passionsgeschichte war“ das Fronleichnamsstück von Caldéron „in einen gesellschaftlichen Kontext eingebettet, in dem das Inszenatorische auf allgemein verständlichen Normen beruhte“.[8] Christian Filips hat mit seiner Inszenierung das barocke Gerichtstheater Caldérons, das wie andere Werke des Autors auch die Inquisition in Madrid erregte, um Jakov Rezvuškins Gericht über Gott erweitert und zugespitzt.

Das Gericht irritiert und fasziniert die ankommenden Zuschauer*innen. Vor dem Eingang zur Volksbühne haben sich der Vorsitzende (Margarita Breitkreiz), Gerichtskommandant (Silvia Rieger), Öffentlicher Verteidiger (Samia Dauenhauer), Pope (Hubert Wild), Rabbi (Ariel Nil Levy), Mullah (Nauras Ali), Gläubige Alte (Susanne Bredehöft) und Pionier (Elias Schockel) auf Podeste begeben. Hier wird eine geradezu exemplarische Gerichtsverhandlung abgehalten: 

Vorsitzender. Ich erkläre das Gericht über Gott für eröffnet. – Genossen! In den Jahrtausenden, da die Menschheit existiert, wurden von Gott und im Namen Gottes unzählige unvorstellbare Verbrechen begangen. Die Komsomolorganisation … (er nennt sie namentlich) hat beschlossen, den Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen und führt daher diese Gerichtverhandlung durch. Wir haben nicht allein über den christlichen Gott, Christus und Jahwe zu urteilen. Der Aburteilung unterliegen unter dem allgemeinen Namen »Gott« auch der mohammedanische Allah, der jüdische Jehovah und alle anderen Gottheiten, die irgendwann einmal von der Menschheit angebetet wurden.[9]

Das Gericht über Gott wird nur in Auszügen als Gerichttheater aufgeführt. Das Gerichttheater als „sowjetisches Agitgericht“ haben Gianna Frölicher und Sylvia Sasse erst kürzlich genauer beleuchtet. Denn „(a)b 1923 wurden … massenweise Gerichtsstücke herausgegeben“, um „Anfang der 1930er sang- und klanglos aus den Repertoires der Arbeiter- und Bauernklubs“ zu verschwinden und „von einer theatralen Justiz abgelöst“ zu werden.[10] Die Gerichtstheater sind weder nur Theater, wie es heute erscheinen könnte, noch sind sie nach einer Strafprozessordnung geregelte Gerichtsverhandlungen. Walter Benjamin, „der 1926 per Zufall in ein Agitgericht in einem Moskauer Bauernklub geriet“, mag gar nicht aufgefallen sein, dass er nicht in einer Gerichtsverhandlung gesessen hatte. In seinem Moskauer Tagebucheintrag bleibt die Praxis des Gerichttheaters unklar.[11] 

VORSTIZENDER. Der Genosse Gerichtskommandant hat erklärt, dass der
Angeklagte Gott vor Gericht nicht erschienen ist, weil er nicht existiert.
 

POPE (aus dem Publikum). Wie >Gott existiert nicht<? … Gott Jahwe existiert! Er thront im Himmel in heiligem Ruhm. 

RABBI (aus dem Publikum). Sieh an! >Gott existiert nicht<! Aber unser Gott ist Jehowa. Haben Sie etwa nie was von ihm gehört? 

MULLAH. Was du da redest? Gott gibt es – seine Name ist Allah und Mohammed ist seine Prophet![12]

Das Gerichttheater dient nicht der Wahrheits- oder Urteilsfindung oder gar der Unterhaltung, sondern dem Einüben eines neuartigen, modernen Wissens für z. B. den gottgläubigen russischen Bauern und der „Wissensvermittlung“, „der Mensch und sein Verhalten sollten ganz und gar verändert werden“.[13] Damit gehört das Genre Agitgericht zu jenen Medien und Praktiken, die den Neuen Menschen im postrevolutionären Russland und der frühen UdSSR hervorbringen sollten.[14] Von Fern winken Iwan Pawlow und Vsevold Pudovkins Mechanik des Gehirns (1925) herüber.[15] Jakov Rezvuškin ist denn auch nicht weiter als Theaterautor aufgetreten. Vielmehr schrieb er ab Mitte der 1920er Jahre bis 1929 für die sowjetische Jugendorganisation Komsomol „viele Aufsätze und Bücher“.[16] Rezvuškin versteht und markiert sein Stück denn auch als „antireligiöse Propaganda“. 

1. Gott existiert nicht. 2. Von einer Bestrafung Gottes wird, da dieser nicht existiert, abgesehen. Das Gericht über Gott ist kein gewöhnliches ,Agitationsgericht‘, weil den Mitwirkenden hier von den Zeugenaussagen, den Fragen und Antworten bis hin zu den Plädoyers alles fertig ausformuliert vorgelegt wird. Aus diesem Grund ist ein Moment des Zufälligen während der Aufführung dieses Gerichts nahezu ausgeschlossen. Das Interesse an Fragen antireligiöser Propaganda ist in breiten Schichten der Arbeiter- und Bauernjugend außerordentlich hoch und wächst weiter. Aus diesem Grund hält der Komsomol antireligiöse Propaganda für seine wichtigste Arbeit… 

Die Verbreitung von Wissen verdrängt den Glauben an Gott und verringert die Möglichkeit, die Arbeiter irrezuführen und zu betrügen![17]

 

Dann ziehen die Schauspieler und das Publikum ins Theater. Die Vorsitzende, Margarita Breitkreiz, verwandelt sich in eine Art poetisch, hilflose Meerjungfrau und schlängelt sich über den Boden des Foyers. Dramaturgisch vermischen sich Märchen- und Gerichttheater. Die Genregrenzen bleiben bei Christian Filips unscharf und durchlässig. Auf der Bühne werden weitere Ebenen miteinander verschnitten. Die Katholische Kirche kommt in einem Trojanischen Pferd auf die Bühne. Gottvater erinnert an einen apokalyptischen Rocker aus Mad Max. Adam fällt an einem Seil aus dem Bühnenhimmel. Die Unterbühne fährt im Drehen einen riesigen Tisch empor, unter dem eine Art Glücksrad leuchtet. Margarita Breitkreiz lässt Papierschwalben aus dem Rang ins Publikum gleiten. Sie verteilt Flugblätter. Spencer Tracy und Marlene Dietrich in dem Gerichtsdrama Witness for the Prosecution (1957). Ausschnitte aus dem Nürnberger und/oder Ausschwitz Prozess. Ein Spielfilm mit einem ca. 10jährigen Jungen, der durch eine Trümmerlandschaft irrt und sich aus einer Kriegsruine in den Tod stürzt. Ganz großes Welttheater.

 

Wie in einer barocken Allegorie werden Frühling (Sopran-Solo), Sommer (Tenor-Solo), Herbst (Alt-Solo) und Winter (Bass-Solo) vom Vater herbeigerufen, um sie zu belehren, dass Adam als Stellvertreter des Menschen nur „mit Müh‘ er-wer-ben“ soll, weil er „das Geschenkte (mißbraucht nur)“[18], „nur mit Kummer soll er essen, was mit Schmerzen er gesät“.[19] Zunächst richtet Gott über Adam durch die allegorischen Jahreszeiten, die ihm dafür danken, dass er „gerecht gerichtet“ hat. Bis hin zum „Bachchoral“ stellt Zimmermann die Welt vom Kopf quasi wieder auf die Füße. Der Modus der Allegorie für diese Gerichtsverhandlung ist durchaus bedenkenswert. Denn bereits 1717 wird in der Sammlung der Autos Sacramentales, alegoricos, Y Historiales del insigne poeta Espanol Don Pedro Calderon de la Barca[20] das Allegorische des Unterhaltsprozesses ausdrücklich im Titel benannt. Doch die Allegorie ist eine Rede- und Schreibweise, die den Menschenkindern des 21. Jahrhundert nicht nur weitgehend unbekannt, sondern fremd ist.


© Kai Sievers

An der Erzähl- und Darstellungsweise der Allegorie hatten sich schon in Rüttgers Siebenstern die Freunde abgearbeitet. Der Gastgeber der quasi platonischen Tafelrunde spricht sich als siebenter Redner entschieden für die Aufführung von Caldérons „autos“ aus. Der 1. Redner hatte sich als einziger evangelischer Christ der Runde, die sich fiktiv oder real am 22. August 1948 in einem „Landhaus, unweit Köln“[21] getroffen hatte, vor allem gegen die „autos“ ausgesprochen, weil sie „im Grunde doch Propagandadramen für die Lehre von der Wesenswandlung“ wären.[22] So bringt ein Redner nach dem andern seine Vorwände ein, bis der 6. Redner die „autos“ vor allem wegen ihrer Form der Allegorie kritisiert. 

Es ist durchaus möglich, daß ihm als einem geistvollen Manne die Pflicht, autos zu machen, beschwerlich war und daß er sich ihrer nur unterzog, um den Menschen eine Freude zu bereiten, oder Gottesdienst mit seiner Kunst zu üben, oder weil es damals geradezu anstößig gewesen wäre, wenn er, der größte und von allen als Dichterfürst anerkannte Dramatiker, sich der Pflicht entzogen hätte, zur Verherrlichung des so volkstümlichen Fronleichnamsfestes – ist es doch auch heute volkstümlich – autos zu dichten. Wollte er aber autos machen oder mußte er es, gewissermaßen moralisch gezwungen, dann mußte er auch Allegorien machen.[23]


© Kai Sievers

Die Praxis der Autos Sacramentales ist auf volkstümliche Weise in den Gottesdienst eingewoben, um an den Figuren wie beispielsweise Orpheus die katholische Heilslehre und „Wesensverwandlung“ antiken Dramenpersonals in das Personal der heiligen Kirche vorzuführen. Es ist eine Gegenreformation auf das antike Personal der Renaissance, die eine Befreiung aus der kirchlichen Bevormundung versprach. Im spanischen Barock wird nicht zuletzt durch Caldéron die „Wesensverwandlung“ bis zur Lächerlichkeit betrieben, woran heftig Anstoß genommen wird. Hubert Rüttgers erweist sich in Der Siebenstern als detaillierter Caldéron-Kenner und dessen Rezeption. Caldéron macht die Geschichte Orpheus‘ nur zum Autos Sacramentales, um ihn als Allegorie auf Christus zu inszenieren. 

Da spielt der „göttliche Orpheus“ recht hübsch seine Rolle als himmlischer Sänger. Fast bis zum Schlusse merke ich kaum etwas von der Allegorie. Nie aber darf ich vergessen, daß mit dem „Orpheus“ eigentlich Christus gemeint ist. Geht nun das Spiel zu Ende und tritt der göttliche Sänger „tot, d. h. vom Tode getötet, in die Höhle“, da sagt er doch wahrhaftig: Mein Gott, warum hast du mich verlassen! Ob nicht Calderon selbst in diesem Augenblick von grimmigem Zorn erfüllt war, daß er sein eignes Gewebe so zerreißen mußte? Und wenn er es nicht merkte, dann war es für ihn umso schlimmer; denn dann hat die Allegorie sein eigenstes künstlerisches Leben angefressen, …[24] 

Die Allegorie als Darstellungsweise gefährdet die künstlerische Freiheit bzw. das „eigenste() künstleriche() Leben“, weil sie die Lehre der Katholischen Kirche vollziehen muss. Und es ist selbstverständlich die Allegorie, die von einigen Kritikern kritisiert wird, wenn sie die Aufführung als „lächerlich“ kritisieren. Nur dass sie kaum wissen, dass sie die Allegorie kritisieren. Ist es doch genau diese Erzähl- und Darstellungsform, die der Gastgeber und Vorkämpfer für Caldéron „auf der modernen Lichtbühne neu erglänzen“ sehen will. 1950 bleibt noch unklar wie diese „Lichtbühne“ aussehen sollte.1952 wird sie das „auto“ als Funkoratorium ausgestrahlt. 

Aber auch über die autos will ich mich als Propheten erweisen und ich fürchte nicht, als ein falscher angesehen zu werden, wenn ich sage: sie werden auf der modernen Lichtbühne neu erglänzen, daß die Leute nicht wissen, wie ihnen zu Mute ist und daß sie entzückt mit den alten Spaniern ausrufen werden: Sabe a Gloria! Es schmeckt nach dem Himmel! Der Kölner Domstern wird anfangen und sie neu in die Welt hinausstrahlen.[25]    

Es gibt für Hubert Rüttger neben den Trümmerlandschaften, auf die er in Der Siebenstern ausführlich Bezug nimmt, einen weiteren Anknüpfungspunkt, der sich in der Tafelrunde mehr und mehr herausschält: Stefan George. Im Dezember 1933 in Italien verstorben, lässt sich für Hubert Rüttger 1950 an Caldéron und George anknüpfen. Deshalb übersetzt er nicht nur, vielmehr schreibt er „freie Nachgestaltungen“.[26] Das ist der Stoff, aus dem das Libretto zu Zimmermanns Funkoratorium gemacht ist. In die Tafelrunde der Sieben tritt denn auch ein säkularisierter „Theodulf, der Siebensterner“, der vor allem wegen seiner Schönheit bewundert wird. Und der geheimnisvolle, fast georgische „Siebenstern“ kommt auch im Libretto vor. Es ist kein „holder Abendstern“ des wagnerschen Tannhäuser, sondern ein poetologischer „Siebenstern“.  

Komm, o Siebenstern, erschein, sende deinen Glanz, den milden; denn du wirst es sein, der auf Bethlehems Gefilden reiche Ähren sammelt ein. Menschenkinder! Freuet euch, freuet euch, freuet euch, ihr Menschenkinder.[27]

 

Das Ensemble PHØENIX16 spielt unter der Leitung von Kai-Uwe Jirka ebenso barock wie experimentell. Die einmalige Produktion, die eben nicht für weitere Aufführungen vorgesehen ist, dreht an der ganz großen Bühnenmaschinerie und bietet mit den Solisten von PHØENIX16 ebenso wie dem Ensemble und den Volksbühnenschauspielern ein ganz großes Gericht- und Welttheater. Die Chöre und vor allem die Sing-Akademie wurden umjubelt. So genau hatte vielleicht niemand verstanden, worum es mit dem „Spiel von der heil. Versöhnung“ gegangen war. Trümmer, Verzweiflung, Verdrängung und ein Versuch, 1952 an den „Geist“ anzuknüpfen - „Wenn der Geist nicht in Trümmern liegt, dann wird das andere schon wieder neu erstehen, soweit es möglich ist.“[28] Irgendwie wurde ein sehr wohl zertrümmerter Geist zusammengebastelt, eine Collage aus Bruchstücken, weshalb sogar die Bachchoräle zu Caldéron passen. Gerade in der spürbaren Ratlosigkeit unter dem ganzen großen Theater ist Bernd Alois Zimmermanns Funkoratorium ein Meisterwerk.

 

Torsten Flüh 

 

Volksbühne

 

Sing-Akademie zu Berlin 

_______________________ 



[1] Vgl. zum Siglo de oro: Torsten Flüh: Der goldene Kreis der Bilder. Zur bezaubernden wie verstörenden Schlüsselausstellung El siglo de Oro in der Gemäldegalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. August 2016 20:43.

[2] Bernd Alois Zimmermann: Des Menschen Unterhaltsprozeß gegen Gott. Mainz: Schott, 1987, S. 1-8.

[3] Ebenda S. 9.

[4] Theresia Wittenbrink: Fischer, Eugen Kurt. In: Killy Literaturlexikon. Band 3 Dep-Fre. Berlin: de Gruyter, 2008, S. 455

[5] Bernd Alois Zimmermann: Des … [wie Anm. 2] (ohne Seitenzahl)

[6] Hubert Rüttger: Der Siebenstern. Bonn: Hanstein, 1950.

[7] Ebenda S. 66.

[8] Manuel Martinez: Religiöse Skulptur im Goldenen Zeitalter in Spanien. In: Gemäldegalerie – Staatliche Museen zu Berlin: El Siglo de Oro. Die Ära Velázquez. München: Hirmer, S. 67.

[9] Zitiert nach: Jakov Rezvuškin: Gericht über Gott. Aus dem Russischen von Joseph Wälzholz. Staatlicher Verlag. Moskaus 1925 (zweite Auflage). In: Gianna Frölich & Sylvia Sasse (Hg.): Gerichtstheater. Drei sowjetische Agitgerichte. Leipzig: Leipziger Literaturverlag, 2015, S. 65.

[10] Ebenda S. 7-8.

[11] Ebenda S. 8.

[12] Jakov Rezuškin: Gericht … [wie Anm. 8] S. 66.

[13] Ebenda S. 13.

[14] Siehe Torsten Flüh: Oktobern als Befreiung und Disziplinierung des Menschen. Zur Ausstellung Das sowjetische Experiment und der Filmedition Der Neue Mensch. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2017 21:47.

[15] Siehe Torsten Flüh: Von der Design-Wende. Zur Tagung Verhaltensdesign im Hybrid Lab. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Dezember 2016 21:12.

[16] Gianna Frölich & Sylvia Sasse (Hg.): Gerichttheater … [wie Anm. 8] S. 162.

[17] Materialien zum Gericht über Gott. In: Ebenda S. 104-106.

[18] Bernd Alois Zimmermann: Des … [wie Anm. 2] S. 28-29.

[19] Ebenda S. 30-31.

[20] Calderon de la Barca: AUTOS SACRAMENTALES, ALEGORICOS, Y HISTORIALES. Madrid: de Murga, 1717. (Digitalisat)

[21] Hubert Rüttger: Der … [wie Anm. 6] S. 6.

[22] Ebenda S. 9.

[23] Ebenda S. 21.

[24] Ebenda S. 22.

[25] Ebenda S. 41.

[26] Rüttger zitiert nicht zuletzt ein kryptisches George-Gedicht zum Schluss.
       Hegt den Wahn nicht, mehr zu lernen,
       Als aus Staunen Überschwang;
       Holden Blumen, hohen Sternen
       EINEN sonnigen Lobgesang.
       Ebenda S. 65.

[27] Bernd Alois Zimmermann: Des … [wie Anm. 2]

[28] Hubert Rüttger: Der … [wie Anm. 6] S. 7. 

Indiens und Europas Mythen der Geschlechter - Kalki Subramaniam spricht mit Claudia Reiche über Hijra Fantastik und sieht Die Zauberflöte in der Deutschen Oper

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Frau – Indien –  Thirunangai 

 

Indiens und Europas Mythen der Geschlechter 

Kalki Subramaniam spricht mit Claudia Reiche über Hijra Fantastik und sieht Die Zauberflöte in der Deutschen Oper 

 

Zur Finissage von Hijra Fantastik im Schwulen Museum war Kalki Subramaniam aus கோயம்புத்தூர (Coimbatore) im südindischen Bundesstaatதமிழ்நாடு(Tamil Nadu) zum ersten Mal nach Berlin und Europa überhaupt gereist. Neben der Landeshauptstadt Chennai mit ca. 9 Millionen ist Coimbatore mit über eine Million Einwohnern die zweitgrößte Stadt Tamil Nadus. Berlin war gerade recht frostig, während in Coimbatore die Höchsttemperaturen im November bei ca. 30° C liegen. Am 11. Februar 2017 hatte Kalki Subramaniam auf der alljährlichen Indienkonferenz der Harvard Universität in Cambridge, Massachusetts, eine Rede zu „Indien als einem Land der Vielfalt“ gehalten. Im Gespräch mit Claudia Reiche und begleitet von einer Powerpoint Presentation gab sie einen sehr persönlichen Einblick in ihre Welt der Hijra, die sie anders nennen würde.

  

Der Zufall und die Umstände wollten es, dass der Berichterstatter eine Repertoireaufführung von Wolfgang Amadeus Mozarts Die Zauberflöte, Libretto Emanuel Schikaneder, mit Kalki Subramaniam in der Deutschen Oper besuchte. Natürlich kennt man Die Zauberflöte. Oft gehört, gern die erste Oper für Kinder und Jugendliche. Melodien zum Mitsummen und auch noch recht lustig. Kalki besuchte zum ersten Mal überhaupt ein europäisches, ja, deutsches Opernhaus. Würde die verwickelt halbernste, märchenhafte Handlung sie überhaupt interessieren? Dank der Übertexte in Englisch fand sie schnell einen Einstieg in die märchenartige Opernhandlung, in der unablässig die Geschlechterrollen unter den Bedingungen der Spätaufklärung verhandelt werden. Die Zauberflöte führt die neuen Werte der europäischen Aufklärung vor und übt ihre Geschlechterrollen fast mit jeder Strophe ein.


© Chris Paxton

Erst mit den Fragen einer akademisch-ausgebildeten Frau und, wenn man es unbedingt als Markierung will, Transfrau aus Coimbatore lässt sich das kulturelle Erbe einer Repertoireaufführung der Deutschen Oper annährend ermessen. Wie oft spielen sie das Stück? – Sie spielen fast jeden Abend eine andere Oper, mit Bühnenbildern, die noch aufwendiger sein können, als dieses in der Inszenierung von Günter Krämer mit dem Bühnenbild von Andreas Reinhardt. Nach 10 Jahren mit gelegentlichen Aufführungen pro Spielzeit spielen alle Mitwirkenden genau und hochkonzentriert. Die Sänger*innen des Abends, internationale und nationale Spitzenkräfte aus dem Ensemble und von anderen Opernhäusern in Deutschland und Europa. Kalki war fasziniert davon, wie gut und genau alle spielten, sangen und musizierten. Dahinter steckt ein ganzer Apparat, der den Ablauf gewährleistet. All das, was deutsche oder Berliner Opernbesucher*innen für selbstverständlich nehmen, faszinierte Kalki als außergewöhnliche Leistung. – Wir werden auf Die Zauberflöte zurückkommen.


© Chris Paxton 

Vielleicht ist Kalki Subramaniam eine entfernte Tochter Gayatari Chakravorty Spivaks. Denn beide knüpfen an die indische Mythologie der Ramayana und des Mahabharata an, um sich in einen Diskurs der Differenz und geschlechtlichen Diversität statt der Identität einzuschreiben. Im Gespräch mit Claudia Reiche klingt bei Subramaniam mehrfach eine Distanz zum populistisch-identitären Hindu-Nationalismus an. Sie will keine Moschee zerstören, um an ihrer Stelle (wieder) einen Hindu-Tempel zu errichten. Ihre Havard-Rede zur Diversität Indiens eröffnet sie trotzdem und queer mit der Anknüpfung an die indischen „mythologies … like Ramayana und Mahabharata“, die „the diversity of gender fluidity, of sexual orientation“ feierten.[1] Korrespondierend dekonstruiert einer der frühen Texte Spivaks eine der wichtigsten Frauengestalten des Mahabharata namens Draupadi.


© Chris Paxton 

Spivak nahm 1981 ihre Übersetzung der Kurzgeschichte Draupadi von Mahasveta Devi zum Anlass, um sogleich die Rolle Draupadis als Frau und Nicht-Arierin zu befragen. Die Frage des Namens spielt keine ganz unwichtige Rolle. Denn Spivak weist daraufhin, dass Draupadi als Stammesangehörige zunächst als „tribalized form“ Dropdi genannt wird. 

Der antike Draupadi ist vielleicht die berühmteste Heldin des indischen Epos Mahabharata. Der Mahabharata und der Ramayana sind die kulturellen Zeugnisse der sogenannten arischen Zivilisation Indiens. Die Stämme sind älter als die arische Invasion. Sie haben kein Recht auf heroische Sanskrit-Namen. Weder das Verbot noch die Bedeutung des Namens dürfen jedoch zu ernst genommen werden.[2]


© Chris Paxton 

Draupadi im Mahabharata ist nach den Ansichten und Regeln der späteren Kolonisatoren, den Briten, eine schwierige, mythologische Frauengestalt. In ihrer Dekonstruktion deckt Spivak die Ambiquität auf. Im Mythos wird sie in die Nähe der Göttin लक्ष्मी, Lakschmi, für Glück, Schönheit und Reichtum gerückt.[3] Im Süden Indiens wird sie gar in vielen Tempeln verehrt. Doch für die arischen wie europäischen Kolonisatoren wird sie dadurch, dass sie zugleich mit fünf Brüdern verheiratet ist, höchst ambig. Sie wird moralisch der Polyandrie wie der Prostitution beschuldigt.[4] Spivak sieht den Mythos selbst in einer kolonisatorischen Funktion. 

Auf der Ebene des Textes spielt dieser schwer fassbare und zufällige Name jedoch eine Rolle. Um über diese Rolle spekulieren zu können, könnten wir den Mahabharata selbst in seiner kolonialistischen Funktion im Interesse der sogenannten arischen Invasoren Indiens betrachten. Es ist ein zuschreibendes Epos, in dem die „heilige“ Geografie einer antiken Schlacht langsam durch nachfolgende Generationen von Dichtern erweitert wird, so dass sich die säkulare Geographie der expandierenden arischen Kolonie als identisch mit ihr darstellen und sich somit rechtfertigen kann. Dieses riesige und anonyme Projekt macht es zu einem unvergleichlich heterogeneren Text als der Ramayana.[5] 


© Chris Paxton 

Mythologien, Benennungen und Verortungen praktizieren immer schon einen identitätsstiftenden Gestus. Dem Dilemma der Mythologien lässt sich kaum entkommen, wenn man sich nicht wie Spivak einer radikalen Identitätskritik durch die Dekonstruktion verschreibt. Doch Spivak betont eben den „unvergleichlich heterogenen Text“ des Mahabarata. Die Heterogenität des Texts schafft allererst die Bedingungen für eine Vielfalt, während der Hindu-Nationalismus die Heterogenität in eine Homogenität zu verwandeln beansprucht. 

Der feindliche Chef beginnt an Draupadis sari zu ziehen. Draupadi betet still zum inkarnierten Krishna. Die Idee des Gesetzerhaltens (Dharma) materialisiert sich als Kleidung, und wenn der König an ihrem sari zieht, scheint es immer mehr davon zu geben. Draupadi ist unendlich gekleidet und kann nicht öffentlich ausgezogen werden. Es ist eines von Krishnas Wundern.[6]


© Chris Paxton 

Wie der Mythos oder die Mythologien eines Landes gelesen werden, wird entscheidend. Denn es geht in den oft schwer durchschaubaren Genealogien der Mythen nicht darum, wer wirklich aus einem Stamm oder Stammbaum hervorgegangen ist, sondern wie er oder sie, siehe Drapdi/Draupadi, in einen solchen integriert wird oder werden kann. Lässt eine solche Genealogie, wie es Kalki Subramaniam nennt, „beautiful gender fluid people“ zu? Oder wie müssen sie auf welche Art und Weise homogenisiert werden? Die Homogenisierung der Geschlechter Indiens und des indischen Geschlechts findet durch die Kolonialisierung der Arier und Briten als Europäer und europäische Elite statt. Denn es ist die britische Kolonialmacht, die mit dem Erlass zur Registrierung der kriminellen Stämme und Eunuchen 1871, bestimmte Stämme (Tribes) allererst kriminalisiert und ausgrenzt. Darauf hat Kalki Subramaniam in ihrer Havard Rede kraftvoll Bezug genommen. 

What was once a country that was celebrating man becoming a woman or woman becoming man, which you can see in all our scultures, scriptures, that diversity, that celebration, it was destroyed after the arrival oft he British in our country. With their narrow minded politics, law and values it has definitely destroyed our country.[7]


© Chris Paxton 

Ein irgendwie „natürliches“ Geschlecht gibt es nicht. Kein Geschlecht, das natürlicher wäre als ein anderes. Es geht immer um die sprachliche Konstruktion und die Integration von Genealogien bis hin zu Bio-Logien. In den antiken Mythologien – auch und besonders der griechischen – sind die verwandtschaftlichen Beziehungen unübersichtlich und verwirrend, ja, chaotisch. Wer gehört zu wem? Wer gehört wohin? Anders gesagt: Zunächst denkt man immer, man ist zu blöd, um die Abstammungen zu überblicken. Dann sieht man, die wunderbar verästelten Stammbäume der Altertumsforscher aus dem 19. Jahrhundert, als hätte es von Anfang ein System der Geschlechter gegeben. Im 19. Jahrhundert werden die Geschlechter in Europa für die Welt geordnet, kategorisiert und zugeschnitten. Selbst die antiken Schreiber in Griechenland scherten sich wenig um die Genealogie ihrer Götter, Halbgötter und Menschen. Sie schrieben einfach neue in eine ebenso lose wie endlose Genealogie ein. So wurden und werden Identitäten erzeugt, worauf Gayatari Chakravorty Spivak mit Mahabharata einen Wink gegeben hat.[8]


Kalki Subramaniam 

Für Homi K. Bhabha spielt Mahabharata als Mythos der indischen Kultur in The Location of Culture keine Rolle. Doch er hat Spivaks Kritik am Kapitalismus als Einteilung der Welt in Erste und Dritte Welt unterstützt.[9] Bhabha fragt: „Wenn wir die „großen Erzählungen“ anfechten, was schaffen wir dann mit alternativen Verhaltensweisen, um differentiale (Jameson), kontrapunktische (Said), unterbrechende (Spivak) Geschichtlichkeiten der Rasse, des Geschlechts, der Klasse, der Nation innerhalb einer wachsenden transnationalen Kultur zu artikulieren?“[10] Für Kalki Subramaniam sind es auch nicht wirklich die großen Mythologien, die sich als Ort der Kultur lesen ließen. Sie erzählt stattdessen von der Gewalt, die ihr und ihren Freundinnen durch ein vermeintlich sanktioniertes, kulturelles Wissen zugefügt worden sind.

 
© Claudia Reiche

Diskriminierung schafft das Andere, das Fremde, das Falsche, das Kranke, indem sie es vom homogenisierten Wissen einer Kultur abtrennt. Diskriminierung heißt nicht Differenzierung, sondern Abtrennung. Sie ist nicht einfach eine Charakterschwäche oder Böswilligkeit, sondern entspringt einer Kultur und ihren Wissensformationen. Diese Kultur hat Kalki Subramaniam früh in der Schule von Mitschülern, Lehrern, Eltern und Therapeuten zu spüren bekommen. Die Gewalt der Kultur nahm eine medizinisch-psychologische, womöglich wohlmeinende Form an, die massiv zu erschrecken vermag, wenn Kalki auf ihre Weise davon erzählt: 

At 15 I wanted to commit suicide because I had severe discrimination, and bullying and teasing at school where I studied. Not only by my fellow students, but also by my teachers. At 18 I was sent to a mental health center for a month, because they thought it is a disease. My family thought it is some kind of a disorder. But no treatment happened because I don’t have an illness.[11]  

 
Kalki Subramaniam: PHALLUS, I CUT (Tamil with English subtitle, Screenshot T.F.)

Dennoch oder gerade deshalb betont Subramaniam in ihrer Arbeit als Aktivistin, die Rolle von Bildung. Ist das kein Widerspruch? Es lässt sich als ein Paradox der Kultur und des Wissens formulieren, dass es sich nicht ohne Wissen und Praktiken des Fragens, auch des Infragestellens kultureller Praktiken wie der Einweisung in ein „mental health center“, möglich ist, eine Fluidität der Kultur und Genealogien zu bewirken. Als Transgender-Aktivistin, was man aktuell durchaus als ein Wissensformat benennen kann, kämpft Kalki Subramaniam mit ihrer Stiftung gegen ein diffuses und entrechtendes Wissen, das oft euphemistisch für Unwissen gehalten wird. Sie setzt mit ihren Aktionen und künstlerischen Produktionen auf Bildung der durch das hinduistische Kastensystem, und damit des Mahabharata, herabgewürdigten wie rituell gefeierten Hijras. Wie entsteht Bildung durch Subramaniams Aktivismus?


Kalki Subramaniam: PHALLUS, I CUT (Tamil with English subtitle, Screenshot T.F.) 

Kalki Subramaniam setzt auf Kreativität. Sie malt, tanzt, filmt und last but not least dichtet. Dichten heißt mit der Sprache arbeiten. Das ist vielleicht der schwierigste, aber auch effektvollste Bereich der Kreativität. Schreiben und Dichten heißt die vorherrschenden Narrative, siehe Spivak wie Bhabha, umzuschreiben. Andere queere Geschichten schreiben und artikulieren. Am 9. Dezember 2018 wird Kalki Subramaniam auf dem Kazhcha-Niv Indie Film Fest bei der Alliance de Française einen Vortrag über „Transgender people in Indian Cinema – Past, present and the future“ in Trivandrum im südindischen Bundesstaat Kerala halten. In gewiss abgewandelter Form, doch Magnus Hirschfelds Devise Per scientiam ad justitiam nicht unähnlich[12], kämpft sie für ihre und ihrer Schwestern Rechte durch Wissen und Kreativität. Die Kreativität ist insbesondere eine andere Praxis des Wissens. 

PHALLUS, I CUT 

No transcendental Yoga 

I performed 

to transform myself 

into a woman. 

I cut my phallus, 

soiled in blood 

and 

transcending death 

I became a woman. 

„Oh, you do not have 

ovary. 

Woman, you art not!“ 

said you. 

Well. 

[13]


Kalki Subramaniam: PHALLUS, I CUT (Tamil with English subtitle, Screenshot T.F.) 

Die Geschlechtsoperation wird von Kalki Subramaniam poetologisch als eine Kombination widersprechender Stimmen formuliert, montiert und verdichtet. Es gibt eine materialistische Ebene in ihrem Gedicht. Doch dieser Materialismus ist ebenso sehr auf den abgeschnittenen Penis wie Phallus wie auf das Sprachmaterial, dem, was andere über sie als Frau bio-logisch – „you do not have ovary“ – sagen, bezogen. Subramaniam hat ihr Gedicht zunächst in Tamil geschrieben, um es dann ins Englische zu übersetzen. Dabei sind Doppel- und Mehrdeutigkeiten entstanden, die sich nicht fassen oder auflösen lassen. Beispielsweise überschneiden sich are und art syntagmatisch. Müsste es nicht heißen: „Woman, you are not!“ Oder ist Frau immer schon ein „künstliches“ Geschlecht? Könnte es sich gar um einen Tippfehler handeln? Oder geht es genau um diese nicht festlegbare Materialität des Textes, der eine Praxis der Artikulation inszeniert und zugleich Wissen materiell transformiert? Phallus, I cut wird sich nicht restlos ins Deutsche übersetzen lassen und führt die Reste des Tamil mit. Diese Fragen können bedacht, müssen aber nicht beantwortet werden.


Kalki Subramaniam: Her name is Sowmya (Screenshot T.F.) 

Subramaniam hat mit ihrer Sahodari Stiftung ein umfangreiches Aufklärungs- und Bildungsprogramm entwickelt. Mit ihrer Stiftung hat sie unter anderem 2013 einen Film über ihre Freundin Sowmya produziert. Denn Sowmya, die als Hijra dem Betteln wie der Prostitution nachging, nein, nachgehen musste, beging 2012 Suizid, was Subramaniam schwer und nachhaltig erschütterte. Sie machte einen Film aus mehr oder weniger zufälligen Aufnahmen, um das Leben und die Freundlichkeit ihrer Freundin zu dokumentieren. Sowmya hatte anders als Kalki keine Bildung genossen, war in schwierigen familiären Verhältnissen aufgewachsen und sah keine andere Möglichkeit dem Lebensumständen einer Hijra zu entkommen, als Suizid zu begehen. Die Benennung als Hijra wird von Kalki denn auch als problematisch empfunden. Deshalb schlägt sie, ganz Sprach- und Bildungsaktivistin, vor einen anderen Begriff aus dem Tamilischen zu verwenden:  திருநங்கை bzw. Thirunangai. Thirunangai heißt so viel wie angesehene, respektierte Frau. Thirunambi wird in Tamil für einen Transmann und Thirunar für eine Transperson gebraucht.    

 
Kalki Subramaniam

Dann sahen, lasen und hörten wir eine exzellente Aufführung von Die Zauberflöte in der Deutschen Oper mit Ido Arad am Pult, Tobias Kehrer als Sarastro, Matthew Newlin als Tamino und Rocio Pérez als Königin der Nacht sowie den drei Solisten des Knabenchors der Dortmunder Chorakademie als Knaben mit Flügeln. Vor allem das Libretto von Emmanuell Schikaneder produziert die Werteoper der Spätaufklärung par excellence. Wolfgang Amadeus Mozart hat die neuen Werte, die vor allem als anti-katholische formuliert werden, in eine harmonische, melodiöse Musik gebettet. Es ist, als wolle Mozart sagen: Es ist nichts passiert. Die Zukunft wird heiter und hell zum Mitsingen mit Zauberglockenspiel und Zauberflöte. Dabei vermittelt Die Zauberflöte hoffnungsfrohe Werte, die die Marienverehrung des Katholizismus in das Reich des Unwissens und der Königin der Nacht verwandeln. Am Schluss, und das hat Günter Krämer recht deutlich im Lichtwechsel inszeniert, versinkt das schwarze, obskure Reich der Königin der Nacht, damit die ägyptische Sonne des (neuen) Wissens in Sarastros Reich erstrahlen kann. 

MOHR, KÖNIGINN 

Zerschmettert, zernichtet ist unsere Macht, 

Wir alle gestürzet in ewige Nacht. 

Sie versinken 

SARASTRO 

Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht, 

Zernichten der Heuchler erschlichene Macht. 

CHOR VON PRIESTERN 

Heil sey euch Geweihten! Ihr drangt durch die Nacht, 

Dank sey dir, Osiris und Isis, gebracht! 

Es siegte die Stärke, und krönet zum Lohn 

Die Schönheit und Weisheit mit ewiger Kron'.


© Bettina Stoess

Sarastro und sein Reich installieren einen freimaurerisch gefärbten Humanismus. – „In diesen heil’gen Hallen, kennt man der Rache nicht …“ –, während die Königin der Nacht mit der stimmlich höchst anspruchsvollen Arie „Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“ diese zelebriert. Das musikalische Faszinosum der Koloraturen in der Rachearie steht im größtmöglichen Gegensatz zum befriedenden Bass des Sarastro der Hallenarie. Die Rache ist nicht nur eine charakterliche Schwäche. Sie steht auch im Gegensatz zu einem Humanismus, der durch Verzicht und Prüfungswissen erlangt wird. Denn Tamino und Pamina müssen und dürfen an der Prüfung in Sarastros Tempel teilnehmen. Der Humanismus der Freimaurer befreit und schließt zugleich in eine Gemeinschaft ein, weil das Wissen verrätselt wird. Das humanistische Wissen der Freimaurer bringt sie rituell nicht nur als Gemeinschaft hervor, vielmehr wird in diesem Humanismus die Frau und das Weibliche z. B. als emotionale und unkontrollierte Rede oder Schwatzhaftigkeit ausgeschlossen. 

PAPAGENO 

isst hastig 

Nicht wahr Tamino, ich kann auch schweigen, wenns seyn muss. - Ja, bey so einem Unternehmen da bin ich Mann.


© Bettina Stoess 

Das (neue) Wissen von den verbindlichen Werten – „Schönheit und Weisheit“ – wird in der Zauberflöte durch ebenso geheimnisvolle Riten und Prüfungen vermittelt wie erworben. Dazu gehört das Schweigegebot, das den Mann macht. Denn die Schwatzhaftigkeit Papagenos (Philipp Jekal), der sowohl von den Damen der Königin der Nacht mit einem Schloss vor dem Mund zum Schweigen gebracht wird wie keine Aufnahme in den Tempel Sarastros findet, verhindert die Teilhabe am Wertesystem und dem Wissen als mächtige Weisheit. Es geht in der Zauberflöte um eine Wissenspraxis, die Klassen und Geschlechter hervorbringt. Pamina (Elena Tsallagova) darf letztlich an dem Wissen Taminos und des Tempels teilhaben, weil sie sich dem Schweigen Taminos und dem durch und durch männlich formulierten Wissen als Weisheit unterwirft. Sie formuliert ihre Selbstunterwerfung als Triumph. Von nun an soll Tamino mit der symbolischen Zauberflöte den „Ton“ angeben. 

PAMINA 

Wir wandelten durch Feuergluthen, 

Bekämpften muthig die Gefahr. 

Zu Tamino 

Dein Ton sey Schutz in Wasserfluthen, 

So wie er es im Feuer war.

 

Vorgeführt werden in der vermeintlich harmlosen und lustigen „deutschen Oper“ in eben deutscher Sprache, Die Zauberflöte, Prüfungen, um ein Wissen zu generieren, das Pamina aus der obskuren Macht ihrer Mutter herauslöst bzw. befreit. Denn Prüfungen fragen nicht nur Wissen ab, sie belohnen auch das neue Wissen. Belohnt wird dieses Wissen als exklusive Weisheit mit einer rituellen Partnerschaft nicht nur im Bett, sondern in den geteilten Werten. Man wird es einmal so sagen können: Die Zauberflöte als Narrativ der Aufklärung in Form eines freimaurerisch-okkulten Wissens ist nicht das deutsche Mahabharata, aber Ramayana. Geschlechterrollen und Klassen werden machtvoll transformiert und umgewertet. Papageno, der höchst problematische, polygame Machtphantasie hegt, wird wenigstens zur Monogamie im Laufe der Oper erzogen. 

Der Vogelfänger bin ich ja, 

Stets lustig, heissa! hopsasa! 

Der Vogelfänger ist bekannt, 

Bey Alt und Jung im ganzen Land. 

Ein Netz für Mädchen möchte ich; 

Ich fing' sie dutzendweis für mich. 

Dann sperrte sie bey mir ein, 

Und alle Mädchen wären mein. (Erster Akt, 2. Auftritt)

 

#MeToo-fest ist Papageno nicht. Trotzdem finden Kinder und Jugendliche ihn besonders lustig, weil es ja als flockige Melodie rüberkommt, die mit „heissa! hopsasa!“ und eingängigem – „Dann sperrte sie bey mir ein, Und alle Mädchen wären mein.“ – zwar als Überschreitung hörbar bleibt, doch genau dadurch einen begehrenswerten Überschwang verspricht. Für die Opernhäuser in Deutschland und Europa ist Die Zauberflöte unverzichtbar. Sie beschert volle Häuser und trägt damit zum Erhalt einer institutionalisierten Kultur bei. Sie ist wenn nicht das Rückgrat, so doch bestimmt ein entscheidendes Scharnier der europäischen Opernkultur. Wie die vorgeführte Initiation in die exklusive Weisheit von Sarastros Märchen-Tempel, wird Die Zauberflöte zur Einführung in die Faszination und Schrecken der europäischen Oper. Eine passendere Opernaufführung hätte sich der Berichterstatter mit Kalki Subramaniam gar nicht anschauen können. 

 

Torsten Flüh 

 

Katalog 

Claudia Reiche 

HIJRA FANTASTIK 

6 Hefte im Karton, zahlreiche Abbildungen 

Auflage 250 - ISBN: 978-3-930924-25-7 – 

Preis: 20 € 

Texte, Collagen, Kompositionen von Claudia Reiche 

Deutsch, teils Englisch und Tamil 

enthält Beiträge von Ginka Steinwachs, Kalki Subramaniam 

Gestaltung: Verena Gerlach 

Übersetzung: Brigitte Helbling, Seralathan Panneerselvam 

 

Deutsche Oper 

Wolfgang Amadeus Mozart 

Die Zauberflöte 

Fr. 18.01.2019 19:30 Uhr 

Sa. 06.04.2019 19:30 Uhr 

Do. 16.05.2019 19:30 Uhr 

Sa. 01.06.2019 19:30 Uhr

 

 

Kalki Subramaniam 

Sahadori Foundation 

_______________________ 



[1] Zitiert nach: Speech at the Harvard India Conference (Inspire Series). In: Claudia Reiche: Hijra Fantastik. Heft 4: Kalki Subramaniam: Speech … Bremen: thealit, 2018, S. 2.

[2] Gayatari Chakravorty Spivak: „Draupadi“ by Mahasvet Devi. In: Critical Inquiry, Vol. 8, No. 2, Writing and Sexual Difference. (Winter, 1981). Chicago: University Press, 1981, S 387. (Übersetzung T.F.)

[3] Vgl. auch die Schrift Lakschmi von Verena Gerlach in: Torsten Flüh: Slum, Raumfahrt und Ekstase. Zur Installation HIJRA FANTASTIK von Claudia Reiche im Schwulen Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. Oktober 2018 21:08.

[4] Gayatari Chakravorty Spivak: „Draupadi“ … [wie Anm. 2] S. 388.

[5] Ebenda S. 387. (Übersetzung T.F.)

[6] Ebenda S. 388.

[7] Kalki Subramaniam: Speech … [wie Anm. 1] S. 2.

[8] Vgl. zu Spivak und Europa auch: Torsten Flüh: Das Winzige und Europa. Gayatri Chakravorty Spivaks große Mosse-Lecture. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Januar 2014 20:30.

[9] Homi K. Bhabh: The Location of Culture. London/New York: Routledge, 2004, S. 30. (Zuerst 1992)

[10] Ebenda S. 249-250. (Übersetzung T.F.)

[11] Kalki Subramaniam: Speech … [wie Anm. 1] S. 3.

[12] Siehe Torsten Flüh: Gefeierte Enden der Sexualwissenschaft. Zum Festakt für Magnus Hirschfelds 150. Geburtstag im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Mai 2018 16:46.

[13] Kalki Subramaniam: Phallus, I cut. In: Claudia Reiche: Hijra … [wie Anm. 1] S. 6. 

Die Träume und die Kraft des qíng - Zu den umjubelten Vier Träumen von Linchuan der Shanghai Kunqu Opera im Haus der Berliner Festspiele

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China – Traum – Kultur 

 

Die Träume und die Kraft des (qíng) 

Zu den umjubelten Vier Träumen von Linchuan der Shanghai Kunqu Opera im Haus der Berliner Festspiele 

 

Am vergangenen Wochenende boten die Berliner Festspiele im Haus an der Schaperstraße ein einzigartiges Ereignis. Gu Haohao, die Präsidentin des Shanghai Opera Art Center, sprach gar von einer Weltpremiere in der „Weltkulturhauptstadt“. Umjubelt wurden die Aufführungen der vier Traum-Kunqu-Opern von Tang Xianzu, der am 29. Juli 1616 nach einer Beamten- und Dramatiker-Karriere in seiner Geburtsstadt Linchuan, dem heutigen Fuzhou, verstarb. Der 400. Todestag des Ming-Dramatikers führte 2016 dazu, dass Der Traum von Handan von der Shanghai Kunqu Opera Company einstudiert und aufgeführt wurde. Damit hatte das Ensemble die vier Traum-Opern von Tang im Programm und konnte nun in Berlin alle vier an zwei Tagen als Hardcore-Unterhaltung mit Begleitprogramm anbieten.

Die Filmemacherin und Kulturforscherin Ulrike Ottinger hatte 1985 als eine der ersten westlichen Künstlerinnen die Volksrepublik bereist und in ihrem Film China. Die Künste – Der Alltag auch die Kunqu-Kunst in Peking, Sichuan und Yunnan dokumentiert. Seither hat sich viel verändert. Ulrike Ottinger hegt weiterhin ein Interesse an Kunqu, so dass sie die Vorstellungen am Samstag- und Sonntagabend besuchte. Die Gesangskunst, die Gesten, die Akustik erwiesen sich als exzellent. Die Kostüme der Opern mit aufwendigen Seidenstickereien einzigartig, mit einer Liebe zum Detail! Das Shanghai Opera Art Center und die Shanghai Kunqu Opera Company pflegen auf höchstem Niveau ein kulturelles Erbe. „Kun Qu“ ist 2008 nicht nur zum „Intangible Cultural Heritage of Humanity“ von der UNESCO erklärt worden, sie ist auch zur Staatskunst der Volksrepublik China geworden.

 

Der 400. Todestag von Tang Xianzu fiel zwar nicht auf den gleichen wie der Beginn der Kulturrevolution am 16. Mai 1966, doch die Überschneidung der Jahrestage 2016 führte zumindest dazu, dass die Renmin Ribao am 17. Mai 2016 als Parteiorgan der Kommunistischen Partei Chinas sie ungewöhnlich deutlich als „Katastrophe“ kritisierte und erinnerte. Es war nach 40 Jahren ein Bruch mit dem offiziellem Schweigen über die Kulturrevolution.[1] Für Die vier Träume von Linchuan und die auf der offiziellen Website der Pekinger Regierung – Beijing International – angekündigte Premiere von Der Traum von Handan im National Centre for the Performing Arts durch die Shanghai Kunqu Opera Troupe am 16. Juli 2016[2] waren die Überschneidungen des 50. Jahrestags und des 40. als Ende der Kulturrevolution 1976 sowie der 400. Todestag gewiss nicht ganz zufällig. Denn die klassische, chinesische Theater- und Opernkultur galt mit Beginn der Kulturrevolution als revisionistisch. Sie sollte ausgelöscht werden.  

 

Natürlich gab es schon vorher Kunqu und Peking-Opern-Aufführungen in der postkulturrevolutionären Volksrepublik. Doch dabei handelte es sich um Aufführungen von Überlebenden, während die Kultur in Hongkong und Taiwan auch staatlich gepflegt wurde.[3] Chen Kaige hat 1993 in seinem Meisterwerk 霸王別姬, Lebewohl, meine Konkubine, 1993 auf erschütternde Weise die Verfolgung von Peking Opern-Darstellern, insbesondere der männlichen Darsteller von Dan-Rollen, Frauenrollen, während der Kulturrevolution als Film inszeniert. Doch natürlich war sein Film keine Parteilinie. Die Bewertung der Kulturrevolution wie des kulturellen Erbes der Kunqu war zu Beginn der 90er Jahre noch ziemlich offen. Chen Kaiges homosexueller Hauptdarsteller Leslie Cheung aus Hongkong beging 2003 Suizid. Die Haltung zur Kulturrevolution fiel gar 2011 in Zhang Yimous Spielfilm für Jugendliche Shanzha shu zhi lian beschönigend aus.[4] Nur wenn man sich daran erinnert, lässt sich ermessen, welchen Bruch die Partei 2016 offiziell mit ihrer Geschichte und Kulturpolitik vollzog.


Zang Maoxun (ed): Tang Xianzu: Die vier Träume von Linchuan (1567-1644) (Screenshot T.F.) 

Wovon träumte Tang Xianzu? Welche Funktionen haben die Träume? Jeroen Versteele, Dramaturg der Intendanz der Berliner Festspiele, sprach mehrfach davon, dass 臨川四夢,Die vier Träume aus Linchuan ein Zyklus seien. Ein epischer Zyklus hat i.d.R. einen narrativen Kontext, der sich über mehrere Abschnitte oder Teile erstreckt. Als modellhaft für den literarischen Modus Zyklus gilt die Geschichte des Trojanischen Krieges oder auch die der Odyssee. In der Oper wäre Der Ring des Nibelungen der wohl bekannteste Zyklus, der sich über 4 Abende mit 16 Stunden Theater und Musik erstreckt. Doch Die vier Träume von Linchuan bieten erst einmal keinen narrativen Kontext. Vielmehr werden sehr unterschiedliche Träume erzählt. Der Traum von Handan erzählt von einer ungewöhnlichen, politischen Beamtenkarriere. Die purpurne Haarspange thematisiert, so könnte man sagen, den Konflikt zwischen einer privaten Liebe und Verpflichtungen des Beamten gegenüber dem Kaiser bzw. der politischen Führung. Auch Der Traum unter dem Südzweig handelt von politisch, militärischen Verpflichtungen und einer Ehe. Am wenigsten spielen politische Verpflichtungen in Der Pfingstrosen-Pavillon eine Rolle.


Zang Maoxun (ed): Tang Xianzu: Die vier Träume von Linchuan (1567-1644) (Screenshot T.F.)

Bereits in der späten Ming-Dynastie werden zwischen 1567 und 1644 Die vier Träume aus Linchuan als Zusammenstellung veröffentlicht. So gab Zang Maoxun, der Tang Xianzu um nur 4 Jahre überlebte, bereits eine besonders prachtvolle Edition mit zahlreichen, exquisiten Zeichnungen und Gravuren heraus, die in der World Digital Library der Library of Congress einzusehen ist. Das Vorwort haben Tang und Zang verfasst, so dass es wahrscheinlich ist, dass der Dichterdramatiker an der Publikation selbst mitgewirkt hat. Weitere Ausgaben in der National Central Library sind z.B. von Wanli aus dem Jahr 1605 erhalten. Die Ausgabe steht als PDF zur Verfügung.[5] Der Detailreichtum der Abbildungen ist überaus erstaunlich, weil die Illustrationen weit über eine Art Bühnenbild hinausgehen. Die Träume werden fast wie in der graphischen Literatur oder einem Comic als Gedankenblase oder mit reichlich Wolken illustriert.


© Jürgen Sieckmeyer – Der Traum von Handan

Am Samstagnachmittag wurde zunächst Der Traum von Handan mit Zhang Weiwei als Lu Sheng und Cheng Li als Cui Shi aufgeführt. Einerseits gibt es, wie die frühen Ausgaben der von Zang Maoxun und Wenli zeigen, eine ursprüngliche Schrift- und Buchtradition der Kunqu, 崑曲oder Kun-Lied. Andererseits wird für Kunqu eine körperlich-mündliche Tradition als stilbildend betont, worauf Ágota Révész im Gespräch mit Anne Phillips-Krug hingewiesen hat: „Man muss den Körper früh genug trainieren, sonst lernt er das nicht. Diese Stücke sind in den Körpern. Ich habe zum Beispiel mal eine alte Dame, über 80, eine Schauspielerin, gefragt, wie sie die Stücke, die sie früher gelernt hatte, nach der Kulturrevolution wieder spielen konnte, und sie antwortete – ich kriege Gänsehaut – mit einem Satz: Mein Körper erinnerte sich.“[6] Jede Geste zählt, die Haltung der Finger verläuft synchron zur Stimme und dem Text. Kunqu ist in gewisser Weise eine Körperübertragung und totale Körperdisziplinierung.


© Jürgen Sieckmeyer – Der Traum von Handan 

Obwohl der chinesische Titel nicht von Traum, sondern Handan ji, vom Bericht oder Märchen spricht, kreist der Dramenstoff um einen Traum von einem erfolgreichen Leben. Tang Xianzu hat ein älteres Tang-Narrativ, Zhenzhong ji, Die Welt im Kopfkissen, verwendet, das mit dem Kopfkissen deutlicher auf den Schlaf und Traum verweist. Denn der mit seinem bescheidenen Leben unzufriedene Lu Sheng bekommt in einem Gasthaus auf der Straße nach Handan von einem Lehrer des Daoismus ein Kopfkissen überreicht, auf dem er einschläft. Daraufhin entwickelt sich seine ganze Lebensgeschichte, die sowohl komische wie ernste Züge trägt. Denn im Traum wird er mit einer reichen Beamtentochter verheiratet, die ihm mit ihrem Geld zur Beamtenprüfung verhilft. Lu Sheng glaubt nicht daran, dass er die Beamtenprüfung schafft. Doch „der einflussreiche Bruder“, wie Cui Shi es nennt, nämlich ihr Geld, lässt ihn nicht nur die Prüfung bestehen, sondern macht ihn sogar zum Jahrgangsbesten. Was witzig erzählt und lustig dargestellt wird, lässt sich schnell als Karriere durch Korruption verstehen.


© Jürgen Sieckmeyer – Der Traum von Handan 

Handan ji hat u. a. verschiedene Interpretationen hinsichtlich der Wahrnehmung von Zeit erfahren. Beispielsweise wurde von Zhong Xing in seinem Gedicht Dem Traum von Handan auf einem Boot zuschauen und aus Versehen auf meiner Linken schreiben als eine Verwirrung und Fragwürdigkeit der Wahrnehmung von Zeit formuliert, wie Cun Mei in The Novel and Theatrical Imagination in Early Modern China gezeigt hat.[7] Man könnte nach Cun Mei sagen, dass der Traum im Umfeld des Theaters, insbesondere mit Tang Xianzu philosophisch wie poetisch Zeit in der späten Ming-Dynasty thematisiert. Doch in der Inszenierung von Xie Pingan und Zhang Mingrong hat man nicht den Eindruck einer verqueren Liebesgeschichte oder einer philosophischen Diskussion beizuwohnen, vielmehr wird die völlig unberechtigte Karriere im chinesischen Beamtensystem der lese- und schreibkundigen Mandarine oder auch dem Mandarinat vorgeführt. Auf fast schon Brechtische Weise der Verfremdung wird die Karriere durch Korruption als Traum, der sich in einen Albtraum verkehrt, vorgeführt.

 

Der Traum von Handan ließ sich am vergangenen Samstag fast mühelos als Antikorruptionsoper verstehen. Das war ebenso überraschend wie schlüssig. Für chinesisches Publikum lassen sich parallelen zur Antikorruptionskampagne von Xi Jinping seit November 2012 wenigstens in dieser Inszenierung nur mit Mühe übersehen und überhören. Der Traum von Handan ist als Satire aktuell und wenigstens seit 2016 auf Parteilinie. Zwar gab es auch schon vorher Hinweise darauf, dass der von einem Daoisten, vielleicht könnte man heute sagen Pragmatiker, durch ein Kopfkissen beförderte Traum eine ebenso lustige wie hoch künstlerische Kritik am Beamtenwesen des imperialen China und seiner wechselnden Dynastien war. Aber die plötzliche Wiederbelebung dieser Oper passt in einen größeren politischen Kontext. Denn Tang Xianzu war selbst Beamter und hatte eine erfolgreiche Beamtenkarriere absolviert, als er sich wieder in die Provinz nach Linshuan als Dichter zurückzog.

 

Gu Haohao hat in ihrem Grußwort die „600 Jahre alte Geschichte“ der Kun-Oper betont und sie als „Schatz der traditionellen chinesischen Kultur“ beschrieben. Sie sieht in dem „Dramenzyklus Die vier Träume aus Linchuan“ auch eine „tiefgreifende() humanistische() Konnotation“, um an erster Stelle mit ihrem Titel als „Parteisekretärin“ zu unterzeichnen. Sie ist selbst in der Kunqu-Kunst ausgebildet und im Rollenfach der 马旦, der weiblichen Kämpferin, mit der Shanghai Kunqu Opera Troupe aufgetreten. Anders gesagt: die bunten Bilder und die Pracht ebenso wie die Musik haben eine durchaus zeitgemäße Funktion in der chinesischen Kulturpolitik. Statt auch nur noch eine Hauch von Revisionismus gehört Kunqu neben der Peking-Oper heute zur Identitätspolitik der Volksrepublik China, worauf auch Ágota Révész hinweist. 

Und die beiden größten Formen repräsentieren das ganze Land. Das ist wirklich extrem politisch. Peking-Oper ist China und Peking-Oper soll Soft Power generieren, Peking-Oper soll die Botschaft von China ans Ausland weitergeben. Entsprechend bekommt Peking-Oper auch innerhalb Chinas große Aufmerksamkeit. Und natürlich ist es schwierig, weil unser Theaterverständnis so extrem anders ist, dass wir alles als Propaganda wahrnehmen, was im Fall von Peking-Oper nur teilweise stimmt. Das ist sehr oft Propaganda, aber gleichzeitig repräsentieren die Opern wie gesagt auch immer noch etwas anderes.[8]

 

Die hohe und höchste Kunst der Kunqu, wie man sie nur sehr selten in Berlin und Europa überhaupt zu sehen bekommt, dient als re-formiertes, kulturelles Erbe der Identität einer Staatspartei, die um ihre Legitimation ringt. Denn es geht in der Volksrepublik und ihrem Parteiapparat um eine ständige Aushandlung von regionalen, wenn nicht gar separatistischen Interessen und einer Vereinheitlichung wie Harmonisierung einer chinesischen Staatskultur. Wenn man so will, dann agieren nach wie vor daoistische gegen konfuzianische Prinzipien. Die Konfuzius Institute des Ministeriums für Bildung der Volksrepublik China im Ausland knüpfen ebenfalls deutlich an eine einst in der Kulturrevolution verworfene Kultur an, weil sie eine homogenisierende Funktion haben. Denn die Homogenisierung äußerst diverser und vielsprachiger Kulturen auf dem chinesischen Staatsterritorium findet bereits mit der aktuellen Form der Kunqu statt.

 

Der Berliner Kulturwissenschaftler Stefan Willer hat sich genauer mit dem Zusammenhang von kulturellem Erbe, Nation und Identität befasst. In Erbe: Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur schreibt er für die Zeit um 1800 von einer „Engführung von >Erbe< und >Nation< (…), die man als eine Politisierung“ bezeichnen könne. „Diese neue, politisierte Bedeutung des Wortes >Erbe< begründet die Denkfigur des kulturellen Erbes, die zum Medium für die ideologische Etablierung der Nationalstaaten wurde. Sie steht in engem Zusammenhang mit der Denkfigur >Tradition<.“[9] Kunqu nimmt in der Volksrepublik China heute eine zentrale Erbe-Funktion ein, um die Volksrepublik als Nationalstaat zu stabilisieren. Gleichzeitig wird durch die „humanistische Konnotation“ eine allgemeine, wenn nicht gar globale Konnektivität formuliert. So erhält denn auch 湯義仍先生紫釵記, Tang Yireng xian sheng Zi cha ji, Die purpurne Haarspangevon Meister Tang Yireng Züge, die an die Geschichte von Tristan und Isolde erinnern können.


© Jürgen Sieckmeyer – Die purpurne Haarspange 

In Kontext dieses Stückes wird auf Tang Xianzus, der den , zi oder Höflichkeitsnamen Yireng erhielt, soviel wie Anhaltende Gerechtigkeit, Integrität verwiesen. Er sei ein aufrichtiger und freimütiger Mann gewesen, der nicht nach Reichtum und Macht strebte. Er habe sich in seiner Jugend geweigert, mit Zhang Juzheng, dem Großsekretär, zu kuscheln. Zweimal scheiterte er bei den Beamtenprüfungen, bevor er schließlich den jin shi-Grad erreichte. Sein Denkmal über die Bestechung der Regierung ärgerte Kaiser Wanli Shenzong (Regierungszeit 1573-1620). Schließlich trat Tang zurück und kehrte nach Linchuan zurück, wo er sein Zuhause namens Yumingtang (Halle der Jade Camelia) baute und sich ganz dem Drama und dem literarischen Schreiben widmete.[10] Durch politische Intrigen wird der Dichter und Beamte Li Yi von seiner geliebten Huo Xiaoyu getrennt. Schließlich erscheint Huangshan Ke, der Gelbe Krieger, der das unglückliche Paar wieder zusammenbringt. Doch wer ist Huangshan Ke?


© Jürgen Sieckmeyer – Die purpurne Haarspange 

Die Überschneidung von Dramenerzählung und biographischer Skizze legt für Die purpurne Haarspange eine Ähnlichkeit nahe, die bereits in der Ming-Zeit kolportiert wird. Mit Huangshan Ke betritt eine fabelhafte Figur die Bühne. Denn der Gelbe Krieger lässt sich schwer den tradierten Mythologien zuordnen. Ist er ein personifizierter Traum, der den Liebenden das Zusammentreffen ermöglicht? Der Traum als Ort einer im Leben unmöglich gewordenen Begegnung? Die Schlussszene könnte ebenso gut ein erträumter Liebestod und eine Erfüllung der im Leben unmöglich gewordenen Liebe sein. Damit könnte der Traum nicht nur als Ort des Tragischen, sondern vielmehr der Wunscherfüllung verstanden werden. Doch das ist dann durchaus ein Unterschied zur verfehlenden Vereinigung von Tristan und Isolde bei Richard Wagner.[11]


© Jürgen Sieckmeyer – Die purpurne Haarspange 

In der biographischen Skizze gibt es nicht nur parallelen zur Beamtenkarriere. Die Formulierung, dass Tang Xianzu sich „in seiner Jugend geweigert“ habe, mit dem namentlich genannten Großsekretär Zhang Juzheng „zu kuscheln“, sticht überhaupt als erwähnenswert hervor. Unschwer lässt sich damit ein Hinweis auf eine homosexuelle Praxis lesen, die offenbar in der Ming-Dynastie üblich war. Beamtenkarriere und die persönliche Beziehung zu Zhang Juzheng korrespondieren. Wu Cuncun hat auf Homoerotic Sensibilities in Late Imperial China seit der Ming-Dynastie hingewiesen und zahlreiche Quellen und Formulierungen zur „male-love (nanse, nanfeng)“[12] ausgewertet. Sie habe sich zunächst gewundert, warum niemand über dieses Thema in der chinesischen Literatur geschrieben habe und davon in ihrem Studium keine Rede gewesen sei. Dann habe sie sich darüber gewundert, wieviel mehr man darüber wissen konnte, und welchen Stellenwert „male-love“ in der Kulturgeschichte der letzten Jahrhunderte im chinesischen Kaiserreich und früherer Perioden gehabt haben mag. 

The first question, which touches on problems of modernity, Westernization and revolutionary conservatism.[13] 

 

Wu Cuncun versteht in ihrer Analyse der chinesischen Literatur und Kultur Sexualität als „a cultural system“, weil „sexual behaviour its not easily isolated from other aspects of culture“.[14] Sie benutzt den Begriff „sensibility“ teilweise im Zusammenhang von „fashion“, um „a complex of aesthetic and behavioural preferences that found expression in cultural life and contributed to contemporary taste“ zu beschreiben.[15] Ein wichtiger Bereich dafür ist nicht einfach eine Egalisierung von Gefühlen, wie sie in einem globalen Humanismus der aktuellen Kunqu-Formen versprochen werden, sondern die Rolle der Leidenschaft (qing) als energetische Kraft. In diesem Bereich sticht nach Wu der Dramatiker und Dichter Tang Xianzu hervor. Mit 情 (qing) in einer Bedeutungsbreite von Leidenschaft, Gefühl und Liebe ersetzt Tang die konfuzianische Obsession von einer inneren Natur (xing).[16] Die Funktion des 情 (qing) in seiner umwertenden Kraft steht offenbar im Kontext der Träume wie in Die purpurne Haarspange. Für Der Pfingstrosen-Pavillon als Höhepunkt der vier Traumerzählungen hat Tang Xianzu seine Konzeption des 情 konkret formuliert.


© Jürgen Sieckmeyer – Der Pfingstrosen-Pavillon 

Der Traum und die Energie des 情 entfalten in Der Pfingstrosen-Pavillon ihre größte Kraft. Der Traum wird nun nicht nur zur erotischen Urszene eines Begehrens, vielmehr wird 情 vom Richter der Unterwelt anerkannt, um Du Liniang (Shen Yili) als Geist unter die Lebenden und zu ihrem geträumten Geliebten Liu Mengmei (Li An) zurückkehren zu lassen. Doch nach der chinesischen Mythologie und Kultur sind Geister besonders furchterregend, so dass Liu Mengmei seine Furcht nur durch qingüberwinden kann, um sich mit Du Liniang zu vereinen. Gleichwohl wird diese Art einer Überwindung des Todes und der Furcht durch 情 zu einer traumartigen Szene. In seinem Vorwort zu Der Pfingstrosen-Pavillon formuliert Tang Xianzu, dass qing die Quelle der Lebenskraft eines Menschen sei. 

Die Quelle der Leidenschaft (qíng) ist nicht bekannt, aber ihre Manifestationen sind immer tiefgreifend. Die Lebenden mögen sterben und die Toten können Quelle des Lebens werden.[17]


© Jürgen Sieckmeyer – Der Pfingstrosen-Pavillon 

Wu Chunchun hat darauf aufmerksam gemacht, dass Mudan ting, Der Pfingstrosen-Pavillon, gelegentlich Szenen von „same-sex attraction“ enthalte.[18] , qíng, als energetische Kraft trägt insofern zur Inklusion oder Legalisierung des gleichgeschlechtlichen Begehrens in der chinesischen Kultur wie der Kunqu-Oper bei –  unabhängig, ob Der Pfingstrosen-Pavillon von einem reinen Männer- oder reinen Frauen-Ensemble gespielt wird. So ist es denn auch Tang Xianzu, der in einem Gedicht Partei für Zang Maoxun mit dem Höflichkeitsnamen Jinshu ergreift, als dieser Gegenstand eines Skandals wird. 

Männer so rein wie Wasser, während der Markt so laut ist, 

Buchbände enthalten nicht alle Ihre Wechselfälle. 

Tu Changqing verlor seine Karriere wegen eines jungen Schwarms, 

Zang Jinshu musste sich einfach in diesen hübschen Burschen verlieben. 

Von jeher wurden Stacheln auf romantische Geister geworfen, 

Lohnt sich eine offizielle Position für ein romantisches Ansehen? 

In regnerischen Nächten die Laternen anheben und Schach spielen, 

Wenn der Frühling kommt, nimm den Fußball auf das neue Gras. 

Rückkehr in die Heimatstadt auf der Höhe des Frühlings 

Bambushut, Wein und Bachfisch, keine schlechte Bestrafung.

... [19]


© Jürgen Sieckmeyer – Der Pfingstrosen-Pavillon 

Qíng erhält in diesem Kontext gerade für Der Pfingstrosen-Pavillon eine starke Konnotation von Erotik, erotischer Anziehung und einem erotischen Austausch von bzw. mit dem Malen wie dem Anschauen eines Bildes. Gu Liniang malt für Liu Mengmei ein Selbstportrait, in das sich dieser verlieben soll und auch verliebt, als ihm die Bildrolle überreicht wird. Das Sich-selbst-malen und das Anschauen übertragen durchaus qíng. Wobei das Selbstportrait nach dem Spiegel zwischen Leben und Tod, zwischen Wachen und Träumen angesiedelt ist. Dass es sich dabei um eine Schlüsselszene des Stückes handelt, mag schon dadurch unterstützt werden, dass in der Ausgabe von Die vier Träume aus Linchuan durch Zang Maoxun und Tang Xianzu diese Szene detailliert ausgezeichnet wurde.[20] In der Inszenierung von Ni Guangjin von Mudan ting fehlt sie bzw. wird sie weniger stark hervorgehoben. Du Liniang malt ihr Portrait nach ihrem Spiegelbild mit Tusche selbst, was ein für die chinesische Tuschemalerei ungewöhnliches Abbildungsverhältnis in Szene setzt.  

 

Bei aller Pracht und ausgezeichneten Technik der Aufführungen von Die vier Träume aus Linchuan durch die äußerst ambitionierte Shanghai Kunqu Opera Company ist das Projekt nicht frei von kulturellen Missverständnissen und Normalisierungen, die das kulturelle Erbe so vermitteln, wie es sich nach Parteilinie und dem Stand der kulturpolitischen Diskussion darstellen lässt. Dabei fallen Erotik und traditionelle Elemente geradezu durch das offizielle Raster. Der Pfingstrosen-Pavillon, mit dem Tang Xianzu besonders qing und Erotik oder auch qing als Erotik thematisiert, litt eher unter einer technischen Perfektion, als dass er zum Träumen einlud. Die Erotik vermisste denn auch ein chinesischer Freund, der in Moabit wohnt. Und rosa Schnittrosen in den Händen der Tänzerinnen sollten vielleicht eine freundliche Geste an das deutsche Publikum sein, künden aber von einem gravierenden kulturellen Missverständnis. – Päonien oder Pfingstrosen sind seit 1753, als Carl von Linné sie als eigene Gattung einteilte, vor allem keine Rosen!

 

Torsten Flüh 

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[1] Vgl. Tom Phillips: China breaks official silence on Cultural Revolution’s ‚decade of calamity‘. After ignoring 50th anniversary, party says it gave nation ‚immunity from unrest‘ but must now look to future. In: The Guardian Tue 17 May 2016 03:05 BST.

[3] Vgl. zur Kunqu in Taiwan: Torsten Flüh: Wenn chinesische Götter kämpfen … Die Legende vom Schneefuchs der Taiwan Oper im Admiralspalast. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Oktober 2010 21:25.

[4] Siehe Torsten Flüh: Der Staatskünstler. Zhang Yimous Shanzha shu zhi lian auf der Berlinale 2011. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Februar 2011 18:52.

[5]The Four Dreams of Linchuan In: World Digital Library. (Siehe Downloads)

[6] Anne Philipps-Krug: „Diese Stücke sind in den Körpern“ Ein Interview mit Ágota Révész. Blog Berliner Festspiele 29.11.2018.   

[7] Chun Mei: The Novel and Theatrical Imagination in Early Modern China. Leiden/Boston: Brill, 2011, S. 26-27.  

[8] Anne Philipps-Krug: „Diese Stücke …“ … [wie Anm. 6]

[9] Willer, Stefan; Weigel, Sigrid; Jussen, Bernhard: Erbe – Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur. Berlin 2013. S. 26.

[10]The Story of the Purple Hairpin by Master Tang Yireng (World Digital Library)

[11] Vgl. Torsten Flüh: Nicht fürs Wohnzimmer. Sir Simon Rattle dirigiert Tristan und Isolde konzertant mit den Berliner Philharmonikern sensationell radikal. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. April 2016 22:38.

[12] Wu Cuncun: Homoerotic Sensibilities in Late Imperial China. London/New York: Routledge Curzon, 2004, S. 1.

[13] Ebenda.

[14] Ebenda S. 5.

[15] Ebenda S. 7.

[16] Ebenda S. 37.

[17] Zitiert und übersetzt nach ebenda S. 37.

[18] Mark Stevenson, Wu Cuncun (ed.): Homoeroticism in Imperial China. A sourcebook. London/New York: Routledge, 2013, S. 42.

[19] Ebenda, Übersetzung T.F.
       Men as pure as water while noisy as the marketplace,

       Volumes would not contain all your vicissitudes.

       Tu Changqing lost his career on account of a boy idol,

       Zang Jinshu just had to fall for that handsome lad.

       From time immemorial barbs were thrown at romantic spirits,

       Is an official position worth trading for a romantic reputation?

       On rainy nights raise the lanterns and play chess,

       When spring arrives take the football onto the new grown grass.

       Returning to your hometown at the height of spring,        

       Bamboo hat, wine and creek fish, not bad punishment.

       ...

[20] Siehe The four … [wie Anm. 5]


Der Anspruch des Gottesstaates und sein Dilemma - Katajun Amirpurs Mosse-Lecture zur Theokratie ohne Theologen. Die Legitimationskrise des Iranischen Gottestaates

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Iran – Theokratie – Krise 

 

Der Anspruch des Gottesstaates und sein Dilemma 

Katajun Amirpurs Mosse-Lecture zur Theokratie ohne Theologen. Die Legimitationskrise des Iranischen Gottesstaates 

 

Die Islamische Republik Iran erhebt laut ihrer Verfassung den Anspruch, eine präsidiale Theokratie „in Abwesenheit des 12. Imam – möge Gott, dass er baldigst kommt –“ zu sein. Die Kölner Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur stellte diesen Anspruch der Islamischen Republik Iran in ihrer Mosse-Lecture zum Thema Autokratien – Herausforderungen der Demokratie auf die Probe. Denn bereits die Schrift des islamischen Rechtsgelehrten Ajatolla Chomeini Der islamische Staat (1970) und seine Machtergreifung 1979 legten das Paradox von Gottesherrschaft und der Herrschaft des  Volkes durch Vertreter in der Republik an. „Der islamische Staat ist ein Staat des Gesetzes. In dieser Staatsform gehört die Souveränität einzig und allein Gott. Das Gesetz ist nichts anderes als der Befehl Gottes“, hatte Chomeini zum islamischen Staat 1970 formuliert.[1] Mohammad Khatami ernannte 1997 Mohammad-Ali Abtahi, der später bloggte, zum Vizepräsidenten.

 

Aus dem Anspruch, ein Gottesstaat auf Erden zu sein, erwächst eine ursprüngliche Legitimationskrise, die Katajun Amirpur in ihrem Vortrag an zahlreichen Beispielen entwickelte. Im iranischen Shia-Islam, für den Amirpur Expertin ist, kann bei Funktionären wie bei Mohammad Reza Naqdi, ein hoher Offizier der Revolutionsgarden, eher als bei Gelehrten eine ausgeprägte Shebiba auf der Stirn erkannt werden. Seyran Ateş hat in einem Facebook-Post am Mittwoch auf die Shebiba des mutmaßlichen Attentäters von Straßburg hingewiesen. Sie ist eine Verhornung auf der Stirn, die durch häufiges Aufschlagen der Stirn beim islamischen Gebet der Männer entsteht. Bei Cherif Chekatt ist die Shebiba bereits im Alter von 29 als dunkler Fleck auf der Stirn deutlich zu erkennen. Sie ist ein Mal des Glaubens, der Unterwerfung und der Macht. Doch die Shia-Expertin Amirpur setzt sich für einen modernen oder demokratischen Islam im Iran ein.

 

Was verrät die Legitimationskrise der Theokratie in der Islamischen Republik Iran über den Islam? Katajun Amirpur ist als Iranerin, die als Tochter des iranischen Kulturattachés in Bonn bis 1979 in Deutschland aufgewachsen ist, als Wissenschaftlerin und Forscherin zuletzt im Frühjahr 2018 mit Assistentinnen durch den Iran gereist. Sie sprach mit jungen Iraner*innen, deren Haltung sich verändert hat. In ihrer Mosse-Lecture spricht sie davon, dass diese die Zuspitzung des Konflikts mit den USA suchen und regelrecht die neuen Sanktionen gegen den Iran begrüßen. Denn sie versprechen sich davon, so muss man wohl sagen, eine revolutionäre, regimegefährdende Kraft. Das hat Amirpur überrascht und verunsichert, weil trotz der ursprünglichen Legitimationskrise seit 1979 in der iranischen Gesellschaft ein Konsens über eine Art Stabilitätsgebot herrschte.

 

Katajun Amirpur sucht nach den Möglichkeiten eines modernen Islam. 2013 hat sie ihr Buch Den Islam neu denken: Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte veröffentlicht.[2] Damit reagierte sie nicht zuletzt auf die Unruhen und Studentenproteste von 2009. Mit Maha El-Kasy-Friemuth, die an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg Islamisch-Religiöse Studien lehrt und Seyran Ateş gehört Katajun Amirpur damit zu einem Kreis von Frauen, die sich nicht nur mit der Rolle von Frauen im Koran und Islam auseinandersetzen, vielmehr vertreten und fordern sie engagiert in Deutschland  einen reformierten bzw. modernen Islam. Dadurch wird nicht zuletzt die (patriarchale) Befehlsgewalt Gottes durch den Koran als Gesetz, wie sie Chomeini für den schiitischen oder Shia-Islam im Iran formuliert hat, fragwürdig.

Stefan Weidner, der als Respondent in der Mosse-Lecture sprach, weist seit geraumer Zeit u.a. schon wegen der literarisch-poetischen Schreibweise der Suren des Koran auf die Unvermeidbarkeit der Interpretation oder Exegese hin.[3] Die elastische Schreibweise der zum Gesetz erklärten Suren zwingt paradoxer Weise zu immer neuen Umschriften, Übertragungen und Übersetzungen. Maha El-Kasy-Friemuth sieht ihre Aufgabe denn auch darin, in Deutschland „einen reformorientierten Islam aufzubauen“.[4] Für ihr Buch God and Humans in Islamic Thought erhielt sie „The Iranian World Prize for the Book of the Year 2007“ in der Kategorie „Philosophie und Mystik“ in Teheran aus den Händen des Präsidenten Mahmud Achmadinedschād. Das sprach entweder für eine Rezeptionsschwäche der Jury oder die Diskussion über den Islam im Iran. Seyran Ateş warnt emotional am 12. Dezember auf Facebook davor, von einer „Instrumentalisierung“ des Islam nach dem Attentat zu sprechen. Ihr geht es um den Respekt für Opfer des Islam. Und Katajun Amirpur verweist im Vorwort zu ihrem Buch darauf, dass der ägyptische Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid (1943-2009) das wichtigste Thema zum Reformislam zum Ausdruck brachte, indem er darauf verwies, „dass man den Koran auch anders lesen kann, wenn man dies nur möchte; dass es die Sichtweise des Exegeten ist, die das Ergebnis vorherbestimmt. Der Koran ist also interpretierbar.“[5]

 

Der Iran und die persische Kultur nehmen nicht nur durch den Shia-Islam eine eigene Machtposition im Islam ein, vielmehr verweist Katajun Amirpur in ihrer Mosse-Lecture auf eine vielleicht einzigartige Lese- und Buchkultur in der Islamischen Republik, die es eigentlich nicht geben dürfte. Als Jürgen Habermas den Iran besuchte, habe er erschrocken bemerkt, dass er in einem Land angekommen sei, in dem er wirklich gelesen werde. Von ihren Reisen in den Iran und nach Teheran berichtet Amirpur, dass die Buchhändler in der Nähe der Universität unter dem Ladentisch fast all jene Bücher in Farsi verkauften, die nach den Zensurbehörden und dem Wächterrat gar nicht vorhanden sein dürften. Auch Ali Paya und Mohammad Amin Ghaneirad schrieben 2007 von der Rolle der Theorien von Jürgen Habermas für muslimische Intellektuelle im Iran.[6] Offenbar spielte bis zu den Aufständen 2009 diese Lesekultur im Iran eine große Rolle. Sie hat sich nach der Einschätzung von Amirpur heute ins Internet verlagert.  

 

Doch Patrizia Kramliczek berichtet Anfang 2018 davon, wie die Zensur durch Internetsperren im Iran funktionieren. Die Verhältnisse im Iran sind vermutlich ähnlich wie in der Volksrepublik China, wo ein Facebook-Account für die Karriere schädlich ist, weil Facebook verboten ist. Nach einem letzten Messenger-Anruf aus Frankfurt löschte eine chinesische Freundin vor einer Woche ihr Facebook-Konto. Vergleichbare chinesische Messengerdienste und Social Media werden in China permanent überwacht und nach neuen Tags oder Schlüsselwörtern gefiltert. Im Iran liegt nach Holger Bleich die „komplette Internet-Infrastruktur (…) in der Hand der Regierung“.[7] Die Zensur wird offenbar situationsabhängig gehandhabt, wenn „zur Präsidentschaftswahl im Iran 2017 die Zensur deutlich angezogen“ wurde, um sie danach wieder zu lockern.

 

Kramliczek beschreibt „das Hase-und-Igel-Spiel“, bei dem der Zensor eine unliebsame IP-Adresse herausfindet, sie blockiert und der User sich sogleich eine neue sucht, bis diese wiederum blockiert wird.[8] Derartige Strategien sind im Iran wohl verbreitet. Hesam Misaghi berichtete bereits 2011 ähnliches.[9] Ein freies Internet gibt es demnach ebenso wenig, wie dass es sich selbst mit totalitären Methoden gänzlich kontrollieren lässt. Es sind guerrillaartige Praktiken und Strategien gefragt, die bei einem hohen Bildungsstandard von 65% Frauen an den Universitäten im Iran eingesetzt werden. Amirpur erinnerte in ihrem Vortrag an die Philosophiestudentin Neda Agha-Soltan, die am 20. Juni 2009 während der Proteste nach den Präsidentschaftswahlen vermutlich von der Basitsch-Miliz aus der Menge der Protestierenden heraus erschossen wurde. Ein 40 Sekunden langes Handy-Video gelangte per E-Mail in die Niederlande, wo es in Social Media wie Facebook veröffentlicht wurde.

 

Katajun Amirpur berichtete 2010, dass Ali Chamene‘i als religiöses Oberhaupt des Iran eine Kulturrevolution wolle, in dem er westliche Autoren und Denker aus dem Lehrplan verbannte.[10] Doch sie entlarvt den Wunsch nach einer Kulturrevolution als Farce, weil diese bereits 1980 gescheitert sei und ihre Funktionäre wie Abdokarim Sorusch schon 1983 den Hohen Rat der Kulturrevolution verlassen habe.[11] Die reaktionäre oder islamische Kulturrevolution scheiterte nicht nur, weil sie statt Freiheit Terror generierte. Vielmehr scheiterte sie an ihrer ideologischen Enge. Denn die Ideologie steht nach Amirpur im Gegensatz zur Vielheit der Literatur. Dabei ist die Kulturrevolution als Praxis der Auslöschung und Ersetzung von Kulturen durch eine einzige nicht erst seit der Kulturrevolution in China eine zutiefst „westliche“, weil leninistische Idee der Oktoberrevolution. Nach der Oktoberrevolution in Russland wurden die Kinder nicht mehr getauft, sondern „oktobert“.[12]

 

Die Islamische Republik Iran steckt nicht nur in einer Legitimationskrise aus ihrem eigenen Anspruch der Theokratie. Sie entspringt vielmehr dem Dilemma von Moderne und Gottesherrschaft. Die gottähnliche Verehrung Stalins nach den revolutionären Umdeutungen der Oktoberrevolution gibt einen Wink auf die Unvereinbarkeit von Moderne und gerechter Theokratie, wenn sie sich nicht in stalinistischen Terror verkehren sollen. Kulturen wie die persische sind genauso wenig homogen wie die chinesische oder die russische. Aber die Nationalstaatlichkeit des 19. Jahrhunderts verlangt eine Homogenisierung der Kultur und eines kulturellen Erbes, bei dessen Übertragung Verluste an Vielfalt generiert werden. Die Auswahl des kulturellen oder islamischen Erbes wie es von dem mittlerweile 79jährigen Ali Chamene’i behauptet wird, formuliert eine im buchstäblichen Sinne von westlichen Autoren gereinigte Kultur, die längst in der iranischen Literatur ihre unauslöschlichen Spuren hinterlassen hat.[13]

 

Am Beispiel von Mohammad-Ali Abtahi macht Amirpur deutlich, wie die iranische Staatsführung ihre eigenen Leute verbrennt und sich selbst dabei beschädigt. Abtahi, der von 1997 bis 2004 Vizepräsident des Iran war, wurde am 14. oder 16 Juni 2009 verhaftet. Die Begründung seiner Verhaftung, dass er zu den „Drahtziehern“ der Proteste gegen die Präsidentschaftswahl zähle, ähnelt auffällig stalinistischen Methoden der 30er Jahre. Nach seiner Festnahme wurde ein Video veröffentlich, in dem er ein Geständnis ablegte. Auch diese Praxis des Geständnisses und der, in der „Selbstkritik“, wie es seit der chinesischen Kulturrevolution heißt, entspricht den Methoden totalitärer Regime der Moderne. Abtahi war, wie sich in einem Vorher-Nachher-Vergleich sehen lässt, gefoltert und/oder unter Medikamente gesetzt worden. Wie im Gerichtstheater der jungen Sowjetunion[14] steht das Urteil von Anfang an fest, worauf der Satiriker Nabavi mit einer Video reagierte. Der Prozess diente nicht der Wahrheitsfindung oder gar Gerechtigkeit, sondern wurde als Schauprozess vorgetragen.

 

Nach der Einschätzung von Katajun Amirpur und Stefan Weidner hat die Islamische Republik Iran trotzdem in den letzten Jahren ihre Macht beispielsweise im Libanon und in Jemen ausgebaut. Die Affäre um die Ermordung des saudischen Journalisten Kashoggi in Istanbul hat gerade dazu geführt, dass die USA die Unterstützung Saudi-Arabiens im Jemen beendet hat. Damit dürfte der verheerende Stellvertreterkrieg zwischen Sunniten und Schiiten in Jemen für den schiitischen Iran entschieden sein. Die Reaktionen und Sanktionen der USA haben das Regime in Teheran paradoxerweise gestärkt. Bei allem Anspruch auf Gottesstaatlichkeit, Gerechtigkeit und Volksherrschaft setzt sich Teheran höchst pragmatisch im arabischen Raum durch. 

 

Torsten Flüh 

 

Katajun Amirpur 

Theokratie ohne Theologen 

demnächst mit Video 

im Programm 

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[1] Ajatolla Chomeini: Der islamische Staat. Berlin: K. Schwarz, 1983, S. 52.

[2] Katajun Amirpur: Den Islam neu denken: Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte. München: C. H. Beck, 2013

[3] Stefan Weidner: Das Ursprüngliche des Korans. Stefan Weidners Seminar Vom Übersetzen des Unübersetzbaren im Literarischen Colloquium Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. Februar 2010 20:56.

[4]„Wir brauchen dringend eine Reform im Islam“. Maha El-Kasy-Friemuth im Interview mit Claudia Mende. In: qantara.de 27.08.2014.  

[5] Katajun Amirpur: Den Islam … [wie Anm. 2] S. 9.

[6] Ali Paya  & Mohammad Amin Ghaneirad: Habermas and Iranian Intellectuals. In: Iranian Studies, Volume 40, Pages 305-334 | Published online: 25 Jun 2007.

[7] Patrizia Kramliczek: Wie Internetsperre und Zensur funktionieren. In: BR24 03.01.2018.

[8] Ebenda.

[9] Siehe Torsten Flüh: Bloggen bis zur Revolution. Hesam Misaghi bei den Netzpolitikern im St. Oberholz. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2011 22:21.

[10] Katajun Amirpur: Hunger nach Demokratie. In: Spiegel Online 30.03.2010.

[11] Ebenda.

[12] Siehe Torsten Flüh: Oktobern als Befreiung und Disziplinierung des Menschen. Zur Ausstellung Das sowjetische Experiment und der Filmedition Der Neue Mensch. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2017 21:47.

[13] Siehe Katajun Amirpur: Hunger … [wie Anm. 10]

[14] Zum Gerichtstheater siehe Torsten Flüh: Bernd Alois Zimmermanns großes Welttheater für den Funk. Zur Uraufführung eines vergessenen Meisterwerks durch die Sing-Akademie zu Berlin und das Deutschlandradio in der Volksbühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. November 2018 21:08

Botschaften aus der Zukunft - Yoko Tawada erhält den Preis der Japan Foundation und ihr Science-Fiction-Roman Kentoshi erscheint als Sendbo-o-te

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Katastrophe – Roman – Zukunft 

 

Botschaften aus der Zukunft 

Yoko Tawada erhält den Preis der Japan Foundation und ihr Science-Fiction-Roman Kentōshi erscheint als Sendbo-o-te 

 

Am 18. Dezember lud der Botschafter von Japan, seine Exzellenz Takeshi Yagi, zur Feier der Verleihung des prestigeträchtigen Preises der Japan Foundation 2018 an Yoko Tawada in seine Residenz ein. Der Preis wird seit 1973 alljährlich an 3 Personen oder Organisationen verliehen, die den kulturellen Austausch Japans mit anderen Ländern oder gar der Welt befördert haben und fördern. Für wen könnte dies aktuell besser zutreffen als für die in Berlin lebende Schriftstellerin Yoko Tawada. Kürzlich erhielt ihre amerikanische Übersetzerin Margaret Mitsutani für The Emissary (Kentōshi) den National Book Award der Vereinigten Staaten. Zu Beginn des Jahres hatte sie die Carl-Zuckmeyer-Medaille „für Verdienste um die deutsche Sprache und um das künstlerische Wort“ erhalten.

 

Ebenso wie die mehrdeutige SchreibweiseSendbo-o-te an Boten und Botschaften wie Boote erinnert, lassen sich im Japanischen die Schrift-Zeichen lesen, aber nicht hören in Kentōshi. In der deutschen Übersetzung wird dieser Unterschied noch vom Übersetzer angeschrieben, während er im amerikanischen emissary untergeht. Die unterschiedlichen Schreibweisen generieren Sprachspiele und Witz. Wie könnte es mit Kentōshi anders sein, als dass der über hundertjährige Urgroßvater Yoshiro gleich zu Beginn des Romans ein „deutsches Brot nach Shikoku-Art, mit seiner Farbe wie angebrannte Dunkelheit, dem Gewicht von Granit und mit seiner knarrend festen Kruste“ auspackt?[1] Ein „deutsches Brot“, wie es in der japanischen Sprache und Kultur wahrgenommen wird, generiert in der Übersetzung von Peter Pörtner weitere Drehungen des Sinns.

 

Peter Pörtner hat den RomanSendbo-o-te aus dem Japanischen und seinem Schriftsystem mit Gespür für die Zeichenkombinationen ins Deutsche übersetzt. Yoshiro betreut seinen Urenkel Mumey, der gerade seine Milchzähne verliert. Yoshiro hat mit Mumey Großes vor. In der Zeit nach einer Katastrophe hat sich alles verkehrt. Was genau passiert ist, erfährt man nicht. Doch der 2014 in Japanisch erschienene Roman gibt einen Wink auf die Dreifachkatastrophe von Fukushima 2011. Das Seebeben, der Tsunami und die Nuklearkatastrophe erschütterten Japan schwer. Das Trauma einer Natur- wie Öko-Katastrophe, das sich fast gar nicht erzählen lässt. Sendbo-o-te entfaltet sich im Kontext der großen Katastrophen- und Science-Fiction-Romane der Weltliteratur von Aldous Huxley, Georg Orwell oder – warum nicht? – Charles Fourier, den Roland Barthes bekanntlich zu den „Formulierer(n)“ zählte.[2] 

 

Die Schreibweisen eines Botschafters sind andere als die der Schriftstellerin Yoko Tawada. Doch der Botschafter Takeshi Yagi, der in München studiert hat, ließ in seinem Grußwort auf Deutsch außerordentlich redegewandt seine Freude an der Literatur der Preisträgerin erkennen. Er versprach sogar die Buchliteratur und -verlage mit seiner Frau durch den Kauf der Bücher von Yoko Tawada zu unterstützen, was Erheiterung und Beifall bei den Gästen auslöste. Er betonte besonders, dass Yoko Tawada über 1.000 Veranstaltungen, Lesungen, Vorträge, Vorlesungen und Workshops bestritten habe. Die stellvertretende Generalsekretärin der Japan Foundation und des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin, Tokiko Kiyota, berichtete in ihrer Laudatio auf die Preisträgerin in ebenfalls geistreich-witziger Weise von der literarischen Karriere in Deutschland und Japan bzw. in Deutsch und Japanisch.

 

 

Yoko Tawada hat in beiden Sprachen und Kulturen wie Ländern die wichtigsten Literaturpreise verliehen bekommen, weil sie die beiden Grammatiken beider Sprachen für einander kreativ einsetzt. Sie lässt Sprachgrenzen für die Literatur produktiv und durchlässig werden. Mit den Worten der Japan Foundation: 

Als zweisprachige Schriftstellerin dieses Kalibers ist sie eine einzigartige Persönlichkeit, die in der modernen japanischen Literaturgeschichte noch nie zuvor gesehen wurde. Ihre Kreationen haben die internationale Kommunikation über Grenzen und Sprachen hinweg belebt. Tawada hat einen neuen Grenzbereich der Literatur geschaffen und dabei geholfen, die japanische Literatur weiter zu befreien von den Sprachbarrieren, die es einschränken…[3]

 

Der kreative Einsatz der Grammatiken entfacht wie in Sendbo-o-te ein Feuerwerk an Sinnüberschneidungen. Aus der Katastrophe, die im Roman wiederholt als eine sprachlich-lexikalische Einschränkung thematisiert wird – Wörter werden vergessen oder ersetzt –, entspringt ein Nachdenken über Sprachen. Zugleich verändern die Wörter, die gebraucht werden, das Leben des über hundertjährigen Yoshiro. Das wird von Yoko Tawada unterhaltsam und witzig an Yoshiros Gebrauch von Handtüchern erzählt. 

Yoshiro legt das Tuch über die Stange draußen und befestigt es mit einer Wäscheklammer. Irgendwann haben sie aufgehört, große westliche Handtücher zu benutzen und nur noch kleine, tenugui genannte Tücher zu gebrauchen. Wenn man die großen Handtücher wäscht, dauert es wirklich lange, bis sie trocken sind. Und man hat nicht immer eines zur Hand. Aber wenn man ein tenugui über die Stange auf der Veranda hängt und den Wind herbeiruft, dann flattert es sanft. Und ist irgendwann plötzlich trocken. Früher hat Yoshiro diese dicken, riesigen Badetücher vergöttert.[4] 

 

Der Gebrauch eines 手拭oder 手ぬぐいalso tenugui hat im Roman nicht zuletzt eine ökologische Relevanz. Denn nach der Öko-Katastrophe gibt es keine Waschmaschinen und keinen Strom mehr in Japan. 手 als Schriftzeichen oder Kanji für Tuch und 拭 fürwegwischen bilden im Japanischen, das was man im Deutschen ein Handtuch aus Baumwolle nennen müsste. Der Berichterstatter, der sich sofort über das Wort tenugui gefreut hat, als er es las, benutzt eines, mit einem blauen Blütendekor und einem goldenen Muster bedruckt, als Kopftuch beim Marathonlaufen. Man könnte auch sagen, dass es dadurch ein Schweißtuch wird, weil es die Sportler davor schützt, dass ihnen Schweiß in die Augen rinnt. Überhaupt werden in Japan für den Sport häufig Handtücher als Kopftücher benutzt. Eigentlich wäre es wohl richtiger, von einem Wischtuch zu sprechen. Aber heute sind die oft kunstvoll bedruckten 手拭い viel zu wertvoll zum Wischen. In dem Roman Sendbo-o-te wird das tenugui zum Zeichen für die Katastrophe, die passiert ist.

Während der zeremoniellen Preisverleihung mit ihren Gruß-, Lob- und Dankesworten spielten Botschafter Takeshi Yagi und die stellvertretende Generalsekretärin Tokiko Kiyota wiederholt auf den einzigartigen Sprachwitz in der Literatur von Yoko Tawada an. Er ist vergnüglich und spannend, poetisch und kritisch, spielerisch und kämpferisch, beiläufig und punktgenau. Das Lesen in den Schriftzeichen und den Grammatiken erzeugt in Sendbo-o-te eine Dramatik des suspence. Dieser kaum auszuhaltende suspence, der in Deutschland insbesondere mit den Filmen Alfred Hitchcocks in den Wortschatz eingegangen ist, lässt sich kaum übersetzten. Spannung, Schwebe, Ungewissheit sind nur einige Begriffe, mit denen suspence ins Deutsche übersetzt worden ist.

 

 

Der Katastrophen- wie andersartige Science-Fiction-Roman ist full of suspence. Die Katastrophe wird in der Zukunft stattgefunden haben und generiert sich aus einem sprachlich-wissenschaftlichen Schreibprozess. Er funktioniert ebenso durchdacht wie zufällig. Neuartige Formulierungen führen zu Zukunftsvisionen. Gleichfalls kommt in der Eröffnungssequenz ein öko-logisches Wissen zum Zuge. 

Die arme Waschmaschine durchlief alle Leiden, wenn sie diese schweren Tücher im Kreis in ihrem Bauch herumwälzen musste. Das nahm sie so mit, dass sie nach drei Jahren, völlig erschöpft, an Überarbeitung starb. So sind eine Million tote Waschmaschinen auf den Grund des Pazifiks gesunken, wo sie den Fischen als Kapselhotels dienen.[5] 

 

Die „riesigen Badetücher“, die Yoshiro „vergöttert“ hat, haben die „arme Waschmaschine“ getötet, könnte man durch die (grammatische) Subjektivierung sagen. Die Katastrophe und gar Auslöschung der Waschmaschinen bleibt in Sendbo-o-te indessen in der Schwebe, weil sie nun den „Fischen als Kapselhotels dienen“. Von Satz zu Satz ereignen sich Sinnsprünge und der deutsche Neologismus „Kapselhotel“ ermöglicht weitere Assoziationsketten. カプセルホテルkapuseru hoteru werden nämlich in Japan jene Hotels für Menschen genannt, die aus Schlafkapseln bestehen. Unweigerlich liest man im Deutschen allerdings auch all jene Waschmittel-Kapseln mit, die in der Werbung von den großen Herstellern angepriesen werden. Unterdessen verhalten sich die Fische wie Menschen, wenn sie Waschmaschinen als Kapselhotels benutzen. – Das erste Kapselhotel eröffnete übrigens 1979 in der Hafenstadt Osaka, wie sich heute Online schnell mit Wikipedia wissen lässt. Im Roman ist nach der Katastrophe das Internet zusammengebrochen.

 

In ihrer Dankesrede führte Yoko Tawada mit den Kanjis der Japan Foundation - 国 際 交 流 基 金 – vor, wie sie mit der Schrift und Sprache arbeitet. Denn die piktographischen Zeichen generieren sich im Japanischen – wie Chinesischen – aus wiederum bildlichen Elementen, die sich lesen lassen. Sie liest die Zeichen in den Spuren ihrer Bestandteile, um sie in Erzählungen zu verwandeln. Jedes Kanji, wie es in der Kombinatorik für den Namen Japan Foundation verwendet wird, enthält und generiert eine eigene Historio-Graphie. So sprach sie über das Schriftzeichen ryū („Fluss“), das im Namen der Stiftung vorkommt. Sie betonte bei der Verleihung des Preises am 16. Oktober im luxuriösen Okura Hotel in Tokyo wie in der Residenz des Botschafters, dass es in der Kultur keine internationalen Grenzen gibt, die wie Wasser fließen, sich vermischen und sich verändern, während es immer reicher wird.[6]

 

Kanjis als ursprünglich chinesische Schriftzeichen enthalten mit verschiedenen Strichen und Punkten selbst eine Kombination aus Zeichen. Bei einem Namen wie dem japanischen der Japan Foundation nehmen die kombinierten Zeichen durch Kombination eine ganz andere Bedeutung an. Derartige Namen bezeichnen nicht nur etwas, sie bringen auch onomatologisch Bedeutungsschichten zum Verschwinden. Yoko Tawada erinnert quasi etymologisch an diese Schichten, wenn die Bestandteile von 国際kokusai  für international, getrennt als kuni, Land und , sai wie wann jedes einzeln Zeichen bedenkt. Das ältere Zeichen für Land, Staat oder Nation im Japanischen wie Chinesischen lässt sich als eine Kombination aus Grenzen und Hellebarden lesen. Die Grenzen müssen gezogen und verteidigt werden, um graphologisch ein Land oder eine Nation hervorzubringen.

 

Yoko Tawada generiert nicht nur Poesie und Witz aus einem Erforschen der Kanji, sie kann zugleichAustausch bieten und erinnert an die Praxis des Tauschens. Den das Chinesische Verb jiāo ist besonders elastisch in seinen Bedeutungsmöglichkeiten von mit jemandem Umgang haben, sich kreuzen, austauschen, abgeben, verkehren, übergeben. Es geht um eine breitere Praxis des Tauschens und des Verkehrs könnte man sagen. Und in der Kombinaton und als kōrūy wird dann der Tausch oder Austausch noch einmal stärker betont. Im Gebrauch des Namens bleibt Wissen fraglos. Doch glasklar mit den Zeichen gelesen entspringt gerade mit ryū für Fluss Gegenentwurf zum Konzept von Staat und Nation. Das Zeichen enthält nicht nur mit den Wasser-Punkten und den Fluss-Zeichen viel Wasser, es hebt auch besonders die verändernde Kraft des Flusses und des Fließens besonders hervor. Durch den Austausch mit anderen Ländern wird das Land wie seine Literatur und Kultur selbst verändert.

 

Abschließungen und Grenzen, wie sie sich im Kanji kuni zeigen, sind auch in Sendbo-o-te ein Teil der Katastrophe. Schnell bekommt der Leser mit, dass Yoshiro sich an Worte erinnert, die er nicht mehr benutzen darf. Wie ein Wink fällt dem Leser Ray Bradburys dystopischer Roman Fahrenheit 451 ein. Seine Tochter verrät sich sogar als älterer Mensch aus einer Vorzeit, dass sie noch Bedeutung für ON und OFF kennt. Die Kommunikation zwischen Yoshiro und seinem Urenkel Mumey hapert auch an der Sprache. Was versteht Mumey, der manchmal an ein weises Kleinkind erinnert und an anderer Stelle dann schon fünfzehn Jahre alt ist? Überhaupt ist das Schicksal der Kinder unheimlich, weil sie auch Waisen sind, wenn nur der Urgroßvater sich um sie kümmert. Yoshiro darf Mumey bestimmte Dinge nicht erzählen. 

Mumey schien verstanden zu haben; und wieder auch nicht. Yoshiro war immer bemüht, seinem Urenkel nicht klar zu sagen, dass er eigentlich gegen die Abschließungspolitik war.[7]

 

Die Benennungen und Kategorien als ein Problem der Sprache überhaupt verwandelt Yoko Tawada in witzige Erzählungen, die bisweilen am Heiligsten der japanischen Kultur rühren. An exponierter Stelle ist in der Residenz des Botschafters ein, wie man im Deutschen pragmatisch sagt, Gesteck mit einer Chrysantheme platziert. Man darf davon ausgehen, dass es kein Gesteck, sondern ein Kadō, ein 華道, meditativer Weg der Blume war. Den kaiserlichen Chrysanthemen-Thron umgeben ja nicht nur geheimnisvolle Riten und Redeweisen, sie werden ebenso zum Gegenstand von Nation und Abschließungspolitiken gemacht. Die Residenz des Botschafters von Japan in Berlin schmückt eine vergoldete Chrysantheme über dem Portal. Zieht man die Bedeutungskraft der Chrysantheme in Betracht, wird der übergroße Löwenzahn im Roman beinahe zu einer Identitätsfrage. 

Neuerdings gibt es Löwenzahnblüten, deren Blütenblätter bis zu zehn Zentimeter lang sind. Es passierte einmal, dass bei einer der alljährlichen Chrysanthemen-Leistungsschauen jemand eine Löwenzahnblüte mitbrachte und fragte, ob man sie nicht als Chrysantheme akzeptieren könnte? Als die Gegner diese Idee aber behaupteten: »Eine so große Löwenzahnblüte ist keine Chrysantheme, sondern nur eine plötzliche Mutation eines Löwenzahns!« führte der Einwand, dass »eine plötzliche Mutation« ein »diskriminierender Ausdruck« sei, zu einem monatelangen Disput.[8]

 

Eine Löwenzahnblüte ist keine Chrysantheme, die über dem Portal der Residenz in der Dunkelheit extra angeleuchtet wird. – Über der goldenen Chrysantheme scheint am 18. Dezember 2018 ungefähr um 8 der Mond silbern. – Aus dem Problem der floralen Kategorie, dass nämlich Löwenzahn wie Chrysantheme zur Familie der Korbblütler oder Asteraceae gehören, erwächst im Roman ein ganzer „Disput“. Der „Disput“ verschiebt sich sogleich vom Löwenzahn auf „eine plötzliche Mutation“ und den reflexartigen Vorwurf der Diskriminierung. Dergestalt entspinnt die Dystopie bei Yoko Tawada. Das Wissen von der Zukunft bleibt in suspence und generiert sich durch eine Umwertung. Löwenzahn und Chrysantheme gehören gar der gleichen Familie an. Doch eine „Löwenzahnblüte“ in der japanischen Kultur zu einer Chrysantheme erklären zu wollen, kann nur als Dystopie gelesen werden. 

Dagegen setzte die Union der »Löwenzahnisten«, die aus einer ursprünglich von Ramen-Nudelköchen gegründeten Gewerkschaft hervorgegangen war, das berühmte kaiserliche Diktum: »Ein Kraut, das ein Unkraut ist, gibt es nicht.« – Diesem imperialen Slogan wusste die Gegenpartei nichts mehr zu entgegnen, und so fand der Chrysanthemen-Löwenzahn-Disput nach sieben Monaten sein Ende.[9] 

 

Die „Umwertung aller Werte“ gehört seit Friedrich Nietzsches Ecce Homo (1908) zur Signatur der Utopie wie der Dystopie. – „Aber meine Wahrheit ist furchtbar, denn man hieß bisher die Lüge Wahrheit. – Umwertung aller Werte, das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden ist.“[10]– Dennoch ist der Umwertungsprozess bereits früher in der Literatur bekannt. Im Roman wird Okinawa zu einem ebenso dystopischen wie utopischen Ort. Denn Okinawa hat sich von Japan abgespalten und betreibt eine rigorose Einwanderungspolitik, die an viele Immigrationsdiskussion erinnert, um die Geschlechterfrage in einer Umwertung zu beantworten. 

Okinawa nahm zwar unbeschränkt Immigranten von Honshu auf, man befürchtete aber, dass die Anzahl männlicher Arbeiter überhand nehmen würde. Deswegen durch sich nur Ehepaare für Arbeiten in landwirtschaftlichen Betrieben auf Okinawa bewerben. Nur so hatten sie eine Chance, angestellt zu werden. Auch alleinstehende Frauen und lesbische oder schwule Paare durften sich bewerben. Nur alleinstehende Männer waren ausgeschlossen. Und nur ursprünglich weiblichen Singles, die sich erst, nachdem sie eingewandert waren, einer operativen Geschlechtsumwandlung unterzogen hatten, wurde erlaubt, als alleinstehende Männer auf Okinawa zu bleiben.[11]

 

Okinawa wie Honshu oder Tokyo erweisen sich als ebenso dystopische wie utopische Ort. Die Menschen in Tokyo beneiden die auf Okinawa, wo die großen, in Tokyo seltenen Orangen wachsen, die Yoshiro seinem Urenkel Mumey zubereitet. Doch durch die „Abschließungspolitik“ sind die Arbeiter in den landwirtschaftlichen Betrieben sosehr isoliert von dem Rest Japans und der Welt, dass Yoshiros Tochter immer nur Obst schreibt. Die „Abschließungspolitik“ nach der Katastrophe bringt nur Verlierer hervor. Doch dann besucht Mumey plötzlich sein Klassenlehrer aus der Grundschule. 

Es war Yonatani, sein Klassenlehrer in der Grundschule, der gebeten hatte, Sendbote zu werden. Mumey war gerade fünfzehn Jahre alt geworden, als sein früherer Lehrer, von dem er lange nicht gehört hatte, ihn plötzlich zu Hause besuchte. Auch Yoshiro war sehr überrascht.[12]

 

Was passiert mit Mumey als „Sendbote“? Der Roman von Yoko Tawada, der sich durchaus intertextuell lesen lässt, indem er beispielsweise Mona Winter Zitronenblau zitiert, wenn es heißt „»Zitronen sind so sauer, dass einem blau vor Augen wird.«“[13], bietet eine erstaunliche Dichte und suspence. Es macht Lust, ihn zu lesen. Er schreibt und beschreibt auch, was passiert, wenn es keinen Austausch unter den Sprachen mehr gibt oder geben darf. kuni mit seinen Mauern und der Hellebarde erweist sich als ein schweres Erbe. Sendbo-o-te kann beim Lesen Augen öffnen und ein Umdenken anstoßen. Obwohl im Roman die Politik eher eine nebensächliche Rolle spielt und die Katastrophe von Fukushima nicht konkret angesprochen wird, bearbeitet er sie auf ebenso spannende wie witzige Weise. 

 

Torsten Flüh 

 

PS: Das tenugui erhielt der Berichterstatter von einer Freundin, die in Taiwan lebt und die es für ihn auf einer Japanreise in Angelegenheit der deutschen Literatur und Sprache gekauft hatte. Beim alljährlichen Berlin-Marathon laufen jedes Jahr viele Japaner*innen mit. Einige tragen ein tenugui.

 

Yoko Tawada 

Sendbo-o-te 

Aus dem Japanischen von Peter Pörtner 

Klappenbroschur mit Fadenheftung 200 Seiten 

ISBN 978-3-88769-688-7 

Herbst 2018 

12,90 € 

__________________________ 



[1] Yoko Tawada: Sendbo-o-te. Tübingen: konkursbuch, 2018, S. 18.

[2] Roland Barthes: Sade   Fourier   Loyola. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1986, S. 10.

[3] Zitiert nach: Waseda University Faculty of Letters, Arts and Science: Yoko Tawada Receives the 2018 Japan Foundation Award. (Ohne Datum, Übersetzung T.F.)

[4] Yoko Tawada: Sendbo-o-te … [wie Anm. 1] S.14.

[5] Ebenda.

[6] Siehe auch: Waseda University … [wie Anm. 3].

[7] Yoko Tawada: Senbo-o-ote … [wie Anm. 1] S. 61.

[8] Ebenda S. 15.

[9] Ebenda S. 16.

[10] Friedrich Nietzsche: Ecce Homo „Warum ich ein Schicksal bin“ In: Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe, Band 6 (KSA 14)1, KSA 6, S. 365.

[11] Yoko Tawada: Senbo-o-ote … [wie Anm. 1] S. 67.

[12] Ebenda S. 181.

[13] Ebenda S. 65.

Vermeer eingelesen und hochaufgelöst - Zur Kooperation der Gemäldegalerie Berlin mit Google Arts & Culture für Meet Vermeer

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Lesen – Meet Vermeer – Detail 

 

Vermeer eingelesen und hochaufgelöst 

Zur Kooperation der Gemäldegalerie Berlin mit Google Arts & Culture für Meet Vermeer 

 

Anfang Dezember kündigte die Gemäldegalerie Berlin die Veröffentlichung der Plattform Meet Vermeer auf ihrer Website an. Sie hatte zwei Gemälde aus ihrem Bestand zusammen mit 17 weiteren kulturellen Einrichtungen aus 7 verschiedenen Ländern für die Plattform bereitgestellt. Herr und Dame beim Wein, auch bekannt als Das Glas Wein, und Junge Dame mit Perlenhalsband sind nun unter der Leitung eines namenlosen Google-Kurators neben den 34 anderen Gemälden von Johannes Vermeer van Delft in Hochauflösung online mit Zoom und Glossen zu bewundern. Denn 2017 hatte eine Umfrage herausgefunden, das 82% aller (US)-„Americans“ den Namen des Malers „behind Girl with a Pearl Earring“ nicht kannten.[1]– Bietet Meet Vermeer mehr als Meet & Greet?

 

Alle 36 überlieferten Gemälde von Vermeer sind nunmehr erstmals an einem Ort versammelt, nämlich der Google Arts and Culture-Plattform Meet Vermeer. Das trifft sich gut. Denn der Berichterstatter hatte sich gerade über Ausstellungen in Berlin informieren wollen. Eine Besprechung vor dem Jahreswechsel oder gar für diesen sollte es gern noch sein. Geschwiegen wird vom gründlich missglückten Besuch der 300. Vorstellung von Robert Wilsons Inszenierung der Dreigroschenoper im Berliner Ensemble am 28. Redaktion ist Welt als Improvisation. Statt Dreigroschenoper also Meet Vermeer, was die Leser*innen als kulturelles Upgrade auffassen mögen. Die Entdeckung der Plattform ist auch deshalb von Nutzen, weil die beiden Berliner Vermeers gerade bis Anfang Februar 2019 in Tokio in einer Ausstellung gezeigt werden. – Statt Aura des Kunstwerks nun also die Wunder der Pixel in Hochauflösung?

 
Google Arts & Culture: Discover the hidden Details in Vermeer's most famous works (Screenshot T.F.) 

Google hat nun also das ultimative Musée Virtuel statt eines Musée Imaginaire für Vermeer geschaffen. Meet Vermeer bietet seit Anfang Dezember 2018 alles, was rechentechnisch am Bildschirm und unter der Datenbrille möglich ist. Unter dem Samsung Gear VR kann man ein dreidimensionales Museum mit allen 36 Vermeers betreten, die sonst in der Welt über 18 kulturelle Einrichtungen verstreut sind. Das Gemälde Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster gibt es aktuell nur virtuell auf Google zu sehen, weil es bis 2020 in Dresden durch eine großzügige Spende der Hata-Stiftung aus Tokio restauriert werden kann.[2] Die Restaurierung von Gemälden ist immer heikel. Der Firnis ist schon entfernt. Die Farben haben sich verändert. Wie wird das Gemälde ausgesehen haben? Hat sich das Auge nicht an den abdunkelnden Firnis gewöhnt? Und was bietet die Hochauflösung der Pixel?

 
Screenshot T.F.

Mit der Restaurierung und der Hochauflösung geht es um technische Fragen des Lesens. Meet Vermeer bietet mehr als die Creative Commons-Fotos auf Wikipedia. Die Gemälde sind von professionellen Fotografen der kulturellen Einrichtungen aufgenommen und unterliegen dem Copyright. Die „ultra high resolution photographs“ in der 360° „digital exhibition“ bringen womöglich eine Sichtbarkeit hervor[3], die auf kleinformatigen Gemälden von Vermeer mit bloßem Auge z. B. in der Sammlung Alte Meister der Dresdner Gemäldegalerie kaum zu erkennen wären. Wieviel mehr gibt es durch die Hochauflösung zu entdecken? Oder zerstört sie gar, was wir beispielsweise als Spiegelbild des lesenden Mädchens in der Fensterscheibe zu sehen glaubten? Wie ist die Plattform aufgebaut? Welches Wissen vermittelt sie über einen Maler, von dem die Kunstgeschichte nur wenig weiß? Wie inszeniert der Google-Kurator das Wissen von Vermeer und seinen Bildern?


Screenshot T.F. 

Google Arts & Culture hat das Format der Gemäldeausstellung nicht neu erfunden. Diese Ausstellung, die zugleich ihr virtueller Katalog ist, verknüpft vielmehr unterschiedliche Wissensformate. Federführend sozusagen für Meet Vermeer ist niemand geringeres als die Direktorin der Mauritshuis Emilie Gordenker. Dort hängt das Gemälde Mädchen mit dem Perlenohrring, das vor allem durch den für drei Oscars nominierten Film Girl with a Pearl Earring (2003) mit Colin Firth und Scarlett Johansson nach dem gleichnamigen historischen Roman (1999) von Tracy Chevalier bekannt wurde. Anders gesagt: Weil über Johannes Vermeer van Delft außerordentlich wenig bekannt ist, gab sein Gemälde einen hervorragenden Anlass für den Roman über ein Bild. Es ist ein durchaus unscharfes, populäres Wissen, das 2017 die Google-Frage nach dem Maler des Gemäldes generierte. Wahrscheinlich blieb auch die Vorstellung vom Gemälde unscharf, das für die Geschichte und das Filmplakat um ein Männerprofil im Nacken ergänzt wurde.[4]   

 
Screenshot T.F.

Emilie Gordenker verweist darauf, dass das Interesse an Vermeer und seinem Gemälde Mädchen mit dem Perlenohrring zum Beispiel durch eine weltweite Ausleihe des Bildes in den letzten 25 Jahren zugenommen habe.[5] Weil man so wenig über den Maler und sein Bild weiß, wächst der Wunsch mehr vom Maler, seinem Bild und dessen Modell zu wissen. Das geringe verbriefte Wissen wie, dass sein Vater mit Textilien handelte und eine Gastwirtschaft in Delft betrieb, die Google als Antiquitätenladen für Street View fotografiert hat oder dass Johannes Vermeer als Protestant eine Katholikin geheiratet habe, reicht gerade, um Fragen und Erzählungen in Gang zu setzen.[6] Was sich verlinken und taggen lässt, wird miteinander verknüpft. Die biographischen Narrative zum Maler und seinen Bildern fallen spärlich aus. Deshalb kitzeln sie das Interesse als einem Wissenwollen.


Screenshot T.F. 

Gordenker knüpft an die mythologische Figur der Sphinx als Geheimnisträgerin an: „Is Vermeer still the ´Sphinx of Delft´?“ Allein durch ihre Schweigsamkeit vermag die Sphinx als Mischwesen aus Mensch und Tier, aus Menschenkopf und Löwenkörper die Fragen nach Herkunft, Art und Geschlecht zu wecken.[7] Das grammatische Geschlecht der im Deutschen weiblichen Sphinx wird denn auch zum Gegenstand einer Ordnungsfrage in Griechisch, Deutsch, Französisch und Ägyptisch. Die Faszination Vermeers lässt sich demnach als eine Ordnungsfrage nach Herkunft und Zugehörigkeit formulieren. Vermeer lässt sich schwer anderen Malern, einer Werkstatt oder Familie zuordnen. So kommt denn auch Gordenker zum Schluss, dass Vermeers Arbeiten uns immer ein bisschen weniger als ein vollendetes Bild (complete picture) geben.[8] Die weißen Tupfer an den Ohren fallen ins Auge, damit wir die Perlen sehen wollen wie bei der schreibenden Frau am Tisch. Mehr noch die Perlen, Briefe und Spiegelbilder lösen sich im Zoom und der „ultra high resolution“ auf.

 
Screenshot T.F.

Das Mauritshuis in Den Haag beherbergt ebenfalls Vermeers Ansicht von Delft, die detailreich, aber mit 96,5 cm Höhe mal 115,7 cm Breite klein, fast winzig ausfällt. Das Kleine verschiebt womöglich auch den Blick, weil es die winzigen Details der Stadtansicht fast verschwinden lässt. So werden denn auch nicht die winzigen Details in der sprachlichen Erfassung des Gemäldes genannt, sondern die drei großen bzw. dominierenden horizontalen Flächen. Die Geheimnisse indessen sind im Detail versteckt, das sich nun mehr mit der Maus und dem Drehrad heranzoomen lässt. In den Details könnten sich die Betrachter*innen verlieren. In den Flächen lässt es sich einrichten. 

This is the most famous cityscape oft he Dutch Golden Age. The interplay of light and shade, the impressive cloudy sky and the subtle reflections in the water make this painting an absolute masterpiece.[9]      


Screenshot T.F. 

Die Ansicht von Delft, wie Vermeer sie gemalt hat, lässt sich heute und mit den historischen Stadtplänen auf Wikipedia kaum verifizieren. Dabei enthält das Gemälde viele Details, die Wirklichkeitseffekte generieren. So steht die Uhr an dem torartigen Gebäude neben der Brücke auf 2 Uhr 35. Um 1660 war eine derartige Uhr an einem Hafenbecken vor der Stadt gewiss ein Novum. Es wird eine Art Stadt- oder Hafenverwaltung beherbergt haben. Bei näherer Betrachtung durch Zoom lassen sich nicht nur auf dem sandhellen Kai am unteren Bildrand sechs Personen erkennen, vielmehr sind auch auf dem Kai vor der Stadtmauer zahlreiche Personen in mikrologischen Strichen angedeutet. Es ist eine von den Wolkenformationen eher sommerliche Szene um die Mittagszeit. Die Spiegelungen, die Uhr, die kurzen, kaum vorhandenen Schatten der Personen auf der Hafenanlage, die kaum bewegte Oberfläche des Wassers in waagerechter Schraffierung stellen eine faszinierende Wirklichkeit her, die es so nie gegeben haben muss.


Screenshot T.F. 

Der Wunsch, von den Figuren mehr denn Personen auf dem Kai zu erzählen, wächst mit den angedeuteten Details, die sich durch Zoom vergrößern. Eine Gruppe von zwei in Schwarz mit Schürzen gekleideten Frauen und zwei herrschaftlichen Männern mit schwarzen Hüten steht neben einem Kahn. Die Frau mit der weißen Haube trägt ein Kleinkind ebenfalls mit einer weißen Haube auf ihren Armen. Sie steht etwas abseits, während sich die drei anderen Figuren – in einem Gespräch – einander zugewandt stehen. Ist es eine Abschiedsszene? Wird gehandelt? Ein wenig entfernt haben sich zwei Frauen zueinander gewandt, als führten sie ein Gespräch. Die sechs Figuren beleben das Bild von der Stadt ungemein, indem sie wenigstens zwei unterschiedliche Szenen des Stadtlebens andeuten.


Screenshot T.F. 

Die Ansicht von Delft steht vielleicht nicht am Anfang, doch sie fällt in die Frühzeit der Veduten im 17. und 18. Jahrhundert. Dieses neuartige Genre der Malerei wird von Caspar van Wittel um 1700 mit Ansichten von Rom ausgebaut und zur Blüte entwickelt. Stadtansichten werden vor allem im 18. Jahrhundert von Caneletto mit der Camera Obscura und belebten Szenen zu wie detailgenauen Darstellungen städtischen Lebens. Die Piazza San Marco von Canaletto kann anhand einiger Details ziemlich genau auf einen Zeitraum zwischen 1723 und 1724 datiert werden. Doch diese Möglichkeit fehlt bei Vermeers Ansicht von Delft ca. sechzig Jahre zuvor. Nieuwe Kerk (rechts) und Oude Kerk (links) lassen sich in der Stadtansicht identifizieren. 

We are looking at Delft from the south. There is hardly a breath of wind and the city has an air of tranquillity. Vermeer reflected this tranquility in his composition, by making three horizontal strips: water, city and sky. He also painted the buildings a bit neater than they actually were.[10]    


Screenshot T.F. 

Google – „Discover the hidden details in Vermeer’s most famous works – A up-close look with the help of Art Camera“ – kombiniert die Details zum Beispiel des Berliner Gemäldes Das Weinglas mit Textblöcken.[11] Das Bild und seine Details werden durch die Kombination von Bilddetail und Text erzählbar. Sie generiert eine Moralerzählung. Jedes bildhafte Detail lässt sich beispielsweise als Emblem entschlüsseln. Dies trifft z.B. in den Gemälden Das Weinglas wie Mädchen mit Weinglas zu. Während in dem ersten Gemälde das Emblem der Temperantia unscharf bleibt, wird es im zweiten im Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig befindlichen fast schon überdeutlich ausgemalt.[12] 

The stained glass window shows a fimale figure with bridles, a motif that can be identified as a personification of „Temperantia“ (moderation). In the context of the scene depicted, Temperantia alludes to the consumption of wine, but also tot he dangers of letting oneself get carried away by emotions. Vermeer used the emblema second time in the Girl with a Wine Glass (Brunswick), in which the man’s advances are much more explicit.[13] 

(Das Glasfenster zeigt eine weibliche Figur mit Zügeln, ein Motiv, das als Personifizierung von „Temperantia“ (Mäßigung) identifiziert werden kann. Im Rahmen der abgebildeten Szene spielt Temperantia auf den Weinkonsum an, aber auch auf die Gefahr, sich von Emotionen mitreißen zu lassen. Vermeer nutzte das Emblem oder Sinnbild zum zweiten Mal bei dem Mädchen mit einem Weinglas (Braunschweig), in dem die Zudringlichkeit des Mannes viel deutlicher wird.)


Screenshot T.F. 

Die neuartige, quasi animierte Kombination von Bild und Text lässt sich als die eigentliche Google-Innovation formulieren. Die Glosse schreibt und zeigt, was gesehen werden soll. Der Text schiebt sich als Glosse in ein Bilddetail und lässt das Emblem als Transformation einer Morallehre lesbar werden. In dem Moment springt das faszinierende Bild in ein Moralbild um. Demnach bedürften die Frauen in Vermeers Bildern vor allem einer Moral, die sie im Bild lesen und erkennen sollen. In Das Weinglas und Mädchen mit Weinglas werden nicht etwa die Männer wegen ihrer Zudringlichkeit belehrt oder verurteilt, vielmehr sollen die Frauen an die Temperantia bzw. Mäßigung erinnert werden. Dann hätte Vermeer etwa die kleinformatigen Bilder für Frauen gemalt, damit sie in einer Gesellschaft von seefahrenden Kaufmännern, also abwesenden Ehemännern beständig an ihre Treue erinnert werden. Man könnte sich die Kaufmänner als Auftraggeber vorstellen, die ihren Frauen in der See- und Handelsstadt Delft zum Abschied Moralbilder in die Hand drücken. – Oder doch lieber nicht?


Screenshot T.F. 

Das brieflesende Mädchen am offenen Fenster von Jan Vermeer van Delft in der Gemäldegalerie Alte Meister zu Dresden inszeniert eine Leseszene, die oft besprochen worden ist. Es ist vermutlich die älteste Darstellung einer lesenden Frau von Vermeer, wenn man der Datierung von insgesamt 8 Lese- und Schreibszenen des Malers folgen will. Schreibende und lesende Frauen sind in Vermeers heute bekanntem Werk von 37 Bildern demnach ein genre-bildendes Thema. Entsprechend sind die unterschiedlichen Ausarbeitungen wie die mit dem Weinglas wiederholt in einen Moral-Kontext gestellt worden. Die Bilder stellten inkriminierte Liebes-Brief-Wechsel dar, von denen die Frauen abzuhalten wären. Die sehr verschiedenen Ausarbeitungen des Moralthemas von der lesenden und deshalb untreuen Frau lassen unterdessen auch andere Sichtweisen zu.


© SKD Foto: Wolfgang Kreische 

Mit einer Höhe von 83 cm und einer Breite von 64,5 cm ist das Gemälde wiederum recht klein. Wertschätzung und Gebrauchsweisen sind mit dem Kleinen verknüpft. Das Kleine wird oft übersehen. Es ist leicht zu übersehen. Und es gehört nicht zu den sogenannten Highlights der Dresdner Galerie. Auf dem Audioguide der Gemäldegalerie Alte Meister erfährt das größere Gemälde mit dem käuflichen Mädchen in seiner zitronengelb leuchtenden Bluse, der zum Empfang ihres Lohns geöffneten rechten Hand und den leicht geröteten Wangen eine ausführlichere Betrachtung. Das kleinere Bild wird nur nebenbei erwähnt. So muss sich die Betrachterin das lesende Mädchen am offenen Fenster selbst erschließen. Das kleinere Bild darf nach einigen Augenblicken schnell als das komplexere gelten.


Screenshot T.F. 

Während das größere die all zu offensichtliche und leicht entschlüsselbare Szene einer Verführung, die kaum noch als eine solche genannt zu werden braucht, zeigt, geht es mit der Leseszene um subtilere Arten des Verführens. Die Liebe im ersten Bild wird mit barer Münze abgegolten. Im anderen Bild geht es auch um Liebe – so oder so -, aber auf merkwürdig verschlüsselte Weise. Das größere Gemälde springt schon wegen dem flächigen Gelb- und Rot-Kontrast ins Auge, während das kleinere das Auge herausfordert, genauer hinzuschauen. Zunächst ist das Bild so inszeniert, dass alles offen und hell vor uns liegt. Eine junge Frau mit geordneter Haartracht steht an einem weit geöffneten Fenster. Die Sonne scheint ihr auf die Stirn und auf den Papierbogen, den sie im unteren Drittel zwischen ihren Händen aufgespannt hat. Sie hat bereits einen guten Teil des Schreibens gelesen.


Screenshot T.F.

Ein roter Vorhang ist zusammengezogen und schwungvoll über das geöffnete Fenster geworfen, damit er nicht stört. Zur Leseszene gehört ein weiterer Vorhang, bei dem man sich unsicher wird, wozu er überhaupt im Gemälde auftaucht. In der Google Animation wird auf diesen Vorhang nicht eingegangen. Er wird hingenommen. Am äußersten oberen Rand des Bildes durchtrennt eine Vorhangstange die Bildaufteilung scharf. An der Stange hängt der opulente, lindgrüne Vorhang, der zur Seite gezogen ist. Dieser Vorhang, von dem man nicht weiss, wozu er überhaupt im Bild auftaucht, gibt zu denken.


Screenshot T.F.

Ein weiteres Element der Bildkomposition zieht regelrecht den Blick auf sich. Es sind das Gesicht und die Brustpartie des Mädchens, die sich in der Scheibe des Fensters spiegeln. Während durch die Helligkeit und Farbigkeit des Bildes alle Konturen kontrastreich zu erkennen sind, bleibt das Spiegelbild unscharf. Es ist vermutlich die geschickte Unschärfe, die den Blick herausfordert. Nicht, dass man nicht erkennen könnte, dass es das Spiegelbild des Mädchens ist. Das Spiegelbild in seiner Unschärfe ist vielmehr flächiger als das Portrait des Mädchens selbst. Und mit der Unschärfe, die die größere Flächigkeit hervorbringt und die die beim Lesen niedergeschlagenen Augenlider deutlich hervorhebt, während das Mädchen nur im Profil ausgearbeitet ist, beginnt die Betrachterin zwischen beiden zu vergleichen. Stimmt das Spiegelbild überhaupt? Mit einem Mal gibt es in dem Bild eine Inkongruenz.


Screenshot T.F.

Vermeers Interieurs, Kleider und Kleidungen sind in seinen wenigen Bildern wiederholt zu finden. Er verwendet eine Art Sprache der Dinge. So erinnert der opulente Teppich über dem Bett, hinter dem das Mädchen steht, an den Teppich in dem größeren Gemälde, wo ein Teppich über ein Geländer geworfen ist. Das Kleidoberteil des Mädchens im Profil findet sich in Vermeers Gemälde Soldat und das lachende Mädchen wieder. Auf dem zweiten Bild ist das Kleid in einem Zweidrittel-Profil zu sehen. Es ist ein kostbares Kleid. Die junge Frau mit Wasserkrug am Fenster scheint es ebenso zu tragen wie die Cembalo-Spielerin auf dem Gemälde mit dem Titel Das Konzert. Es ist ein weit geschnittenes Oberteil. Schwarz mit lindgrüner Seide, wobei das Lindgrün je nach Lichteinfall in einen Goldton wechseln kann. Das Schimmern, das sich vor dem Bild in der Galerie einstellt, ist bei Google auf dem Smartphone, Tablet oder Desktop fast unmöglich. Auch ist es allein auf dem Bild des Mädchens am Fenster so, dass das Oberteil viel zu groß wirkt. Es passt auf den zweiten Blick überhaupt nicht. Das ist merkwürdig.


Screenshot T.F. 

Während auf den ersten Blick alles im Bild stimmig war, gerät es auf den zweiten ins Schwanken. Das Samtige des Teppichs lässt sich sinnlich mit Händen greifen. Einmal auf der Samt des Teppichs aufmerksam geworden, kann mir das Stillleben einer flachen Porzellanschale mit verschütteten Äpfeln und Pfirsichen nicht mehr entgehen. Dabei ist daran zu erinnern, dass Pfirsiche eben Persische Äpfel heißen. Die samtige Haut der Pfirsiche besticht nun das Auge genauso, wie die blaue Glasur der Schale. Ein Pfirsich ist aufgeschnitten und liegt mit dem dunklen Kern und dem hellen Fruchtfleisch offen neben der Schale. Vom Persischen Apfel ist gegessen worden. Unversehens befinden wir uns beim Samt, dem Kern, dem Fleisch und der Glasur in einem mikrologischen Bereich des ohnehin nur 83 x 65 cm großen Gemäldes. Während das Samtige die Konturen durchlässig werden lässt, setzt sich die Seide des lindgrünen Vorhangs dazu scharf ab.


© SKD Foto: Wolfgang Kreische 

Der Vorhang mit seiner feinen, scharfen Seide lädt uns in die Inszenierung der Lese-Liebes-Szene ein und schneidet uns von ihr ab mit der Schärfe eines Seidenfadens. Da uns der zur Seite gezogene lindgrüne Vorhang, das weit geöffnete Fenster mit dem darüber geworfenen roten Vorhang und nicht zuletzt das helle, sonnige Licht immer wieder eingeladen haben, uns die Szene anzusehen, sehen wir auch, dass wir nichts sehen. Die niedergeschlagenen Augenlider verdecken die Augäpfel des Mädchens, was uns noch deutlicher als im Profil das unscharfe Spiegelbild zeigt. Wir sehen, dass wir nichts sehen. Wir lesen, dass wir nicht nichts lesen. Und doch ist es nicht einfach, als hätten das Sehen und das Lesen zu nichts geführt. 

 

Torsten Flüh 

 

Google Arts & Culture 

Meet Vermeer 

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[1] Editorial Feature: Johannes Vermeer: The most famous artist you’ve never heard of. Discover all 36 of the mysterious artist’s paintings in the same place fort he first time. (ohne Datum)

[2] Gemäldegalerie Alte Meister: Forschung: Restaurierung von Johannes Vermeers Gemälde „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ (ohne Datum)

[3] Editorial Feature: Johannes … [wie Anm. 1]

[4] Siehe: Girl with a Pearl Earring (Wikipedia)

[5] Emilie Gordenker: Is Vermeer still the ´Sphinx of Delft´? (Editorial Feature)

[6] Editorial Feature: 12 things you didn’t know about Vermeer. Art historiam Jonathan Janson offers insight into the mysterious artist. (Editorial Feature)

[7] Zu Mischwesen vgl. auch: Torsten Flüh: Haarige Konfrontationen. Zu Thomas Machos Vortrag Verwandlungsgeschichten: Von Wölfen und Schweinen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. November 2013 21:35.

[8] Emilie Gordenker: Is Vermeer … [wie Anm. 5]

[9] Jan Vermeer c. 1660 – 1661: View of Delft. (Google Arts & Culture)

[10] Ebenda.

[11] Editorial Feature: Discover the hidden details in Vermeer’s most famous works – A up-close look with the help of Art Camera. (Editorial Feature)

[12] Jan Vermeer: Das Mädchen mit dem Weinglas. (Google Arts & Culture)

[13] Jan Vermeer: Das Weinglas. (Google Arts & Culture) 

Celebrating Space Odyssey - Zum Silvesterkonzert 2018 des Deutschen Symphonie Orchesters Berlin mit dem Zirkus Roncalli

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Zukunft – Raumfahrt – Akrobatik 

 

Celebrating Space Odyssey 

Zum Silvesterkonzert 2018 des Deutschen Symphonie Orchesters Berlin mit dem Zirkus Roncalli 

 

Zirkus war immer schon mehr Zukunft als Vergangenheit. Die äußerst erfolgreichen, weil ausverkauften Silvester- und Neujahrskonzerte des Deutschen Symphonie Orchester Berlin mit dem „Weihnachtscircus“ von Roncalli zelebrierten in diesem Jahr die Zukunft mit ihren Versprechen von Raumfahrt, Schwerelosigkeit und Nervenkitzel besonders eindrücklich, ja, sensationell. So wie der Jahreswechsel selbst ein Versprechen auf die Zukunft an der Schnittstelle von Ende und Anfang ist, kombinierte das DSO in diesem Jahr das Zirkus- mit einem verheißungsvollen Musikprogramm auf höchstem Niveau. Kevin John Edusei dirigierte das DSO für die drei Vorstellungen mit äußerster Konzentration und Einfühlung.

 

Das Silvesterkonzert, das um 19:00 Uhr beginnt und gegen 22:00 Uhr endet, gehört seit 2003 zu den unbestrittenen Highlights der Silvesterveranstaltungen in Berlin. Es soll ein Zufall gewesen sein, dass das Tempodrom in jenem Jahr den Zirkus Roncalli wie das DSO für den gleichen Termin buchte. Mittlerweile ist das Silvesterkonzert auf drei Konzerte angewachsen. Während die Berliner Philharmoniker in diesem Jahr Daniel Barenboim (1942 in Buenos Aires), gewiss ein Weltstar, dem Berlin viel zu verdanken hat, für das Silvesterkonzert buchten, standen mit Kevin John Edusei (1976 in Bielefeld) und Jeanine de Bique (1981 in San Fernando, Trinidad) Künstler*innen in der Arena, die noch eine große Zukunft vor sich haben.

 

Der Berichterstatter entdeckte das Silvesterkonzert des DSO im Tempodrom 2004, als ein berühmter, aber noch nicht ganz so berühmter japanischer Dirigent auf einem Schimmel in die Arena geritten kam. Es war Kent Nagano. Der Dirigent zu Pferd war natürlich auch eine Art Silvesterscherz. Vor allem gab es damals noch Pferde bei Roncalli. Am 31. 12. 2011 gab es noch eine Dressur mit Pudeln.[1] Doch die Zeiten und Diskurse ändern sich gerade beispielsweise bei Pferdebesitzer*innen und -liebhaber*innen. Meine Schwester wollte dann doch nicht so gern zu einer bekannten Pferdeshow, obwohl sie eine Karte zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Tiere sind im Zirkus nicht mehr angesagt. Das Zirkusprogramm kann eine Art Seismograph für kulturelle Veränderungen sein. Zirkus ist anders als Revue oder Grand Show im Friedrichstadt-Palast. Doch schon die Hundedressur in The Wyld 2014 löste Diskussionen aus.[2]

 

Man mag das bunte, ein wenig zusammengewürfelte Plakat von Bernhard Paul’s Original Roncalli Weihnachtscircus zum „15 Jahre Jubiläum“ etwas unübersichtlich finden. Doch mittig platziert ist eine graphische Adaption des Tempodrom, das zu einem Astronautenhelm für den Clown Chistirrin transformiert wurde. Doch vielleicht ist diese Unübersichtlichkeit ein Problem für Erwachsene. Womöglich spricht das Bunte mit den vielen Andeutungen an Astronauten besonders Kinder an. Wahrscheinlich sind Kinderaugen und Kinderwünsche der eigentliche Anstoß, um in den Zirkus zu gehen. Auf dem Plakat wird Unglaubliches sichtbar gemacht. Menschen fliegen durch die Luft und balancieren auf einem roten Planeten mit Ringen. Und das Kerzenlicht auf dem zweiten I von RONCALLI verspricht dann doch die Heimlichkeit von Mutters Kaffeetisch.

 

Die Raumfahrt könnte so etwas sein wie der letzte Wunsch für die Zukunft, wenn es auf der Erde nichts mehr zu wünschen gibt. Alexander Gerst war bestimmt in diesem Jahr in vielen Kinderzimmern ein Superstar. Er hatte mit Live-Schaltungen in die Tagesthemen das Zeug für Kinderträume. Nach Astro Alex, wie er populär heißt, bereitet sich Deutschland auf Astro Insa bzw. Insa Thiele-Eich auf das Abenteuer in der Internationalen Raumstation vor. Raumfahrt ist allemal ein Medienereignis mit Geschlechterrelevanz. Die Raumfahrt als Ort der Gleichberechtigung wurde, wie man/frau in der Ausstellung HIJRA FANTASTIK im Schwulen Museum erfahren konnte, schon im April 1984 von einem Vertreter der Hijras eingefordert.[3] Raumfahrt ist noch der letzte große Zukunftstraum. Im Silvesterkonzert wird er geschickt und fast hintergründig mit Richard Strauss‘ Einleitung aus Also sprach Zarathustra verknüpft und mit der spektakulären Nummer von Trio Simet verkoppelt.

 

Kevin John Edusei dirigiert das Deutsche Symphonie Orchester Berlin gerade für Strauss‘ Zukunftsmusik sehr genau in den Beginn der Luftakrobatik am sogenannten Semaphor. Es ist wahrscheinlich Stanley Kubricks Meisterwerk 2001: Space Odyssey (1968), das Richard Strauss‘ sinfonische Dichtung von 1896 erstmals mit der Raumfahrt verkoppelte. Die Einleitung kann bei Stanley Kubrick ebenso als Motorengeräusche des Raumschiffes im All gehört werden. Das Tongeschlecht changiert in einem Crescendo zunächst zwischen Dur und Moll. Das geschlechtliche Changieren, zu dem drei Menschen in weißen Raumanzügen mit Helmen die Semaphor genannte Stahlkonstruktion besteigen, wird von Edusei wunderbar heraus gearbeitet. Es war sogar so, dass man im Programmablauf zunächst gar nicht das Grummeln vernahm. Doch die Einleitung der Tondichtung ist ein sehr dankbares Stück Musikliteratur. Sie wurde mittlerweile schier unauflösbar mit dem Mythos der Raumfahrt in der Popkultur verbunden.

 

Auf eigensinnige Weise korrespondiert Richard Strauss‘ Komposition nach Friedrich Nietzsches „Buch für Alle und Keinen“ mit dem Mythos von der Raumfahrt und dem Raumanzug. Der Raumanzug mit Helm machte den ersten Menschen im All, Yuri Gagarin, am 12. April 1961 zum Zukunftsversprechen der Menschheit. Für den Sozialismus der UdSSR war es wichtig, das Yuri Gagarin unverwechselbar nicht nur wie ein Pilot, sondern wie ein Neuer Mensch aussah. Darin lag die eigentliche Funktion des Raumanzugs, der einer Tauchausrüstung ähnlich genäht und geklebt wurde.

 

 

Wie Matthias Schwartz hat 2015 zur Funktionskleidung geschrieben hat, war der Raumanzug mit Helm, der nun selbst die Artisten zu Raumfahrern, Astronauten gar, macht, eine widersprüchliche Inszenierung. Sie macht die Raumfahrt allererst sichtbar zu machen.[4] Astro Alex trägt in der Raumstation ein T-Shirt, während er mit dem Tagesthemen Moderator spricht. Laszlo Simet als Artist setzt nun dem Raumanzug ein, um Schwerelosigkeit und Weltraum in der Manege erscheinen zu lassen. 

      Notwendig war diese mühevolle Handarbeit nicht – sie diente nur für den abwegigen Notfall, dass aus der Raumkapsel Sauerstoff entweicht; jede andere denkbare Katastrophe war jedoch wahrscheinlicher. Erst wenige Wochen vor dem Start beschäftigte man sich mit der Frage, wie man den Kosmonauten nach seiner Landung finden sollte. Selbst wenn alles gut ging und er über dem Territorium der UdSSR zurückkehrte, betrug die Unschärfe des Zielortes mehrere hundert Kilometer. So bekam das Gummi-Lawsankostüm noch eine dritte schlabberige, aber strahlend orangefarbene Stoffhülle, in der man den Kosmonauten nach seiner Landung in möglicherweise unbewohntem Gebiet besser vom Hubschrauber aus orten können sollte.[5]

 

Im Zirkus wird der Mythos des Raumfahrers, Astro- oder Kosmonauten am Semaphor zu einem artistischen Spiel nicht nur der Körper, vielmehr noch der Zeichen. Denn der konstruierte und später – bis heute – ausgestellte „Kosmische Skaphander“ von Yuri Gagarin als Prototyp aller Raumanzüge war trotz der Mühen dysfunktional.[6] Doch im Zirkus geht es gerade bei der Kleidung der Artisten weniger um die Funktionalität, als vielmehr um die Signifikanz der Kleidung. Die Akrobaten am Trapez zeigen vermeintlich viel Haut, während sie fleischfarbene Trikots tragen, die womöglich gar Funktionen beim Akt erfüllen. Am Semaphor werden die kastenförmigen Rucksäcke auf den Raumanzügen zu Sauerstoffgeräten.

 

 

Sicher nicht zufälliger Weise nennt Simet seine Stahlkonstruktion Semaphor. Denn als Semaphor werden sowohl ein Formsignal als mechanisches Eisenbahnsignal, als auch ein optischer Telegraf oder ein einzelnes Zeichen des internationalen Winkeralphabets bezeichnet. Natürlich ist die Raumfahrt mit dem Trio Simet ganz große Akrobatik und Körperbeherrschung. Sie ist allerdings auch ein Spiel mit den Zeichen und Mythen, die immer schon etwas anderes erzählen, als das, was akrobatisch stattfindet. Angekündigt wird Laszlo Simet als „mulitmedialer Circus im Zeichen der Raumfahrt zum 50. Jubiläum der Mondlandung ... als Kombination aus klassischer Akrobatik und moderner Technik“.

Der Raumfahrer, wie er nicht zuletzt mit der Einleitung von Also sprach Zarathustra zu Gehör kommt, wird zum populären Übermenschen, zum Versprechen von dem Menschen als den er sich imaginieren möchte. In der Zirkusmanege sind die Artisten immer ein wenig mehr und meist räumlich über den Menschen als Zuschauer. Sie können und machen etwas, was das in seinen Schwächen allzu menschliche Publikum nie könnte. Darin liegt ein weiterer Anlass zur Faszination. Vielleicht gehen Kinder ganz besonders gern in den Zirkus, weil sie statt der Tricks all das zu sehen bekommen, was sie sich niemals hätten träumen lassen. Der Clown Chistirrin schießt Pfeile auf Menschen, die sich sogleich verlieben müssen. Und ein Pfeil geht daneben und trifft den Dirigenten in den Rücken, so dass auch dieser sich in das nächstbeste Objekt, einem Mann mit Bauch, verlieben muss. Die Clowns verraten meist mehr als die Akrobaten über die Wünsche der Menschen. Daran kann sogar Nietzsches Zarathustra-Vorrede mit einer artistischen Formulierung erinnern. 

Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch - ein Seil über einem Abgrunde.[7]


© Kai Bienert

Was früher das „Seil über einem Abgrund“ war, sind heute waghalsige Sprünge der Airtrack Jumpers, Jonglage des Duo Twin Spin, Jump´n´Roll oder Ulik Robotik und Semaphor oder einfach sehr viele Stühle über einander gestapelt. Unter dem Menschen lauert der Abgrund, wenn man Nietzsches Formulierung folgen möchte. Die Erzählung vom Seil und Seiltänzer in Also sprach Zarathustra erinnert an den Zirkus, aber auch an die Unsicherheit des Lebens. Das Bild vom Menschen wird bei Nietzsche eher mit dem Artisten als einem Übermenschen verknüpft. 

Inzwischen nämlich hatte der Seiltänzer sein Werk begonnen: er war aus einer kleinen Thür hinausgetreten und gieng über das Seil, welches zwischen zwei Thürmen gespannt war, also, dass es über dem Markte und dem Volke hieng.[8]

 

Mit den ferngesteuerten Stahlkonstruktionen und Maschinen von Ulik Robotik mit Martin Riedel und Simet kündigt sich nicht nur die Zukunft der Akrobatik an, vielmehr inszenieren sie das Seil immer nur anders. Musikalisch geht dies mit einem ebenso facettenreichen wie poetischen Programm zusammen. Schon die Eröffnung der Ouvertüre zu Richard Wagners Oper Der fliegende Holländer kündigt einen abgründigen Menschen an. Darauf folgt Aram Chatschturjan, dessen Kompositionen ebenfalls im Soundtrack von 2001: Space Odyssey einen breiten Raum einnehmen. Camille Saint-Saëns Danse macabre begleitet durchaus hintergründig Martin Riedel bei seinem Tanz mit und am (noch) ferngesteuerten Roboter. Wahrscheinlich könnte man den Roboter schon von vorneherein programmieren. Doch in der Akrobatik gibt die Fernsteuerung wohl noch das Gefühl der Abstimmung, des richtigen Timing und Herr der Lage zu sein. Wann werden wir den ersten Roboter mit Künstlicher Intelligenz in der Zirkusmanege sehen?


© Kai Bienert

Die Frage nach dem Menschen wird heute weniger mit dem Verhältnis zum Tier formuliert, vielmehr wird sie in Dystopien des technisch Möglichen verarbeitet. Ulik Robotik sorgt für einen fernen Schein der Künstlichen Intelligenz. Es sieht recht spielerisch aus. Martin Riedel balanciert auf der beweglichen Stange, die auch in die Höhe gefahren werden kann. Es ist so, als gebe der Roboter bereitwillig dem Akrobaten die Gelegenheit, um sein Können aus Kraft und Präzision zu zeigen. Im Zirkus ist die Künstliche Intelligenz des Roboter noch ferngesteuert und wird von einem unsichtbaren Steuermann beherrscht. Das ist ein Versprechen wie ein Wunsch, der sich in den Algorithmen des Internets mittlerweile verabschiedet hat. Die Frage nach dem Menschen stellt sich heute nicht daran, wie der Mensch das Tier dressieren kann, vielmehr verändert sie sich dahingehend, wie sehr er sich noch gegenüber der Maschine als Algorithmen behaupten kann.

 

Jeanine de Bique gelingt es mit vier Arien, die ganze Bandbreite ihrer beachtlichen und mit den Koloraturen akrobatischen Stimmkunst vorzuführen. Charles Gonouds Arie Je veux vivre dans ce rêve (Ich möchte leben in diesem Traum) aus der Oper Roméo et Juliette perlt geradezu dahin. Sein Ah! Je ris de me voir (Ich lache, wenn ich mich seh), auch Juwelenarie genannt, aus der Oper Faust setzt die Koloraturen ebenso luftig wie beschwingt ein. Glück, das mir verblieb aus Erich Wolfgang Korngolds Oper Die tote Stadt, singt sie mit einer wärme und poetischen Hingabe, dass der Applaus für das Duo Rose am Trapez nur noch störte. Auch das ist allzu menschlich, statt der Poesie zwischen Arie und Trapezakt zu lauschen, klatscht das Publikum dann doch dazwischen. The Town Is Lit aus dem Liederzyklus Honey and Rue von André Previn mit Gedichten von Tony Morrison setzte nochmals einen ganz anderen Akzent. André Previn, der 1929 in Berlin als Andreas Ludwig Priwin geboren wurde, komponierte den Liederzyklus nach Rhythmen des Jazz und Blues.

 

Das Silvesterkonzert mit dem Deutschen Symphonie Orchester ist zu einem künstlerischen Highlight der Musiksaison geworden. Musikalisch werden keine Konzessionen gemacht, die Kompositionen sind dramaturgisch auf das Zirkusprogramm abgestimmt und klug durchdacht. Bekannte Stücke wechseln mit ausgesuchten Juwelen und Entdeckungen. Und als Höhepunkt stapelt der chinesische Artist Kong Haitao zu Claude Debussys/Leopold Stokowskis Clair de lune freihändig – sagen wir – mehrere Stühle aufeinander. Je höher der Stühleturm wird, desto geheimnisvoller und ruhiger wird die Musik mit Edward Elgars Nimrod aus den Enigma-Variationen. Kevin John Edusei und Jeanine de Bique möchte man auf jeden Fall in Zukunft wieder in Berlin hören. Das finden auch meine Freunde Lucas und Jens, die für Artisten gehalten wurden. 

 

Frohes neues Jahr 2019! 

Torsten Flüh 

 

DSO
nächstes Konzert mit Jean Christoph Spinosi
am 8. Januar 2019, 20:00 Uhr in der Philharmonie

 

Roncalli 

Weihnachtszirkus 

noch bis 6. Januar 2019 im Tempodrom 

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[1] Siehe: Torsten Flüh: Silvester entschleunigt. Silvesterkonzert des Deutschen Symphonie-Orchesters im Tempodrom. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. Januar 2012 21:34.

[2] Siehe: Torsten Flüh: Nofi goes Gaga. Zum Wirbelsturm der Körper-Bilder in THE WYLD im Friedrichstadt-Palast. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Oktober 2014 19:43

[3] Siehe: Torsten Flüh: Slum, Raumfahrt und Ekstase. Zur Installation HIJRA FANTASTIK von Claudia Reiche im Schwulen Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. Oktober 2018 21:08.

[4] Matthias Schwartz: Gagarins Raumanzug. In: Christine Kutschbach, Falko Schmieder (Hg.): Von Kopf bis Fuss. Bausteine zu einer Kulturgeschichte der Kleidung. Berlin: Kadmos, 2015, S. 24-29. 

[5] Ebenda 25, siehe zum orangefarbenen Raumanzug auch Juri Gagarin auf den Bleiglasfenstern des Auditorium Maximum der Humboldt-Universität zu Berlin in Torsten Flüh: Sehen, was Juri Gagarin sah. Christopher Rileys Film The first Orbit auf YouTube. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Mai 2011 22:56. 

[6] Vgl. auch Torsten Flüh: Das Ding mit der Kleidung. Zur Buchvorstellung Von Kopf bis Fuß im Museum der Dinge. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. November 2015 20:52.

[7] Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Chemnitz: Schmeitzner, 1883, S. 12. (Deutsches Textarchiv)

[8] Ebenda S. 18. (Deutscher Textarchiv) 

Vom Kult und der Literarisierung des Theaters - Zur 304. Aufführung von Bob Wilsons Inszenierung der Dreigroschenoper im Berliner Ensemble

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Kult – Verfremdung – Literarisierung 

 

Vom Kult und der Literarisierung des Theaters 

Zur 304. Aufführung von Bob Wilsons Inszenierung der Dreigroschenoper im Berliner Ensemble 

 

Am 28. Dezember feierte Die Dreigroschenoper in der Inszenierung von Robert Wilson ihre dreihundertste Aufführung seit dem 26. September 2007. Sie ist zum Kult geworden. Vor dem Berliner Ensemble stehen Menschen mit Pappzettel: „Suche Karte!“ An der Abendkasse drängen sich die Kartenhungrigen so sehr, dass die Damen und Herren an der Kasse bisweilen grantig werden und die Drängelnden zurückweisen. Vor der Vorstellung ist es ein wenig, wie es im Stück der Slogan auf den Punkt bringt: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“ Bei der 304. am 1. Januar 2019 ist es nicht anders als die Tage zuvor. HEUTE GROSSES HAUSDie Dreigroschenoper am BE wird als Kult gefeiert.

 

Dass es so weit kommen könnte, war bei der Premiere eher nicht vorauszusehen. Die Inszenierung von Robert Wilson ist wie alle seine Inszenierungen eine höchst artifizielle. Sie ist eine eher stille, die zum realistisch-fantastischen Bettler-Setting von Bertolt Brecht nicht zu passen scheint. Inszenierungen sind immer Momentaufnahmen einer künstlerisch-politischen Situation. An größeren Häusern werden die Inszenierungen dann manchmal zehn oder mehr Jahre gezeigt, bis sie mit ihrem Setting gar nicht mehr in die Zeit passen wollen und nur noch museal wirken. In fast magischer Weise trifft dies auf Robert Wilsons Inszenierung der Dreigroschenoper nicht zu. Sie erweist sich als so genau und lebendig wie am ersten Tag. Liegt das an Christopher Nell als Mackie Messer und Angela Winkler als Spelunken-Jenny?

 

Die Dreigroschenoper wurde 1928 in eben diesem Theaterbau uraufgeführt, stand en suite fast ein Jahr lang kommerziell im Programm, wurde zu Bertolt Brechts und Kurt Weils größtem Erfolg in der Weimarer Republik und seit 1954 krönt das Signet aus Neonröhren BERLINER ENSEMBLE den Theaterturm. Insofern ist das Theater am Schiffbauerdamm nicht nur zur Spielstätte, vielmehr zum Inbegriff der Dreigroschenoper und Bertolt Brechts geworden. Wo wenn nicht hier sollte man Die Dreigroschenoper sehen wollen? Doch es sind nicht allein Auswärtige und internationale Touristen, die unbedingt in die 300. Vorstellung hinein wollen. Am 28. Dezember haben es sich schon am frühen Abend eher Einheimische, um nicht zu sagen Berliner, neben der Tageskasse mit Picknick-Korb und Sektflasche festlich gemacht. Das sieht ein wenig nach Waldbühne oder Proms oder gar Rocky Horror Picture Show aus. Kult entwickelt eigene Praktiken der Vorfreude und der Rezeption.

 

Wahrscheinlich kommt man dem Kult nicht mit Theatergeschichte bei. Sie kann den Kult nicht erklären. Die sozialen oder religiösen Funktionen des Kults können ihn ebenfalls kaum in der Popkultur erklären. Geht es um eine Verehrung der Stars Christopher Nell und Angela Winkler? Als Christopher Nell 2007 die Rolle des Mackie Messer in Robert Wilsons Inszenierung übernahm, war er mit 28 Jahren nicht nur recht jung, sondern auch fast unbekannt. Sein androgyner Mackie Messer mit Korsett und onduliertem Blondhaar, falschen Wimpern und rotem Lippenstiftmund war ein Wagnis. Mittlerweile ist Christopher Nell 39, hat aber nichts von seiner geschlechtlichen Zweideutigkeit als „Raubtier und (…) Gentlemen“ verloren. Doch nein, selbst mit der großartigen Angela Winkler lässt sich der Kult nicht erklären. Zumal es weder Brecht noch Robert Wilson noch das Ensemble selbst auf Startheater angelegt haben.

 

Das Berliner Ensemble, dass es nur noch dem Namen nach und als Signet auf der Turmspitze gibt, und das sich nicht aus dem Sprachgebrauch vertreiben lässt – man geht weiterhin ins BE oder Berliner Ensemble –, gibt es schon lange nicht mehr. Brecht hatte ein konkretes Konzept von dem, was er „Berliner Ensemble“ nannte. Seit 1992 gibt es das Berliner Ensemble in der Konzeption Brechts nicht mehr, woran erst kürzlich Michael Bienert in seinem Buch Brechts Berlin erinnert hat: „Nach dem Ende der DDR war Weckwerth als Intendant nicht zu halten, das Berliner Ensemble rutschte mit dem Untergang des Staates, dem es als kulturelles Aushängeschild gedient hatte, in eine tiefe Sinn- und Identitätskrise.“[1] Diese galt auch dem Ensemble-Konzept, das in ganz anderer Weise von Robert Wilson umgewandelt worden ist. Auch bei ihm gibt es keine Stars, die sich produzieren. Sein Theater ist ebenfalls auf das Miteinander eines Ensembles angelegt.

 

Robert Wilsons Inszenierung beginnt mit Kreisen aus Glühbirnen, wie er sie bereits 1976 für die Uraufführung von Philipp Glass‘ Einstein on the Beach entwickelt hatte.[2] Sie haben etwas mit der Konzeption von Ensemble und dem Licht bei Wilson zu tun. So erinnerte sich gerade Christopher Nell mit einer Audition-Anekdote an seine erste Begegnung mit Robert Wilson: „Als junger Schauspieler kam mir das ein bisschen befremdlich vor, wenn man so rumsteht und dann sagt dir jemand: "Feel the stream of the light through your head."“[3] Das Licht spielt nicht nur im Bühnenbild, vielmehr noch im Ensemblekonzept von Wilson eine wichtige Rolle. Es geht ähnlich wie bei Brecht um eine Veränderbarkeit: 

Einige Eigenarten des Berliner Ensembles, die mitunter Befremden erregen, kommen von den Bemühung:

    1. Die Gesellschaft als veränderbar darzustellen.

    2. Die menschliche Natur als veränderbar darzustellen;

    3. Die menschliche Natur als abhängig von Klassenzugehörigkeit darzustellen;

    4. Konflikte als gesellschaftliche Konflikte darzustellen;

    5. Charaktere mit echten Widersprüchen darzustellen;

    6. Entwicklungen von Charakteren, Zuständen und Ereignissen als diskontinuierlich (sprunghaft) darzustellen;

    7. Die dialektische Betrachtungsweise zum Vergnügen zu machen;

    8. Die Errungenschaften der Klassik im dialektischen Sinn ,aufzuheben‘;

    9. Aus Realismus und Poesie eine neue Einheit herzustellen.[4]

  

Bertolt Brechts Konzept für das Berliner Ensemble korrespondiert in mancher Hinsicht mit dem Theater Robert Wilsons. Brecht wollte den „Kunstgenuß des Publikums nicht [schmälern], sondern nur in seiner Natur veränder(n)“.[5] Robert Wilson rückt die Sprache und das Sprechen in seiner Dreigroschenoper in den Vordergrund. Das wird nicht nur technisch durch die Mikrofone an den Mündern der Schauspieler*innen gewährleistet, es wird auch mit akustischen Tricks bewirkt. Die Überhelle der Lichtregie und die bisweilen Übersteuerung der Klangregie verlagern den Realismus Brechts durch Verfremdung in leicht psychedelische Traumsequenzen. Es ist meistens zu hell und ein wenig zu laut, was zugleich eine gewisse, unabweisbare Nähe herstellt. Es lässt sich nicht so einfach weghören oder wegsehen, selbst dann nicht, wenn man nicht genau versteht, was gerade passiert.

 

 

In gewisser Weise ist weder bei Brecht noch bei Wilson das Theater auf Kult angelegt. Wilson geht es um ein schwer zu verifizierendes Dahinter. Das ist keine leichte Kost, die zum Kult taugt. „Was ich an Brechts Theater interessant finde, ist der „Raum dahinter“: hinter dem Text steht feinste Ironie, hinter der Geschichte steht Idee, hinter den Personen stehen Geschichten, hinter dem Raum ist Spannung. Es ist eine große Herausforderung, diese andere Seite des Werkes zu finden, weit darüber hinaus, was auf dem Papier steht“[6], hat Robert Wilson für seine Inszenierung geschrieben. Oder geht es mit dem Kult nicht um das Dahinter, sondern eine Art Wunscherfüllung? Elias Canetti hat 1928 als Gast der Uraufführung eine Wunscherfüllung durch Repräsentation wahrgenommen, die insofern merkwürdig ist, weil gerade keine Bettler, Huren und Verbrecher im Publikum des bürgerlichen Theaters am Schiffbauerdamm saßen.

Es war eine raffinierte Aufführung, kalt berechnet. Es war der genaueste Ausdruck dieses Berlin. Die Leute jubelten sich zu, das waren sie selbst und sie gefielen sich. Erst kam das Fressen, dann ihre Moral, besser hätte es keiner von ihnen sagen können, das nahmen sie wörtlich. Jetzt war es gesagt, keine Sau hätte sich wohler fühlen können.[7]

 

 

 

Worum geht es in der Dreigroschenoper? „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, hatte sich als Inhalt schon bei Canetti verfangen. Geht es um Moral? Zu Anfang wird die Moritat von Mackie Messer gesungen – „Und der Haifisch, der hat Zähne …“ –, die dem Genre nach eine schauerliche, unmoralische Geschichte in einer eintönigen Melodie erzählt. Macheath bringt angeblich reihenweise Menschen um. Aber ist dieses Schauermärchen von Mackie Messer nicht auch voller Widersprüche und Ironie? Wird Macheath nur für alles verantwortlich gemacht, für dass es keine Erklärung gibt? Geht es in der Moritat womöglich darum, mehr von dem widersprüchlichen Wissen und den Erklärungsversuchen zu erzählen? Die Moritat als Genre funktioniert durchaus als Erzählung für Unerklärliches. Wenn es Brecht um „Konflikte als gesellschaftliche Konflikte“ geht, dann verdeckt die Moritat von Mackie Messer dies gerade.

Wo ist Alfons Glite, der Fuhrherr?

Kommt das je ans Sonnenlicht?

Wer es immer wissen könnte –

Mackie Messer weiß es nicht.[8]    

 


Foto: Moritz Haase

 

Doch Spelunken-Jenny schickt der Moritat hinterher: „Das war Mackie Messer!“ Aus der Entstehungszeit der Dreigroschenoper gibt es so gut wie keine Kommentare von Bertolt Brecht zum Stück. Erst nachträglich hat er sich 1937 mit Das Lesen von Dramen zu ihrem Konzept geäußert. Im Nachhinein lässt sich damit die Moritat von Mackie Messer weniger auf das was, als auf das wie erzählt wird, lesen. Denn die Moritat ist musikalisch wie erzählerisch darauf angelegt, Mackie Messer als Schuldigen für alle Verbrechen anzunehmen. Gleichzeitig sind Reim und Melodie so eingängig, dass wenigstens die erste Strophe vielen Menschen einfällt, sobald von der Dreigroschenoper gesprochen wird. Brecht hat dahingehend einen Wink gegeben:

»Die Dreigroschenoper« befaßt sich mit den bürgerlichen Vorstellungen nicht nur als Inhalt, indem sie diese darstellt, sondern auch durch die Art, wie sie sie darstellt. Sie ist eine Art Referat über das, was der Zuschauer im Theater vom Leben zu sehen wünscht.[9] 

 


Foto: Barbara Braun

 

Brechts Formulierung korrespondiert auffällig mit Elias Canettis Beschreibung der Uraufführung. Der ursprüngliche Erfolg im Theater am Schiffbauerdamm könnte demnach der Figur der Verkennung geschuldet sein. Gewünscht werden Krimi und Sex, was die Endlosproduktionen von Krimis im Öffentlich-rechtlichen Fernsehen und anderswo erklärt. Krimi und Sex gehen immer. Krimis im Rotlicht-Milieu sind Erfolgsgaranten. Da darf es auch schon einmal in Wort und Bild deftig zu gehen. Nicht zuletzt die Histo-Serie Berlin Babylon profitiert davon. Die Dreigroschenoper ist Krimi und Sex. In der „Verfremdung“ von Robert Wilson funktioniert die Verkennung möglicher Weise anders als in der Inszenierung 1928 am heutigen Bertolt-Brecht-Platz mit Brecht-Denkmal. Die historische Aufladung des Platzes wie des Ortes befördert das Gefühl, das Stück nur allzu gut zu kennen. Die Weltberühmtheit wird eher gekannt als das Dahinter. Und die Weltberühmtheit als Wissensformat von Brecht und dem Berliner Ensemble generiert gewisse eigene Wünsche wie den, sich selbst nun an diesem Ort zu sehen.

 

 

Doch Die Dreigroschenoper ist immer noch ein Opernstück über Bettler, Huren und Verbrecher, sozial Ausgegrenzte und Marginalisierte. Insbesondere bezüglich der Bettler gibt es heute eine unangenehme Nähe zum Inhalt. Denn es vergeht kaum eine U- oder S-Bahnfahrt, während der man nicht von Obdachlosen mit ihren Geschichten angesprochen wird. Ohne einer gewissen Schutzhaltung, dass man das Leid dieser meist von Drogenabhängigkeit Gezeichneten nicht beheben kann, lässt sich das kaum aushalten. Natürlich sind Drogenabhängige und/oder Obdachlose eine gesellschaftliche Erscheinung, die sich unterdessen nicht mit einfachen Strategien beheben lässt. Auf der U-Bahn-Station irrt eine junge Frau mit zerzaustem Haar zwischen den Geschäftigen. Sie wirkt fast hipp, bis der Passant die zerschossenen Schuhe und die nackten Füße mit der schrundigen Haut sieht. Ein Mensch. Anders gesagt: die Bettler auf der Bühne sind schon gefährlich nah. Brecht ging es darum, dies aufzudecken.

Da er (der Zuschauer, T.F.) jedoch gleichzeitig auch einiges sieht, was er nicht zu sehen wünscht, da er also seine Wünsche nicht nur ausgeführt, sondern auch kritisiert sieht (er sieht sich nicht als Subjekt, sondern als Objekt), ist er prinzipiell imstande, dem Theater eine neue Funktion zu erteilen. Da aber das Theater selber seiner Umfunktionierung Widerstand entgegensetzt, ist es gut, wenn der Zuschauer Dramen, die nicht nur den Zweck verfolgen, auf dem Theater aufgeführt zu werden, sondern auch den, es zu verändern, selbst liest: aus Mißtrauen gegen das Theater.[10]  

 

 

Aushalten kann man Die Dreigroschenoper eigentlich nur, wenn man sie nicht mit den obdachlosen Verkäufer*innen der Berliner StraßenzeitungMotz in U- und S-Bahn, mit den Trinker*innen aus der Trinkerecke am Leopoldplatz oder anderswo in Verbindung bringt. Es gibt ebenso andere Bettler in Berlin z. B. Roma, die relativ organisiert sind. Doch auch bei ihnen wäre jegliche Bettler-Sozial-Romantik fehl am Platze. Brecht verfolgte mit seinem Stück keine bürgerliche Romantisierung, sondern eine „Literarisierung“ der sozialen Verhältnisse auf der Straße. Zwar fehlen in der Inszenierung von Wilson die „Titel der Szenen“ als Tafeln, aber sie werden aus dem Off (Walter Schmidinger) deutlich angesagt. Der Begriff der „Literarisierung“ bleibt bei Brecht unscharf. Er schreibt ihm allerdings eine entschiedene Funktion zu, die mit Walter Benjamins „Literarisierung der Lebensverhältnisse“[11] in Die Zeitung korrespondiert:

… Diese Literarisierung des Theaters muß, wie überhaupt die Literarisierung aller öffentlichen Angelegenheiten, in größerem Ausmaß weiterentwickelt werden.

Die Literarisierung bedeutet das Durchsetzen des »Gestalteten« mit »Formuliertem«, gibt dem Theater die Möglichkeit, den Anschluß an andere Institute für geistige Tätigkeit herzustellen, bleibt aber einseitig, solange sich nicht auch das Publikum an ihr beteiligt und durch sie »oben« eindringt.[12]  

 

 

 

Die Literarisierung als Strategie der Aufführungspraxis wird von Robert Wilson quasi akustisch mit der überdeutlichen Inszenierung der Sprache umgesetzt. Denn, was bei Brecht Literarisierung heißt, kommt allererst in der gesprochenen Sprache zum Vollzug. Die Literarisierung wendet sich gegen eine Naturalisierung von Verhaltens- und Redeweisen bzw. die vermeintlich „menschliche Natur“. Dadurch wird die Literarisierung zu einem Verfahren der Enthüllung oder Aufdeckung von „alle(n) öffentlichen Angelegenheiten“ und nicht nur diesen. Die Literarisierung deckt auf, wie die Lebensverhältnisse gemacht worden sind und werden. Der spaßige Streit um die richtige Benennung der Möbel und Geschenke zur Hochzeit von Polly und Mac überdeckt, dass sie eigentlich obdachlos sind.

WALTER Na, und das? Chippendale! Er enthüllt eine riesenhafte Chippendale-Standuhr.

MAC Quatorze.

POLLY Die ist großartig. Ich bin so glücklich. Ich finde keine Worte. Ihrer Aufmerksamkeiten sind so phantastisch. Schade, daß wir keine Wohnung dafür haben, nicht, Mac?[13]

 

 

Die witzigen Formulierungen werden in Robert Wilsons Inszenierung dadurch gesteigert, dass beispielsweise Polly (Johanna Griebel) mit einer hohen, sagen wir, kindlichen Stimme spricht und ihren Äußerungen ein „Puuuh“ hinterherschickt. Fast comicartig werden stereotype Phrasen wiederholt, während sich Polly und Lucy (Franziska Junge) im von Bertolt Brecht „Eifersuchtsduett“ genannten Streit in Rage bringen. Statt einem „Zickenkrieg“ wie er heute im Dschungelcamp[13], Bachelor[15] oder ähnlichen Formaten als Realität(!) inszeniert wird, werden bei Brecht und Wilson die Mechanismen der Sprache vorgeführt und offengelegt. Es geht Brecht gerade nicht darum, Polly und Lucy als, sagen wir, „Schlampen“ zu diskreditieren, sondern vorzuführen, wie ein „Eifersuchtsduett“ mit wortgleichen Wiederholungen funktioniert.

POLLY Na, das werden wir ja sehn.

LUCY   Ja, das werden wir ja sehn.

BEIDE Mackie und ich, wir lebten wie die Tauben

         Er liebt nur mich, das laß ich mir nicht rauben.

         Da muß ich schon so frei sein

         Das kann nicht vorbei sein

         Wenn da so `n Mistvieh auftaucht!

         Lächerlich![16]

 

 

Vielleicht beruht der Kult um Die Dreigroschenoper auf eben jener Verkennung, dass das Publikum genüsslich einen popkulturell gehypten Zickenkrieg sehen will und sieht, wo es um die Entlarvung seiner sprachlichen wie gestischen Arsenale geht. Man weiß es nicht. Meine Platznachbarin, eine junge Frau, jubelte laut wie in einem Popkonzert schon nach dem Vorspiel zum Dritten Akt von Filch (Georgios Tsivanoglou), woraufhin sich der ältere Herr vor ihr umdrehte und sie anfauchte, damit aufzuhören. Die junge Frau hatte die Inszenierung schon früher sehen wollen. Für sie und vielleicht manch andere/n lassen sich die Verhaltensweisen bei einem Popkonzert mühelos auf Die Dreigroschenoperübertragen. Brecht hat keine Mühen und Direktheit in der Dreigroschenoper gescheut, um sein Publikum frontal anzusprechen.

MAC   Ihr Herren, die ihr uns lehrt, wie man brav leben

         Und Sünd und Missetat vermeiden kann

         Zuerst müßt ihr uns was zu fressen geben

         Dann könnt ihr reden: damit fängt es an.

         Ihr, die ihr euren Wanst und unsre Bravheit liebt

         Das eine wisset ein für allemal:

         Wie ihr es immer dreht und wie ihr’s immer schiebt

         Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.

         Erst muß es möglich sein auch armen Leuten

         Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden.

STIMME hinter der Szene: Denn wovon lebt der Mensch?

MAC   Denn wovon lebt der Mensch? Indem er stündlich

         Den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frißt.

         Nur dadurch lebt der Mensch, daß er so gründlich

         Vergessen kann, daß er ein Mensch doch ist.

Chor   Ihr Herren, bildet euch nur da nichts ein:

         Der Mensch lebt nur von Missetat allein![17]

 

 

Im zweiten Dreigroschen-Finale wird auch in der Inszenierung von Bob Wilson das Publikum, „der Zuschauer“ als „Herren“ frontal und massiv angegangen. Das ist durchaus gespenstisch, wenn er sich als „Objekt“ des Theaters sehen und angesprochen fühlen muss. Dafür wird das Theater selbst in Szene gesetzt, wenn die „Stimme hinter der Szene“ Mac soufflieren muss: „Denn wovon lebt der Mensch?“ Die Stimme ist eine Art großer Souffleur des Theaters oder der Dialektik. Der Mensch lebt durchaus kannibalisch vom Menschen, was nicht zuletzt Karl Marx mit anderen Worten formuliert hat. Es gibt keinen Protest aus dem Publikum, sondern Applaus nach dem zweiten Dreigroschen-Finale. Jenny (Angela Winkler) wiederholt die Anklage als Erzählung des „Weib(es)“. Doch vielleicht kommt „der Zuschauer“ so gut damit klar, weil doch alles nur im Theater und nicht auf der Straße gegen ihn gesungen wird. Fast handelt es sich schon um eine Publikumsbeschimpfung, wie sie Peter Handke 1966 rausbrachte und wie sie am 10. Januar wieder im Deutschen Theater zu hören und zu sehen sein wird.

 

 

Dass das zweite Finale der Dreigroschenoper weniger eine Beschimpfung abwesender, als vielmehr anwesender „Herren“ sein könnte, wird auf merkwürdige Weise übersehen und überhört. Wenn man das zweite Finale nicht gerade, als schon vorher erwarteten Song in der fast schon Schlagerparade der Brecht/Weil-Songs wahrnimmt, und endlich kommt dann die Formulierung, die alle kennen und gern zitieren – „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ –, dann müsste es eigentlich haken und „der Zuschauer“ sich fragen, wie er sich besser verhalten sollte oder seine Haltung zum Theater verändern könnte. Vielleicht sind die jubelnden und pfeifenden Zuschauer*innen genau das, was sich Brecht gewünscht hätte. Das weiß man nicht. Jedenfalls bleibt das Publikum der 304. Vorstellung überwiegend brav. Vielleicht fühlt der eine oder andere seinen Wunsch gar erfüllt und genießt es.

 

 

Wie lange der Kult um Die Dreigroschenoper in der Inszenierung von Robert Wilson anhalten, ob er vielleicht nie enden wird, lässt sich nicht im Voraus wissen. Eine grandiose Aufführung mit ebenso überzeichneten wie treffenden Typen wie dem Polizeichef von London Brown von Axel Werner oder auch der mit monströsen Hüften ausgestatteten Celian Peachum von Claudia Burckhardt wird man „allemal“ zu sehen bekommen. Und vor allem Angela Winkler, die den Salomon-Song unglaublich zerbrechlich und herzergreifend melancholisch vor dem Vorhang singt, so dass es Szenenapplaus gibt, genießt den Schlussapplaus mit Christopher Nell sichtlich. Ein großes Fest des Lebens, „allemal“.   

 

Torsten Flüh

 

Berliner Ensemble

Die Dreigroschenoper

Etwas Geduld

Weitere Termine folgen bald.

 

Deutsches Theater

Publikumsbeschimpfung

10. Januar 2019 20:00-22:00

2. März 2019 20:00-22:00

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[1] Michael Bienert: Brechts Berlin. Literarische Schauplätze. Berlin: vbb, 2018, S. 80.

[2] Siehe: Torsten Flüh: The Moon, the Shooting Star and the Happening. Einstein on the Beach im Haus der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. März 2014 20:46.

[3] "Mackie Messer ist ein Raubtier und ein Gentleman" Interview | 300 Mal "Dreigroschenoper" In: rbb24 28.12.18 | 08:18 Uhr.

[4] Zitiert nach Michael Bienert: Brechts … [wie Anm. 1] S. 78.

[5] Ebenda.

[6] Zitiert nach „Programmblatt“: Die Dreigroschenoper. Berlin: Berliner Ensemble, Spielzeit 2017/2018 #16. „Gekürzte Version des Original-Programmheftes das zu der Premiere am 17. September 2007 erschienen ist.“

[7] Zitiert nach Michael Bienert: Brechts … [wie Anm. 1] S. 76.

[8] Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1970, S. 8.

[9] Werner Hecht (Hg.): Brechts >Dreigroschenoper<. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch, 1985, S. 50.

[10] Ebenda S. 50-51.

[11] Siehe: Torten Flüh: Zeitung und Blog als „Literarisierung der Lebensverhältnisse“. Zu Walter Benjamins Buch EINBAHNSTRASSE und dem Nachtrag Die Zeitung. In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. Januar 2015 19:22.

[12] Werner Hecht (Hg.): Brechts … [wie Anm. 9] S. 51.

[13] Bertolt Brecht: Die … [wie Anm. 8] S. 22.

[14] Mit „Zickenkrieg“ wird heute schon im Titel Werbung für bestimmte Reality-Formate gemacht. RND/tr: Zickenkrieg, Pornosucht, Hitler-Gruß: Die größten Skandale aus 14 Jahren Dschungelcamp. In: Peiner Allgemeine Zeitung 16:17 04.01.2019.

[15] Siehe: Der Bachelor 2019: Christina singt ein Ständchen und ergattert die erste Rose. In: VIP.de 04. Januar 2019 um 13:38 Uhr.

[16] Bertolt Brecht: Die … [wie Anm. 8] S. 63.

[17] Ebenda S. 69-70.

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