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Myth-making und Roland Barthes' Semioklastik - Zu Radical Myth-making: The Cinema of Alain Guiraudie and Albert Serra im Roten Salon

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Leere – Mythos – Queerness 

 

Myth-making und Roland Barthes’ Semioklastik 

Zu Radical Myth-making: The Cinema of Alain Guiraudie and Albert Serra im Roten Salon 

 

Auf dem Programmzettel der Volksbühne zu VariaVision Radical Myth-making … steht jetzt Kommissarischer Intendant: Klaus Dörr. Der Beginn des Podiumsgesprächs im Roten Salon verzögert sich von 21:30 Uhr auf 22:05 Uhr. Die letzte Vorstellung von Liberté ist auf der Bühne gelaufen. Liberté ist abgespielt. Albert Serra hat sich wohl noch von seinem Ensemble verabschieden müssen. Ingrid Caven meldet sich später beim Podiumsgespräch kurz zu Wort. Knappe Ausschnitte von Serras filmischer Adaption von Liberté werden gezeigt. Dann eine Schnittfolge von Alain Giraudies queerem Thriller L’inconnu du lac (2013). Die Ausschnitte sind nackter als die offiziellen Trailer in Französisch, Englisch und Deutsch Der Fremde am See bei YouTube. Die im Trailer weggeschnittene Nacktheit gehört wohl zum radical myth-making.

 

Myth-making ist ein Begriff aus dem Englischen, der schwer zu übersetzen ist. Vielleicht geht es mit Mythenbildung. Giovanni Marchini Camia will sich mit den beiden ebenso radikalen wie queeren Film- und Theaterregisseuren über ihre Mythenbildung, ihre filmischen Erzählweisen unterhalten. Doch Albert Serra will vielleicht gerade keine Mythen auf die Bühne oder Leinwand bringen. Denn er hat eine, sagen wir, andere Vorstellung von Schauspielern, Laien und Theater. Es war wohl nicht zuletzt diese andere Art der Arbeit mit Menschen, Kostümen, Bühnenbild, Ton und Text, die bei der Uraufführung am 22. Februar 2018 zu einem erbitterten und leidenschaftlich ausgetragenen Berliner Theaterskandal führten. Internationale Kritiker waren zum Teil befremdet über die Heftigkeit der Verrisse im deutschen Feuilleton.

 

Man weiß, wie die Geschichte ausgegangen ist. Aktuell spricht und schreibt fast niemand mehr über die Volksbühne. Chris Dercon hat sich vom queeren Bürgermeister und Kultur- wie Europasenator Klaus Lederer entlassen lassen. Seither konnte sich kein neues Programm etablieren. Wie denn auch? Der Kommissarische Intendant setzt das Programm annährend wie geplant um. Die tragische Geschichte hat auch viel mit dem Mythos Volksbühne und Mythen als Wissensform zu tun. Albert Serra sagt am Samstagabend fast schon freundlich, dass es sich um ein „Missverständnis“ gehandelt habe. Was für die Einen mit dem Langzeitfilm Three Little Pigs und Liberté, wie hier besprochen, fast ein „Meisterwerk“ werden konnte, sollte von Anderen unter Pfiffen und Protest zum Schweigen gebracht werden. Wie konnte das passieren?

 

Wieviel hat der Mythos Volksbühne zum Abbruch beigetragen? Und hätte eine andere Mythenbildung dazu beitragen können, den Konflikt zu entschärfen? Worum geht es mit Mythen? Die Geschichte eines Missverständnisses ist eine recht freundliche Umschreibung für die sofortigen Absetzungsforderungen und das Aufkleberkleben recht aggressiver Kritiker. Was vor der Intendantentür abgelegt wurde, wie es Peter Kümmel in der ZEIT berichtete, hat sehr viel mit Mythen und Ideologie zu tun. Am Volksbühnenhaus, auf den Schaukästen und dem Haupteingang ist der Aufkleberspuk verschwunden. Auf der Umrandung des Rosa-Luxemburg-Platzes rotten die letzten vor sich hin. Es geht um ein Zuhause, vielleicht gar Heimat, um Liebe und Hass. Geradezu körperlich. „Polesch komm nach Hause. Sophie komm nach Hause. Faust komm nach Hause.“ Das ist auch unheimlich.[1]    

 

Der Mythos nicht nur als Erzählweise. Vielmehr wurde er als Wissensformund Ideologie von Roland Barthes mit seinem Buch Mythologies (Mythen des Alltags) 1957 erstmals kritisch thematisiert. Zur Wiederauflage der Mythologies schrieb Barthes im Februar 1970, dass es „keine ideologiekritische Anprangerung ohne das Instrument einer Feinanalyse; keine Semiologie, die nicht bereit wäre, in Semioklastiküberzugehen“[2], geben könne. Man kann mit dem Neologismus Semioklastik von einer Dekonstruktion des Zeichens sprechen. Barthes wandte sich gegen die „bürgerliche Norm“ im Frankreich der 50er Jahre. Doch erstens sind Mythologien als Wissensformen nicht auf das Bürgertum begrenzt, zweitens fordert er eine „Feinanalyse“ für die Ideologiekritik und drittens zielt seine Semiologie auf eine „Semioklastik“, also eine Zerstörung des Zeichens. Diese bezieht sich nicht nur auf die „bürgerliche Norm“, vielmehr auf die Tendenz der Mythologies zur Normierung.  

 

Albert Serra hat in einem Interview mit seinem Dramaturgen Giulio Bursi für Liberté mit einer vermeintlich beiläufigen Formulierung an Roland Barthes und seine Semioklastik (semioclastique) angeknüpft. „Ich hasse Klischees und schließe mich Roland Barthes an, der weinende Schauspieler*innen immer verabscheute.“[3] Diese Formulierung auf dem Programmzettel könnte man leicht überlesen. Doch sie beschreibt eine semiologische Fragestellung. Was ist Klischee? „Klischees“ sind permanent gebräuchliche Zeichen oder Formulierungen, die eine Zeichenlogik vorgaukeln. Im Französischen kommt die Rede vom cliché quasi mit dem Buchdruck und der wiederholbaren Einrichtung einer Buchseite auf. Und „weinende Schauspieler*innen“ auf dem Theater oder im Film demonstrieren ein wohl kalkuliertes, abrufbares Weinen. Das Weinen der Schauspieler*innen will unbedingt die Tränen als Zeichen eines Gefühls produzieren, indem auf die unterschiedlichsten Techniken zurückgegriffen wird.

 

Albert Serra geht es mit der Mischung aus Schauspielern, Laien und quasi Antischauspielern um den Schauspieler als Frage. Was ist ein Schauspieler? Was erwarten wir von Schauspielern und einem Theater? Was passiert, wenn eine weltberühmte Schauspielerin, Ingrid Caven, die wenigstens seit der Arbeit mit Rainer Werner Fassbinder vielleicht ein Star, aber doch eher eine Antischauspielerin wurde, auf einen anderen Schauspieler, Helmut Berger, trifft, der im Film eigentlich nie ein Schauspieler, aber Filmstar war?[4] Die Theaterkritiker sahen nur die „Altstar“, deren Besetzung sie für einen Marketingtrick hielten. Altstars sind Mythen und Zeichen für meist ein wenig unscharfe Erzählungen. Und dann einfach Laien in das Ensemble gemischt, wo es doch immer DAS Volksbühnen-Ensemble, die „Sophie“ und die Andern und den geübten Muskel gab?

 

Albert Serra praktiziert eine radikale Queerness, indem er in seinem Liberté-Film, der im September auf der Streaming Plattform MUBI aus Palo Alto, Kalifornien, gezeigt werden wird, nicht zuletzt den Mythos der Freiheit/Liberté befragt und die Zeichenlogik unterläuft. Freiheit ist nicht zuletzt seit der Französischen Revolution – Liberté, Égalité, Fraternité– ein europäischer Mythos. Er wolle in seinem Film eine fundamentale Leere und mit der „frontality no meaning“ generieren. Die Queerness wird nicht zuletzt zu einer radikalen Ideologiekritik. Er hat schon früher in seiner Arbeit mit Schauspieler*innen und Laien darauf gesetzt, dass sie an der Rampe oder in der Totalen der Kamera keine Zeichen produzieren, die bereits eine Semiologie als Ideologie betätigen und unterstützen. Das geht leicht auch in der Filmkritik, wenn von Mystik gesprochen wird, verloren. 

I was interested in going deeper into this carnal exploration of a certain idea of Europe, and I was intrigued by the idea of a piece based on my method, but without the use of moving images or live-cinema. I hate clichés, and like Roland Barthes, I have always hated crying actors. What I had in mind was to work with nothing but text, with words, almost whispers, few movements and strong, conceptual actions.[5]


Der Fremde am See (Screenshot, Trailer Ausschnitt, T.F.) 

Alain Guiraudie wählt für seine Filme eine andere Methode, die wie sich leicht an dem, was durch die Ideologie der Trailer, die sich übrigens von Sprache zu Sprache und Distributionsmarkt unterscheidet, nicht gezeigt wird, erkennen lässt. Ist die Methode des Filmens, der Kameraeinstellungen und des Schneidens von Alain Guiraudie ein „radical myth-making“? Er praktiziert beispielsweise mit L’inconnu du lac, der die Queer Palm und den Preis für Un certain Regard in Cannes gewann, ein Queering des Genre Thriller mit französischen Filmschauspielern und schwulen Laiendarstellern. Die Nacktheit der Männer an einem Bergsee ist ebenso natürlich wie kalkuliert. Sie treffen sich auf dem steinigen Abhang zum See und in den angrenzenden Büschen, um Sex, vielleicht sogar mehr zu finden. Guiraudie erinnert konzeptuell immer an eine Filmgeschichte, um die soziale Dimension der Homosexualität, wie es Michael Koresky in Passing Through formuliert hat, sichtbar zu machen. 

We’ve been conditioned to believe that queerness exists and thrives only in certain designated spaces. In public terms, there’s the bar, of course, the nightclub, the dance floor, and other sequestered, erogenous zones… Throughout his career, filmmaker Alain Guiraudie has invited such disruption, delimiting the zones where gay desire can flourish, making tangible, concrete common spaces somehow inchoate simply by inviting queerness in. It’s a gesture hat becomes subversive in its very simplicity, and even poignant in its classically Foucauldian implication of the social impossibility of homosexual love.[6]


Der Fremde am See (Screenshot Trailer, Ausschnitt, T.F.) 

Die Filme von Albert Serra und Alain Guiraudie unterscheiden sich in ihrer Queerness. Der Film im Breitwandformat 2.35:1 auf 35 mm gefilmt setzt die Landschaft des Sees mit Bergen besonders spektakulär als hyperreale Naturlandschaft in Szene. Filmisch operiert Guiraudie, Kamera Claire Mathon, mit extremen Einstellungswechseln. Der rätselhafte Fremde, Michel (Christophe Paou), der sogleich an Tom Selleck in der Serie Magnum erinnert, wird in extremer Aufsicht gefilmt, als er nackt aus dem See steigt. Wenn er vor Franck (Pierre Deladonchamps) steht, wird auf eine starke frontale Untersicht geschnitten (Schnitt, Jean-Christophe Hym). Einstellungswechsel und Schnitte generieren eine Syntax und Semiotik bei Guiraudie. Albert Serra verzichtet auf Einstellungswechsel und weitgehend auf Schnitte, wie sich schon an Three Little Pigs sehen ließ.[7] Obwohl Albert Serra und Alain Guiraudie einander schätzen, machen sie völlig unterschiedliche Filme.


Der Fremde am See (Screenshot Trailer, T.F.) 

Die Subversion heteronormativer Bildwelten bestätigt bei Guiraudie letztlich die Ideologie der Zeichen, weil die sozusagen die Zeichen nur gequeert werden. Die Seriengestalt Thomas Magnum/Tom Selleck wird queer, indem die Zeichen auf ein homosexuelles Begehren der Männlichkeit mit Schnurrbart umgedeutet werden. Im Deutschen gibt es für den Schnurrbart seit den 70er Jahren auch dem Begriff Pornobalken, im Englischen pornstache, der auf den vorwiegend heterosexuell agierenden Pornodarsteller John Holmes zurückgeht. Die homosexuelle Praxis, die explizit im Film gezeigt wird, bleibt nicht zuletzt deshalb in einer Zeichenlogik, weil die beiden Hauptdarsteller sehr früh entschieden hatten, mit Body Doubles zu arbeiten.[8] Insofern lässt sich theoretisch sagen, dass der queere Film der Ideologie einer binären Sexualität, männlich/weiblich, aktiv/passiv, bzw. der Heterosexualität verhaftet bleibt.


Der Fremde am See (Screenshot Trailer Ausschnitt, T.F.) 

Guiraudie appliziert die vorherrschende Ideologie der, sagen wir, binären Massenkultur auf die Queerness. Das ist vielleicht nicht ganz so radikal, wie es Michael Koresky emphatisch formuliert. Er bestätigt sie, weil es möglicherweise der Wunsch fast aller schwuler Regisseure ist, in der „Sprache der Massenkultur“ (s)ein Begehren zu genießen. Massenkultur heißt hier weniger eine Kultur im Unterschied zur vermeintlichen Hochkultur, wie sie sich in den fünfziger Jahren noch klassenspezifisch bestimmen ließ. Vielmehr lässt sich die Massenkultur bei Roland Barthes auch als heute gebräuchlicher Mainstream lesen. Man heute also von einer Sprache des Mainstreams sprechen. Roland Barthes verfolgte eine „semiologische Demontage dieser Sprache“, indem er mit Mythologies zwei Ziele verfolgte: 

… einerseits das einer Ideologiekritik, die sich auf die Sprache der sogenannten Massenkultur richtet; andererseits das einer ersten semiologischen Demontage dieser Sprache.[9] 


Der Fremde am See (Screenshot Trailer Ausschnitt, T.F.) 

Worin formiert sich die Ideologie des Mainstreams im digitalen Umbruch? Jodi Dean hat in Anknüpfung an Michael Hardt und Antonio Negri für ihrer Blog Theory - Feedback and Capture in the Circuits of Drive den “communivative capitalism” als “economic-ideologycal form” identifiziert und kritisiert, dass „reflexivity captures creativity and resistance so as to enrich the few as it placates and diverts the many”.[10]Die Reflexivität schlägt die Kreativität und den Widerstand, um wenige reicher zu machen. Die Reflexitität ist nicht zuletzt eine Frage der Repräsentation in einer Zeichenlogik. Insofern gibt es heute im Medium Blog sehr wohl eine vorherrschende, massenkulturelle Ideologie. Dean sieht im „communicative capitalism“ vor allem eine Gefahr für die Demokratie, als Facebook mit seinem Mikroblog noch in den Kinderschuhen steckte. 

Communicative capitalism designates the strange convergence of democracy and capitalism in networked communications and entertainment media. On the one hand, networked communications technologies materialize the values heralded as central to democracy. Democratic ideals of access, inclusion, discussion, and participation are realized in and through expansions and intensifications of global telecommunication networks. On the other hand, the speed, simultaneity, and interconnectivity of electronic communications produce massive distortions and concentrations of wealth as communicative exchanges and their technological preconditions become commodified and capitalized.[11]

 

Der Filmausschnitt zu Albert Serras Liberté begann mit einer Einstellung eines Mannes in der Theaterkantine der Volksbühne. Theaterkantinen sind ja merkwürdige Räume des Wartens und der Erwartung. Sie sind gewissermaßen Zwischenräume auch oft der Langeweile. Die Theatermenschen warten auf ihren Auftritt meistens in einem recht dunklen Ort unter oder hinter dem Theater, der Bühne. Vielleicht besteht für manch einen oder gar die meisten Theatermenschen ihre längste Zeit im Theater aus Warten in der Kantine. Warten auf den Auftritt in der Garderobe ist, kaum eine Alternative. Außerdem könnte man in der Theaterkantine eine Regisseurin oder einen Regisseur oder eine Agent*in oder Journalist*in treffen, die für die Karriere wichtig werden könnte. Kurz Theaterkantinen sind ebenso trostlose wie glamouröse Orte. Früher waren sie auch noch verqualmt. Der Mann im Liberté-Film spricht nicht. Man wird vielleicht den Film Liberté danach beurteilen müssen, wie lange man das Nichts und die Unfreiheit des Wartens in der Theaterkantine aushält.

 

Vielleicht besteht der radikalste Mythos darin, die Leere vor- oder aufzuführen. Three Little Pigs mit seinen Wechseln zwischen Goethe, Hitler und Fassbinder war geradezu noch abwechslungsreich, während Hitlers Monologisieren kaum auszuhalten war. Aber auch Goethes monologische Gespräche mit Eckermann ließen sich kaum ertragen. Am ehesten waren es die Fassbinder-Sequenzen, die in der Leere einer Bar, vielleicht Kellerbar, immer schon von der Leere erzählten. Es ist doch recht schade, dass Albert Serra mit seiner Familie jetzt erst einmal weg ist und wahrscheinlich nicht so schnell wieder große Lust hat, in Berlin zu inszenieren. Paradoxer und vielleicht ehrlicher Weise hatte er die Volksbühne als einen Ort der Freiheit, der liberté, gesehen. 

… But from the beginning we all agreed on a simple idea: we wanted a pure theatre piece that could be appreciated and respected by both families. I am in Berlin because of the Volksbühne. This theatre means freedom. I hope it will offer an escape from the pressure of success, our contemporary tyranny.[12]   

 

Der Erfolgsdruck als Tyrannei und Unfreiheit der Gegenwart gehört zum Regime des kommunikativen Kapitalismus als herrschende Ideologie. Im Grunde hat Albert Serra auf sehr genaue und radikale Weise den Erfolgsdruck mit Liberté inszeniert. Schöne Kostüme, teure Stars, berückendes Bühnenbild, Atmosphäre, Sex fast wie nach den Erfolgskriterien am Broadway oder im Londoner Westend. Und manch eine Theaterbesucher*in wollte ganz gewiss, diese Ökonomie des Erfolgs eingelöst sehen, in einem unterhaltenden, spannenden, durchgetakteten Theaterstück. Doch dann generierte die Polyphonie zur Freiheit statt Harmonie und Spannung fast Langeweile und Disharmonie, die sich in Französisch, Italienisch, Englisch und Deutsch kaum verstehen ließ. Was ein Glück, dass Ingrid Caven wenigstens am Schluss vom Rang Libertá unendlich disharmonisch sang. Vielleicht haben das aber auch nur wenige hören wollen. Und der Gedanke, dass mit jeder zunehmenden Harmonie auch die Freiheit ein Stück abnimmt, kam wohl kaum jemand in den Sinn. 

 

Torsten Flüh 

 

PS: Auf dem besonders kuratierten Streamingportal MUBI wird Liberté als Film im September Premiere haben. The Death of Louis XIV (2016) von Albert Serra wird dort noch 19 Tage gestreamt und Stranger by The Lake (2013) von Alain Guiraudie gibt es noch 18 Tage.

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[1] Siehe zu unheimlich auch: Torsten Flüh: Die politische Krux mit der Sicherheit.Homi K. Bhabhas ZfL-Inaugural Lecture „On Culture and Security“ in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ Berlin 8. Juni 2015 20:01.

[2] Roland Barthes: Mythen des Alltags. (Vollständige Ausgabe. Aus dem Französischen von Horst Brühmann.) Berlin: Suhrkamp, 2010, S. 9.

[3] Albert Serra im Gespräch mit Giulio Bursi: Polyphonie ist eine menschliche Herausforderung. In: Volksbühne Berlin (Hg.): Albert Serra Liberté. Berlin: Volksbühne Februar 2018. (Programmzettel)

[4] Zu Ingrid Caven als Schauspielerin siehe auch: Torsten Flüh: Die Entführung ins Licht. Elfie Mikeschs Welturaufführung von Mondo Lux im Panorama der Berlinale 2011. In: NIGHT OUT @ Berlin 17. Februar 2011 21:51.

[5] Ebenda.

[6] Michael Koresky: Passing Through. In: Volksbühne Berlin: VariaVision Radical Myth-making: The Cinema of Alain Guiraudie and Albert Serra. Berlin: Volksbühne, 2018. (Programmzettel)

[7] Vgl.: Torsten Flüh: Die verlockende Disharmonie der Libertà. Albert Serra zeigt Three Little Pigs und montiert Liberté im Zwielicht an der Volksbühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2018 19:44.

[8] Siehe: Paul Risker: A Conversation with Christophe Paou and Pierre Deladonchamps about a tale of lust, sex, violence and murder. In: The Fan Carpet 21 February 2014.

[9] Roland Barthes: Mythen … [wie Anm. 2].

[10] Jodi Dean: Blog Theory. Feedback and Capture in the Circuits of Drive. Cambridge: Polity Press, 2010, S. 4.

[11] Ebenda.

[12] Albert Serra im Gespräch … [wie Anm. 3]. 


Grenzerfahrung und Empathie - Missa pro defunctis mit dem RIAS Kammerchor unter der Leitung von Justin Doyle und Improvisationen von Andreas Scotty Böttcher

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Requiem – Improvisation – Tod 

 

Grenzerfahrung und Empathie 

Missa pro defunctis mit dem RIAS Kammerchor unter der Leitung von Justin Doyle und Improvisationen von Andreas Scotty Böttcher im Krematorium Baumschulenweg 

 

Die Säulenhalle im Krematorium Berlin-Baumschulenweg hat einen besonders starken Nachhall. Der RIAS Kammerchor hatte sich gerade wegen des starken Nachhalls die Säulenhalle für eine Aufführung der Missa pro defunctis von Tomás Luís de Victoria ausgewählt. Ein Wagnis. Eine Herausforderung. Ein Experiment mit einer Akustik, wie sie Kathedralen für Messen bieten. Die Säulenhalle des Krematoriums, von den Architekt*innen Axel Schulte und Charlotte Frank geplant, ist eigentlich ein sakraler Raum, der keiner bestimmten Religion zugeordnet wird. Er ist nicht dafür konzipiert, dass in ihm Trauerreden gehalten oder Totenmessen gesungen werden. Vielmehr könnte man von einem konzeptuellen Grenzraum sprechen, der durch seine Leere wirkt. In der Reihe ForumKonzert entfaltete der Raum nun eine eigene Magie.

 

Am vergangenen Freitagabend, als sich eine fast lähmende Hitze über Berlin bis an den Stadtrand nach Treptow und den Ortsteil Baumschulenweg gelegt hatte, strömten wohl vor allem die Abonnent*innen und Freunde des RIAS Kammerchors an die östliche Grenze der Stadt. Vom S-Bahnhof Baumschulenweg leitet das Navi von Google-Maps den Berichterstatter über die Baumschulenstraße in die Ernst- und Marienthalerstraße auf die Kiefholzstrße. Fast ländliche Stadthausbebauung. Nicht uninteressant. Um 1900 war hier wirklich der Stadtrand. Über den Britzer Verbindungskanal geht es auf das Areal des großflächigen Friedhofs Baumschulenweg, der in Zeiten der DDR mit dem „Ehrenhain für antifaschistische Widerstandskämpfer und Kämpfer für den Aufbau des Sozialismus“ auch als ein atheistischer, staatspolitischer Gedenkort genutzt wurde. 

 

Schon 1911 wurde hier nach dem Krematorium Wedding (1910) ein weiteres für die Feuerbestattung in Berlin und Preußen erbaut. Die Kirchen wehrten sich gegen die Feuerbestattung, die vor allem aus hygienischen Gründen für die Großstädte zweckmäßig erschien. Denn es waren die Hygieniker, Bakteriologen und Mediziner aus der Charité und angrenzenden Instituten wie Robert Koch, die die Feuerbestattung als zeitgemäße Bestattungsform empfahlen und vorantrieben. Die Feuerbestattung wurde als Verstoß gegen das Dogma der Ruhe, lateinisch requiēs, und dem Versprechen der Auferstehung aufgefasst. Vom alten Krematorium Baumschulenweg sind kaum Fotos erhalten. Es galt vermutlich eher als ein Zweckbau. Das neobarocke Torhaus zur Anlage steht heute noch. Das Krematorium war im Zweiten Weltkrieg stark zerstört worden. Nach 1989 bedurfte es eines neuen Krematoriums. Mit der Säulenhalle knüpfen Axel Schulte und Charlotte Franck formal an eine ägyptische Tempelarchitektur an.

 

Tomás Luís de Victoria komponierte die Missa pro defunctis oder Totenmesse 1603 anlässlich des Todes der Kaiserin Maria von Spanien. Marias zeitweise Herrschaft als Statthalterin über Spanien in Vertretung ihres Vaters Kaiser Karl V. und ihres Bruders Philipp II. führte zu großem, politischen und kulturellen Einfluss und fällt in das als Blüte der spanischen Kunst und Kultur bekannte Siglo de Oro. Mit ihrem Cousin ersten Grades und Gemahl Maximillian II. aus dem Adelshaus Habsburg hatte sie 16 Kinder. Heiraten innerhalb wie Kinderkriegen für die Dynastie der Habsburger dürften für sie weniger individuelle Gefühlsregungen, als durchaus machtpolitische Praktiken gewesen sein. Ihre erste Tochter Anna von Österreich wurde wiederum mit ihrem Onkel, Marias Bruder, Philip II. von Spanien verheiratet. Eine weitere Tochter, Elisabeth von Österreich, wurde mit dem katholischen Herrscher Charles IX. von Frankreich verehelicht. Konfession und Genealogie organisieren die zwischenmenschlichen Beziehungen.

 

Die Missa pro defunctis von Tomás Luís de Victoria für Maria von Spanien lässt sich auch als Religionspolitik verstehen. Die jesuitische Restauration des Katholizismus insbesondere im Spanien des 16. Jahrhundert am Hof von Madrid und dem klosterähnlichen Regierungspalast Escorial führt, wie sich mit der Bildenden Kunst des Siglo de Oro formulieren lässt, einerseits zur Invention und Steigerung einer neuen Perspektivität vor allem im Stillleben, andererseits werden quasi lebensechte oder -getreue, höchst aufwendige Statuen von Ignatius von Loyola, seinen Ordensbrüdern, der Jungfrau Maria und des Gekreuzigten etc. geschaffen, siehe Besprechung der Ausstellung in der Gemäldegalerie 2016. Heilige weinen Tränen aus Glas und werden in von Nonnen gefertigte Gewänder gehüllt. Nach dem Tod ihres Gemahls Maximillian trat Maria durchaus vorbildlich in das Kloster Las Descalzas Reales des Klarissinnen-Ordens ein. Die seit Franziskus von Assisi ein Leben in Armut gelobenden Ordensschwestern der Heiligen Klara von Assisi werden durch den kaiserlichen Eintritt aufgewertet. 

 

Tomás Luis de Victoria gehörte als Geistlicher und Komponist selbst den Jesuiten an, die in Spanien künstlerisch und kulturell die Gegenreformation organisierten. In der Kapelle des Klosters Las Descalzas Reales wurde er persönlicher Kaplan der Kaiserin. Das Kloster war zuvor ein Palast Karl V. und Isabella von Portugals, den von der Renaissance geprägten Eltern Marias, in Madrid gewesen. Dieser wurde offenbar im Zuge der Gegenreformation in ein Kloster der barfüßigen Klarissinnen transformiert. So wird denn auch die Klosterkapelle um 1600 zu einer meisterhaften Barockkirche gestaltet, obwohl der Orden ein Leben in evangelischer Armut praktiziert, während einige repräsentative Palasträume mit Renaissance-Ausmalung erhalten blieben.[1] Die institutionelle Transformation des weltlichen Renaissancepalastes in ein Kloster der Klarissen hat auch eine symbolische Funktion. Doch es ist vielleicht eine spanische Besonderheit, dass weltliche Pracht nicht gelöscht, sondern eher ergänzt und verwandelt wird, während der Protestantismus später in einen radikalen Bildersturm mündet.

 

Tomás Luís de Victoria und Maria von Spanien bewegen sich bis zum Tod der Kaiserin insofern in einem konfessionspolitisch hoch aufgeladenen Raum, der nicht zuletzt in der Missa pro defunctis mit einem Chorwerk umgesetzt wird. Die Abkehr von weltlicher Macht und Hinwendung zum Armenorden der Kaiserin war auch eine politische Geste für die Dynastien in Europa. Henrik Karge verweist auf die lange Regierungszeit von Marias Bruder (und Schwiegersohn), Philip II., von 1556 bis 1598, den sie um fünf Jahre im Kloster überlebte. 

Die neue Militanz der katholischen Kirche war eine Auswirkung der umfassenden Kirchenreform, die das 1563 abgeschlossene Konzil von Trient initiiert hatte und die, unterstützt von Philipp II., in den spanischen Reichen besonders gründlich umgesetzt wurde. Die Fokussierung auf das Tridentiner Regelwerk wird jedoch der Intensität und Tiefe der neuen religiösen Bewegung in Spanien nicht gerecht. Inspirierend wirkte eine Fülle geistlicher Schriften aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die von den hochkomplexen theologischen Werken eines Francisco Suárez, Luis de Molina oder Luis de León (mit bedeutender Lyrik) bis zur emotional geprägten Visions- und Erlebnisliteratur der Mystiker reichte.[2]

Während der Regierungszeit Philip II. als König war Spanien zum Weltreich aufgestiegen, woran schon die nach ihm als Infant benannten Philippinen erinnern. Zentraler konfessionspolitischer Streitpunkt um 1600 ist die Sprache und ihre Verständlichkeit in der Liturgie.[3] Die Frage, wie die Messe verstanden werden kann und soll, spielt für die Missa pro defunctis eine entscheidende Rolle. Im Nachhall der Kathedralen wird die Sprache, wird der Text durch Überlagerungen auch unverständlich, um an spiritueller Verständlichkeit zu gewinnen. Da der Text indessen im Kloster von Nonnen wie Klarissinnen und Mönchen wie Jesuiten durch die tägliche Praxis der Wiederholung wie dem Beten des Rosenkranzes etc. bekannt ist, muss der Text nicht verstanden werden. Vielmehr genügen für die bekannten Texte einige Schlüsselformulierungen, die sich dann in kunstvoller Mehrstimmigkeit im Verein mit dem Nachhall quasi in eine Klangwolke auflösen können und sollen. Eine Spiritualität des formelhaften Textes wird gerade durch seine klangliche Auflösung erzeugt.        

Susanne Langner (Alt) hatte den Part sozusagen der Stichwortgeberin bzw. Kantorin im liturgischen Gesang übernommen, der quasi durch den Nachhall verstärkt wird. Das Officium Defunctorum war als Requiem auf dem Konzil von Trient in Wortlaut und Reihenfolge geregelt worden, woran sich Victoria hält. Insofern geht es um eine kunstvolle, mehrstimmige Ausschmückung des Regelwerks. Dass die Funktion des Kantors von einer Frauenstimme ausgeführt wird, mag eben auf das Nonnenkloster verweisen. Üblicherweise wird der Kantor von einer Männerstimme gesungen. Einen besonderen Reiz entwickelte das Konzert dadurch, dass zwischen den liturgischen Gesängen Andreas Scotty Böttcher auf dem Klavier und dem Marimbaphon freie Improvisationen einspielte. Dadurch wurde das strenge Regelwerk von situativen eben so freien wie sensiblen Einflechtungen kontrastiert.

Auf die Sichtbetonwand der Säulenhalle hinter dem Chor wurden während der Aufführung farbintensive, abstrakte Bilder von Michelle Jezierski projiziert. Die regelhaft hoch ausdifferenzierte Chormusik wurde auf diese Weise von zwei Elementen begleitet und verstärkt, die ein gegenläufiges Konzept der Kunst verfolgen. Statt Sinn durch konfessionelle Gesetzmäßigkeit wird die Chormusik zu einer sinnlichen Erfahrung ohne Theologie. Wird die Spiritualität des 16. Jahrhundert in schwerelos entschwebenden Körpern sichtbar, so ist es in den Improvisationen wie den Bildprojektionen eine Körperlosigkeit, die auffällt. Insbesondere die situativ-kommunikativen Improvisationen machen den Grenzraum der Säulenhalle zu einem nicht nur visuell durchbrochenen Raum. Vielmehr wird die sinnliche Empathie zum Sinn des Requiems. Das Requiem des 16. Jahrhunderts beschwört den toten Körper wie den Körper der Toten, der insbesondere in spanischen Königshaus diversen Praktiken der Verwesung und zugleich Konservierung unterzogen wird.

Der Körper der Toten muss nicht zuletzt erhalten bleiben, weil er spätestens seit dem Propheten Hesekiel 37.10 zur Auferstehung der Gebeine bestimmt ist, die in einer, sagen wir, Re-Formation des menschlichen Körpers stattfindet. Die Toten ruhen nur. Am Ende aller Tage werden sie nicht nur wie Schlafende aufgeweckt werden und auferstehen, vielmehr kehren sie materiell in „Gebein“, „Fleisch“, „Adern“, „Haut“ und „Odem“ durch Gott zurück. Denn die Hesekiel-Prophezeiung verwirklicht sich in der österlichen Auferstehung.

Und ich weissagte, wie mir befohlen war; und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich, und die Gebeine kamen wieder zusammen, ein jegliches zu seinem Gebein. (Hesekiel 37.10) Und ich sah, und siehe, es wuchsen Adern und Fleisch darauf, und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen. Und er sprach zu mir: Weissage zum Winde; weissage, du Menschenkind, und sprich zum Wind: So spricht der Herr, HERR: Wind komm herzu aus den vier Winden und blase diese Getöteten an, daß sie wieder lebendig werden! Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und richteten sich auf ihre Füße. Und ihrer war ein großes Heer.

 

Die Totenruhe ist eine zutiefst materielle. Deshalb kommt dem Requiem des Officium Defunctorum eine rituelle Funktion zu. Der Körper als Material für den göttlichen Odem, darf nicht gänzlich verschwinden. Er muss in einem verschlossenen Raum an einem bestimmten Ort, möglichst in der Nähe zum Ort der sakralen Erzählung, nämlich dem Altar, in der Krypta aufbewahrt werden. Die Krypta ist der privilegierte Ort der Ruhe. Heute verstehen wir vielleicht den Tod eher als einen Abschied vom Leben und den Mitmenschen. Der Abschied ist zu einer Frage der Empathie für die Verstorbenen und Angehörigen geworden.  Doch nicht der Abschied ist der liturgische Zweck des Requiems, sondern die Anrufung des monotheistischen Gottes in Juden- und Christentum wie im Islam, die den Propheten Hesekiel gemein haben, dass er die ewige Ruhe bis zur Auferstehung gewähren und behüten möge. 

Requiem aeternam dona eis Domine:

et lux perpetua luceat eis.

te decet hymnus Deus in Sion,

et tibi reddetur votum in Hierusalem:

exaudi orationem meam, ad te omnis caro veniet.

Herr, gib ihnen die ewige Ruhe,

und das ewige Licht leuchte ihnen.

O Gott, dir gebührt ein Loblied in Zion,

die erfülle man sein Gelübde in Jerusalem.

Erhöre mein Gebet; zu Dir kommt alles Fleisch

 

Die Säulenhalle von Axel Schulte und Charlotte Frank inszeniert auf eindrückliche Weise den Tod als Grenze, der sich der Erfahrung entzieht. Doch gleichzeitig wird dieser Grenzraum mit seinen großflächigen Verglasungen zu einem Ort, der das Innen nach Außen und viceversa spiegelt. Anders als die Krypta als verschlossener Ruheort ist die Säulenhalle nicht geheimnisvoll ver- und abgeschlossen. Der Tod in Abgrenzung zum Leben wird zwar inszeniert, doch zugleich bleibt die Erinnerung an den Toten durchlässig.  Mit Tomás Luís de Victorias Missa pro defunctis im Kontrast und Zusammenspiel mit den kaum einem Genre zwischen Jazz und Klassik zuzuordnenden, vor allem aber empathischen Improvisationen von Andreas Scotty Böttcher verwandelte sich der Grenzraum der Säulenhalle in einen der Meditation über den Tod. 

 

Torsten Flüh

 

PS: Das Konzert wurde aufgezeichnet. Sendetermin auf Deutschlandfunk Kultur ist der 22. Juli 2018 20:03 Uhr mit Mascha Drost. 

 

RIAS Kammerchor

Deutschlandfunk Kultur

22. Juli 2018 20:03 Uhr

Sendetermine 

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[1]Vgl. auch: Interior of the monastery of Las Descalzas Reales (Madrid) Wikimedia Commons.

[2] Henrik Karge: Goldene Künste in eiserner Zeit – Das spanische »Siglo de Oro« in der Kunst- und Kulturgeschichte Europas. In: Gemäldegalerie – Staatliche Museen zu Berlin: El Siglo de Oro. Die Ära Velázquez. München: Hirmer, 2016, S. 22.

[3] Siehe zur Reformation auch Torsten Flüh: Schluss mit dem Heiligen Stuhl, aber wie? Deutsches Historisches Museum zeigt den Luthereffekt im Martin-Gropius-Bau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. April 2017 19:56. 

Sinn und Sinnlichkeit im Sensodrom - Zur Welt ohne Außen - Immersive Räume seit den 60er Jahren im Gropius Bau

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Welt – Virtual Reality – Außen

 

Sinn und Sinnlichkeit im Sensodrom 

Zur Welt ohne Außen – Immersive Räume seit den 60er Jahren im Gropius Bau 

 

„This is so contemporary! This is so contemporary! This is so contemporary! …“ Plötzlich, als der Berichterstatter noch auf den Ausgang von Carsten Höllers flackernde Light Wall (2000/2018) blickt, beginnen die drei Museumsaufseher*innen durch den leeren Raum zu hüpfen, bevor sie wieder in ihre Museumsaufseher-Posen zurückfallen. Museumsaufseher schützen die Kunst und passen auf, dass die Museumsbesucher die Kunst nicht berühren oder gar beschädigen. Mit Tino Sehgals Museumsperformance This is so contemporary von 2004 geraten die Museumspraktiken plötzlich in Bewegung.[1] Die Museumsaufseher werden respektiert und gehören zur Stille im Museum. Sie verkörpern das Hausrecht in der Institution Museum, deshalb überraschen nicht nur ihre plötzliche Bewegung und ihr kommentierender Kehrreim, sie verunsichern auch die Besucher.

 

Vielleicht beginnt alle Immersion mit einer Verunsicherung. Denn die Immersiven Räume wie Larry Bells 6 x 8: An Improvisation von 1994 gleich am Eingang zum Raum-Parcours löst durch Spiegeleffekte Raumgrenzen auf. Befinde ich mich innen oder außen oder mittendrin? Die Improvisation versetzt mich in oder vor das Berliner Abgeordnetenhaus im ehemaligen Preußischen Landtag. Wo spazieren die Museumsbesucher, wenn sie in der virtuellen Spiegel-Realität erscheinen? Die Improvisation von Larry Bell vor dem Eingang ist nicht besonders effektvoll. Man kann sie fast übersehen, weil die Eintrittskarten erst an der nächsten Tür kontrolliert werden. Welt ohne Außen berührt die Museumsbesucher mit Kunstwerken, Performances und Workshops. Get hooked, möchte man sagen, lass Dich mitreißen und berühren von dem von Thomas Oberender und Tino Sehgal kuratierten Ausstellungsformat, einer Art Sensodrom.

 

Gleich neben dem Raum mit den Headsets für die Virtual Reality haben Annika Kuhlmann, Tino Sehgal und Thomas Oberender den Tea Room von Isabel Lewis und Dambi Kim platziert. Die Teezeremonie ist bekanntlich eine rituelle Handlung. Dambi Kim reicht den Besucher*innen am großen Tisch die Malvenblüten, die Okraschote und den frischen grünen Pfeffer in Glaskörbchen, damit sie Farbe, Textur und Aroma der Zutaten wahrnehmen können. Leise Musik im Hintergrund. Kim erklärt ebenfalls leise, wie sie den Tee zubereiten wird. Sie lässt sich Zeit. Die Zeit spielt eine wichtige Rolle, damit die Besucher*innen sinnlich in die Teezeremonie eintauchen können. Es geht um eine Meditation und die Sinnlichkeit. Mit Stäbchen legt Kim in jedes Glas eine Malvenblüte, ein Stück Okraschote und etwas von dem zerdrückten Pfeffer. Die Gesten, die Dambi Kim ausführt, sollen auch wahrgenommen werden.

 

Die Teezeremonie als rituelle Aufführung und fast schon Workshop gehört zum sommerlichen Konzept des Ausstellungsformats. Es gibt täglich wechselnde Aufführungen, so dass sich die Ausstellung ständig verändert. Die Ausstellung wird zu einem Mitmachformat. Für die Teezeremonie ist eine Vorregistrierung möglich. Aber Sie dürfen auch gern spontan während Ihres Ausstellungsbesuches vorbeischauen.  Für den Workshop Suspending Time – Meditations for accessing alternate space/time in music mit Lou Drago sind etliche Termine bis zum 3. August vorgesehen. Auf Twitter werden ständig aktuelle Aufführungen und Workshops bekanntgegeben. Das Format Ausstellung wird umformatiert und Sie können mitmachen z. B. bei der Teezeremonie von Dambi Kim und Isabel Lewis. Sie dürfen den sommerlichen Malventee mit der gurkenähnlichen Okraschote und dem Hauch von grünem Pfeffer sogar trinken. Vielleicht wechselt auch der Tee. Wichtig ist vor allem das immersive Ritual. Beispielsweise führt man in Japan ein kleines Glas an die Lippen, indem die Finger der linken Hand das Glas umfassen und die rechte Hand das Glas am Boden anhebt.

 

Die Virtual Reality kommt mindestens zweimal vor. Immer wieder sind die Türen im ersten Stock des Gropius Baus verschlossen. Wenn die Besucher in NIGHTLIFE von Cyprien Gaillard wollen, dann bekommen sie 3D-Brille aufgesetzt. Das Echo des Dub-Soundtracks sorgt vor der Leinwand, aus der sich tropische Pflanzen in der Nacht herausbewegen, für einen starken Eindruck. Die satt fleischigen Pflanzen bewegen sich so hyperreal, dass sich gar nicht mehr entscheiden lässt, ob es digitale Konstrukte oder wirkliche Pflanzen sind, die sich fast schon nach dem Soundtrack im Wind bewegen. Entweder wirkt der Film in seinen Realitätseffekten beinahe beängstigend oder man könnte sich vorstellen, bei einem Joint völlig in die Pflanzenwelt hinüberzugleiten. Man kann stehen bleiben oder sich auf den Boden setzen. Stehenbleibend versuchen die Besucher*innen auch, so etwas wie einen Standpunkt vor dem Bildschirm beizubehalten.

 

Cyprien Gaillards doppeldeutiges NIGHTLIFE setzt den 3D-Effekt und die schwingenden Echos des Dub-Sound durchaus konzeptuell ein. Einerseits führen die drei ineinandergleitenden Sequenzen von gebietsfremden, invasiven Pflanzenarten, der von Bomben beschädigten Statue Der Denker von Auguste Rodin und dem Pyronale genannten Feuerwerkwettbewerb am Berliner Olympiastadion nächtliche Szenen auf, andererseits erzeugt der visuelle Effekt kombiniert mit dem Dub-Sound eine traumartige oder auch traumatische Realität, wie sie Jacques Lacan einmal, am 19. Februar 1964, damit formuliert hat, dass das Subjekt im Traum ein Schmetterling sei.[2]

Tschuang-Tse kann, nachdem er aufgewacht ist, sich fragen, ob nicht der Schmetterling träume, Tschuang Tse zu sein. Er hat recht, und zwar in doppelter Hinsicht, denn erstens beweist das, daß er nicht verrückt ist, er hält sich nicht für absolut mit Tschuang-Tse identisch — und zweitens, weil er sich nicht bewußt ist, daß er mit seiner Aussage so genau ins Schwarze trifft. In der Tat, als er eben Schmetterling war, erfaßte er sich an einer Wurzel seiner Identität ...

Besonders intensiv wird die traumartige Wahrnehmung mit der Sequenz der Pyronale. Das Feuerwerk wird mit Hilfe einer Drohne aus dem Feuerwerk heraus projiziert. Die Drohne steigt filmend mit den Feuerwerksraketen auf und befindet sich mitten in den farbigen Explosionen. Akustisch wird das hautnahe Feuerwerk allerdings nicht von den Explosionen, sondern vom Dub-Soundtrack des Reggaes Black Man’s Pride (1970) orchestriert.

 

Doch Cyprien Gaillards 3-D-Film geht es nicht nur um die Effekte, vielmehr geht es ihm auch um ein Trauma oder traumatische Ereignisse in urbanen Landschaften, in die die Betrachter mittels der immersiven Kunst verwickelt werden. So wurde Auguste Rodins Skulptur vor dem Cleveland Museum of Art, Ohio, 1970 in einer Zeit zunehmender Studentenproteste durch ein Bombenattentat stark beschädigt. Das Bombenattentat wurde nie aufgeklärt.[3] Die invasiven, gebietsfremden Pflanzenarten verdrängen im gesamten Bereich des Beckens von Los Angeles einheimische, so dass der National Parc Service für die Santa Monica Mountains vor „Bully Plants“ (Tyrannenpflanzen) als den „Evil 25“ warnt.[4] Schließlich erinnert Gaillards mit seinem Film an den „deutschen Eichenbaum, der der afroamerikanische Goldmedaillengewissen Jesse Owen von den nationalsozialistischen Veranstalter*innen der Olympischen Spiele von 1936 geschenkt bekam“.[5] Der effektvolle 3D-Film sucht insofern ambige Orte auf, die sich nicht nur positiv als Erfolg verstehen lassen.

 

In die zweite virtuelle Realität tritt man mittels eines Headsets aus Kopfhörer und Smartphone-Brille in eine Einzelhaftzelle mit einem ehemaligen Insassen ein. Der Raum verändert sich in dem Maße wie ich mich (nicht) in ihm bewege. Ich kann mich oder nur meinen Kopf im immersiven Raum bewegen, um seine Einzelheiten wie Pritsche, Wände, Boden, Decke und das Klo zu sehen. Der ehemalige Häftling erzählt mir von seiner Einzelhaft. Ich kann ihn „anblicken“ oder mir den Raum genauer „ansehen“. Ich kann mich in eine Ecke setzen oder stehenbleiben. Der visuelle und akustische Raum aus Photogrammetrie-Technik und Videogrammetrie verändert sich nach meinen Bewegungen. Ich bin in der Einzelzelle mit ihrer visuellen und akustischen Realität – und ich bin doch nicht drin. Die Arbeit heißt After Solitary (etwa: Nach der Einzelzelle oder -haft).


After Solitary 360° Frontline (Screenshot, T.F.) 

Die Künstlerin und Journalistin Nonny de la Peña gehört zu den Pionier*innen des immersiven Journalismus. Sie möchte mit ihrer hochtechnologischen, digitalen „Reportage“ einen Journalismus betreiben, der die Leserbesucher*innen nicht unberührt lässt. After Solitary ist ebenso sehr Reportage wie Videogame. Von der Fachpresse wird Nonny de la Peña gefeiert, vom Guardian wurde sie als „Patin der Virtual Rality“ bezeichnet. Das „immersive Geschichtenerzählen“[6] durch Digitalisierung im visuellen und akustischen Bereich soll Räume zugänglich machen, die eben wie eine Einzelzellenhaft nur den Häftlingen als Erlebnis zugänglich sind. Lässt sich die Einzelzellenhaft durch After Solitary (2016) unmittelbar erfahren? Wie wirklich wird die Einzelzellenhaft durch das Virtual Reality-Erlebnis? Ist die Immersion nicht auch eine wenigstens ambige Gamifizierung des Journalismus'?

 

Das Eintauchen in die Einzelzelle, in der mir ein ehemaliger Häftling von seiner Einzelhaft – After Solitary - erzählt, wird beispielsweise den Besuch einer Aufführung wie die des Parsifal durch das Gefängnistheater aufbruch in der Justizvollzugsanstalt Tegel mit Häftlingsgespräch im Anschluss keinesfalls ersetzen. Da ist die Immersion um einige Grade intensiver. Die vielfältigen Gesten und Praktiken des Einschlusses, die Temperaturschwankungen und Gerüche, der Entzug der Intimität durch die panoramaartige Einsehbarkeit der Dusche, die Realität des Knastes in den Reglementierungen des Kontakts nach Außen etc. lässt sich schwerlich durch die Antiseptik des immersiven Journalismus erreichen.[7] Die Kultur- und Literaturforscherin Sigrid Weigel hat in ihrer Grammatologie der Bilder 2015 darauf hingewiesen, dass das digitale „Imaging und Scannen“ wie z.B. einer Einzelzelle auch Gefahren birgt. 

Diese Frage betrifft zum einen das Bildwissen physischer Phänomene, deren Gegebenheiten, Bewegungen und Äußerungen sich in Echtzeit dem Bild entziehen, weil sich ihr »Leben« unter bzw. hinter der sichtbaren Oberfläche abspielt und/oder weil ihnen »an sich« kein ikonischer Charakter zukommt - auch wenn die Techniken von digitalem Imaging oder Scannen suggerieren, die Physik und ihre Manifestationen im und als Bild festhalten zu können. Zum anderen betrifft die Frage der Bildgebung die visuelle Darstellung immaterieller, intelligibler oder transzendenter Vorstellungen: die Szene der Ins-Bild-Setzung.[8]

 

Der immersive Journalismus wie er sich „(m)it einer Verbindung aus Photogrammetrie-Technik, die die Nutzer*innen in zwei photo-realistische, mit 3D-Technik gescannte Umgebungen platziert, und der Erfassung durch Videogrammetrie“[9], ankündigt, kann seine Tendenz zur Gamification an der Schnittstelle von Bild und Raum nicht verbergen. Die Digitalisierung des Gefängnisbesuches in einer Einzelzelle bietet zwar ein artifizielles Eintauchen, macht aber das juristische Einschließen tendenziell vergessen. Mit dem Aufsetzen des Headsets ist man plötzlich in einer Einzelzelle, zu der man zwar in der Regel keinen Zugang hat, aber die User können einfach mal vorbeischauen, sich den ehemaligen Einzelzellenhäftling anhören und dann auch wieder, höchst komfortabel, das Headset abnehmen, um in Freiheit zu sein. Das grenzt an einer Verharmlosung der Gefängnisrealität, trotz oder gerade wegen der berührenden Ich-Erzählung. Gamification und immersiver Journalismus treffen an der Schnittstelle von Kriegstechnologie und „»Sichtbarmachen«, das Hans-Jörg Rheinberger als »Grundgestus der modernen Wissenschaft überhaupt« bezeichnet“, als Bildwissen zusammen.[10]

 

Gamification, wie sie mit Nonny de la Peñas After Solitary als immersiver Journalismus auftaucht, übt auf durchaus faszinierende Weise letztlich ein digital generiertes Bild-/Raum-Wissen ein, das möglicher Weise mehr verdeckt als es zeigt. Beispielsweise könnte man in der weißen Zelle, dem Fensterschlitz und der Akustik auch die historische Konstruktion von Gefängniszellen erkennen. After Solitary 360° von Frontline mit de la Peña als Executive Producer ist mit seinem Soundtrack auf YouTube verfügbar. Die virtuellen Bildeffekte stellen sich nur über das Headset-Equipment ein. In den YouTube-Kommentaren kam es 2017 bei Veröffentlichung des 3D-Videos zu einer engagierten Diskussion, ob die Kommentatoren Empathie zeigen oder nicht. Doch es ist wirklich eine Frage, ob die letztlich recht konventionelle Erzählung von der Einzelhaft im 3D-Modus Empathie zu wecken vermag oder eher nicht, und wovon die Empathie dann abhängt. Vielleicht ist es dann doch sehr viel verstörender, wenn ein Häftling beim Gefängnistheater in der JVA Tegel erzählt, dass er ziemlichen Scheiß gebaut hat und trotzdem total sympathisch rüberkommt.

 

Es geht mit der Immersion um die Durchlässigkeit der Welt oder eines Weltbildes. Der Titel Welt ohne Aussen war eine Ad-hoc-Entscheidung, wie Thomas Oberender und Tino Sehgal verrieten. Und vielleicht geht es ja auch nur darum, die Wahrnehmung im Museum ein wenig zu irritieren, wie es mit Jeppe Heins Moving Bench #2 passiert. Man setzt sich auf eine von zwei Bänken und plötzlich fährt sie los. Die Museumsbank wie sie zum Betrachten von Bildern eingesetzt wird, verwandelt sich selbst in immersive Kunst, wenn man sich auf sie setzt. Das ist eine ebenso witzige wie verunsichernde Situation des ganzen Museumsgebäudes, wo doch sonst alles an seinem Platz steht und stehen bleibt. Welt ohne Aussen will irritieren und verunsichern. Das hat auch sehr unterhaltende Effekte.

 

In einem Raum betritt man Doug Wheelers Untitled von 1969/2014. Untitled ist ein von sehr weißem Neonlicht durchfluteter Raum mit einem aus vakuumgeformten Acryl Quadrat an der Wand, das sich kaum fotografieren lässt, weil der Autofokus im einheitlichen Weiß ständig abschmiert. Untitled lässt sich eigentlich gar nicht fotografieren. Man muss in diesen sehr weißen Kubus eintreten, um die fast schmerzhafte Veränderung der Wahrnehmung zu empfinden. Nicht zu vergessen der Raum mit Wolfgang Georgsdorfs Quarter Autocomplete (Osmodrama via Smeller 2.0). Das Osmodrama ist eine Geruchskomposition von 14 min. 30 sec., die automatisch und geruchsintensiv mit einer starken Optik aus Lüftungsrohren abgespielt wird. Sie erinnert entfernt an die Geruchsorgeln des Fin de Siécle. Dem Osmodrama, das mit Experten aus Parsfümistik/Olfatorik, Klimatechnik, Mechatronik, Chemie, Physik und Informatik entwickelt worden ist, kann man nicht entkommen. Georgsdorf hat diese erzählende, zeitbasierte, olfaktorische Kunstform wie ebenso wie den Begriff erfunden. 

 

 

Wiederholt gibt es vor den Räumen eine Warnung: „WARNUNG Im folgenden Raum besteht durch stroboskopische Lichteffekte ein erhöhtes gesundheitliches Risiko bei Personen mit EPILEPSIE-GEFÄHRDUNG...“ „Der Besuch des Cosmodromes dauert ca. 10 Minuten. Bitte die Tür nicht selbst öffnen. Bitte vor Betreten des Raumes Handys ausschalten. Sie betreten einen dunklen Raum.“ WELT OHNE AUSSEN ist gefährlich. Die immersive Ausstellung kann die Wahrnehmung verrücken. Die Gesundheitswarnung vor Carsten Höllers LIGHT WALL oder die Bitten vor dem Eintritt in Dominique Gonzalez-Foersters COSMODROME (2001), das stark an den Russischen Kosmismus, wie er im Haus der Kulturen der Welt zu sehen war, erinnert, geben einen Wink auf die Gefahren der Immersion. Letztlich ist das Cosmodrome eine ebenso spielerische wie ausgeklügelte Licht-Ton-Show in einem dunklen, abgeschlossenen Raum. Man kann sich gar zur Sicherheit in den schwarzen Sand setzen. Doch für manche Museumsbesucher*in stellt bereits ein schwarzer, „dunkle(r) Raum“ eine kaum auszuhaltende Herausforderung dar. 

 

Torsten Flüh 

 

WELT OHNE AUSSEN 

Immersive Räume seit den 60er Jahren 

Ausstellung, Aufführungen, Workshops 

bis 5. August 2018 

im Martin-Gropius-Bau

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[1] Siehe auch: Torsten Flüh: SIE machen mit im Immateriellen. Tino Sehgals Werkschau und This Progress im Martin-Gropius-Bau und Haus der Berliner Festspiele. In NIGHT OUT @ BERLIN 6. Juli 2015 21:04.

[2] Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI. Weinheim, Berlin: Quadriga, 1987, S. 82.

[3] Steven Litt: Cleveland Museum of Art shared tip about 1970 bombing of Rodin 'Thinker' with FBI (photos). Cleveland.com August 31. 2017.

[4] National Parc Service: Invasive Plants, Bully Plants. https://www.nps.gov/samo/learn/management/invasive-plants.htm

[5] Pressemappe: Welt ohne Außen 11/55. Berliner Festspiele (Hrsg.): Berlin 2018.

[6] Ebenda 14/55.

[7] Siehe Torsten Flüh: Parsifal-Skandal in Tegel. aufBruch feiert 20 Jahre Gefängnistheater mit den Berliner Philharmonikern in der JVA Tegel. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. März 2018 19:43.

[8] Sigrid Weigel: Grammatologie der Bilder. Berlin: Suhrkamp Wissenschaft, 2015, S. 9-10.

[9] Pressemappe: Welt … [wie Anm. 5].

[10] Sigrid Weigel: Grammatologie … [wie Anm. 8]. 

Brauchen wir mehr Populismus? - Pierre Rosanvallon hält eine Mosse-Lecture zur radikalen Demokratie

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Populismus – Demokratie – Parteien 

 

Brauchen wir mehr Populismus? 

Pierre Rosanvallon hält eine Mosse-Lecture zur radikalen Demokratie 

 

Die einzige Mosse-Lecture in diesem Semester wurde vom französischen Historiker, Professor am College de France und Pariser Intellektuellen Pierre Rosanvallon unter dem Titel Democracy and Populism in the 21st Century gehalten. Rosanvallon hat sich einen Namen unter Historikern und Demokratiekritikern auch in Deutschland so erfolgreich gemacht, dass er am 24. September 2017 in der ARD-Kultur-Sendung TTT – Titel, Thesen, Temperamente zur Demokratie in Deutschland befragt wurde und für sein Buch Die Gegen-Demokratie in der Hamburger Edition des Instituts für Sozialforschung 5:53 Minuten Sendezeit bekam. Es war der Abend des Wahlsonntags. 76,2 % Wahlberechtigte hatten gewählt. Danach rangen die Parteien monatelang um eine Koalition und die Macht.

 

Joseph Vogl kündigte den Vortrag als Scharnierveranstaltung zum Thema Autokratien - Herausforderungen der Demokratie im kommenden Wintersemester an. Das Demokratieverständnis steht durch den Twitter-Präsidenten, Parteienverdrossenheit sowie Parteiendemokratie und präsidialer Staatsrepräsentation beispielsweise in der Russischen Föderation unter Druck. Unvergessenes Diktum: „Putin ist lupenreiner Demokrat.“ Wie soll Demokratie verstanden werden? „Über die gängigen Populismen könnte man das sagen, was Marx von der Religion sagte: um dieser Bewegung die Stirn zu bieten, muss man von Fall zu Fall aufdecken, wie deren nationalistische und protektionistische Visionen allein auf die Ökonomie bezogen und durch sie bedingt sind“, kündigten die Mosse-Lectures Rosanvallons Vortrag an. Doch Rosanvallon bietet in seiner Mosse-Lecture keine Analyse der „gängigen Populismen“, sondern will mehr direkte Demokratie.

 

Im Oktober 2016 hatte Slavoj Žižek die Vorlesungsreihe Populismus und Politik eröffnet. Die Angst vor dem rechten Populismus nahm zu. Dass er zur politischen Normalität via Twitter werden könnte, konnte sich niemand vorstellen. Mittlerweile hat die CSU als Wahlkampfstrategie für die Landtagswahlen im Herbst, den rechten, nationalistischen Populismus der AfD kopiert. Es geht um den Machterhalt der CSU in Bayern. Dafür wird die bundespolitische Bühne gesucht und nutzt sie. In seinem Buch Die gute Regierung (2016) erfasst Pierre Rosanvallon diese politische Situation recht genau, obwohl er das „Verhältnis von Regierenden und Regierten“ aus der Geschichte beschreibt. Was als Volkswillen von den christlich-sozialen Wahlkämpfern aufgeführt wird, dient allein dem Machterhalt: 

Man kommt an der Feststellung nicht vorbei: Es gibt heute keine demokratische Theorie des staatlichen Handelns. […] Es hat überhaupt niemals eine wirkliche Theorie des Regierens gegeben. Was wir »Exekutivgewalt« nennen, hat natürlich immer existiert. Doch wurde sie von denen, die sie ausübten, als praktische Aufgabe verstanden. Für ihre Inhaber hatte die Macht ihre Rechtfertigung in sich selbst. Ihnen ging es darum, wie man sich Gehorsam verschafft, Impulse übermittelt, Unzufriedenheiten kanalisiert, Kräfteverhältnisse beherrscht, Rivalen ausschaltet.[1]  

 

Rosanvallon ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht müde geworden, durch detaillierte Analysen die Praktiken der Demokratie zu kritisieren. Diese Analysen beziehen sich nicht zuletzt auf die Parteien, wie sie nicht nur in Frankreich und den USA, sondern auch in Deutschland als Akteure der Demokratie unter Druck geraten sind. Es gibt eine Krise der Parteien, wie sie nicht zuletzt zum Bankrott der Parti socialiste in Frankreich geführt hat. Die SPD steckt zunehmend in einer ähnlichen Situation. Die Bewegung En Marche!, die Emmanuel Macron 2016 als Partei gegründet hatte, fegte 2017 geradezu die traditionelle Parti socialiste hinweg. Im Juni 2017 gewannen Macron und seine Bewegungspartei deutlich gegen Marine Le Pens rechtspopulistischen Front Nationale. In Frankreich zeigte sich schon 2016 sehr viel deutlicher als in Deutschland, dass „die Parteien die Repräsentationsfunktion de facto aufgegeben“[2] haben. 

Hier ist eine bedeutsame Aufgabe zu erfüllen, um das Gefühl des Schlechtrepräsentiertwerdens zu überwinden, das ständig an unseren Demokratien nagt und sie für die Sirenen des Populismus empfänglich macht. In Le Parlement des invisible, dem Gründungsmanifest des 2014 gestarteten Projekts »Raconter la vie«, habe ich Analyse- und Aktionswerkzeuge vorgeschlagen, um zur Wiederbelebung einer »postparteilichen« Repräsentation zu gelangen.[3]    


raconter le travail (Screenshot T.F.)

 »Raconter la vie« hat sich zwischenzeitlich in »raconter le travail« umbenannt. Das Parlament der Unsichtbaren und Ungehörten sollte eine Plattform im Internet bekommen. „Die Idee war einfach: Jedem einen Raum des Ausdrucks zu bieten, so dass jeder seine Lebenserfahrungen teilen und einen Austausch aufbauen konnte. Die Website RaconterLaVie.fr wurde von einer gleichnamigen literarischen Sammlung von Pauline Peretz verdoppelt.“[4] Man könnte Rosanvallons Ansatz einen basisdemokratischen des Erzählens nennen, der „den Menschen, allen, die sich nicht immer auszudrücken wagen, eine Stimme zu geben, individuelle und kollektive Lebenserfahrungen in den Mittelpunkt der öffentlichen Anliegen zu stellen“. Zusammen mit dem linken Pariser Verlag Le Seuil gründete er die Internetplattform, die es jedem ermöglichen soll, seine Geschichte der Arbeit und des Scheiterns zu erzählen. So wurde am 22. Februar 2018 von survivreBO2018 – „Survivre! Never give up!” – das, sagen wir, ebooklet mit dem wunderbar frenglischen Titel Crash professionnel für eine Lesezeit von 9 Minuten veröffentlicht.[5] 

J’ai bientôt 44 ans et j’ai travaillé et sué pendant 24 ans dont 15 ans pour un groupe français international, non-stop ! Je ne me suis jamais arrêtée, jusqu’à ce que le burn-out le fasse pour moi. (Ich bin 44 Jahre alt und habe 24 Jahre lang gearbeitet und geschwitzt, einschließlich 15 Jahre für eine internationale französische Gruppe, nonstop! Ich habe nie aufgehört, bis der Burnout es für mich getan hat.)[6]

 
raconter le travail (Screenshot T.F.)

Der Austausch als demokratischer Prozess, wie ihn Rosanvallon mit der Plattform verfolgt, ist in der Demokratie des Internets indessen auch ein schwieriger. Das gilt nicht zuletzt für die ebooklets auf raconter le travail, die eine eigene Kommentarfunktion, Verlinkungen mit Facebook, Twitter und G+ bieten. Offenbar findet seit mittlerweile 4 Monaten kein „Austausch“, keine Debatte zum anonymen survivreBO2018 und seinem Crash professionel statt.[7] Das partizipative Erzählprojekt für mehr Demokratie erweist sich als technisch ausgefeilt, doch organisatorisch schwierig. survivreBO2018 darf sich mit seinem ebooklet oder narrativen Blog repräsentiert fühlen. Er ist sogar faktisch auf raconter le travail repräsentiert. Doch verpufft anscheinend die mikrologische Repräsentation, während auf Facebook und Twitter Scheindebatten im Sekundenlesemodus mit Icons und Emojis geführt werden. Mittlerweile könnte man fast sagen, dass nicht nur der 9-Minuten-Lesemodus, sondern die textbasierten sozialen Medien wie Facebook und Twitter zuviel Aufmerksamkeit erfordern und das Bildmedium bzw. der Bild-Blog Instagram zur Plattform von Austausch, zum, wenn überhaupt, Debattenraum wird.

 
Instagram Kevin Systrom @kevin (Instagram CEO) (Screenshot T.F.)

Die aktuelle Krise der Demokratie hat nicht etwa nebenbei mit dem Digitalismus zu tun und ließe sich mit einer „»postparteilichen« Repräsentation“ im Internet vielversprechend lösen, vielmehr geht es um grundsätzliche Probleme der Repräsentation als Daten, Bits und Datenmengen. Für Rosanvallon ist die Krise in einer „mal-représentation“ (schlecht-Repräsentation) begründet. Damit setzte er in seinem „Gründungsmanifest“, das mit dem ersten Teil unter dem Titel Une société à la recherche d’elle-même deutlich auf die Literatur von Individuum und Gesellschaft von Marcel Prousts Á la recherche de temps perdu anspielt, gleich zu Anfang ein: „Les origines de la mal-représentation“[8] (Die Ursprünge des Schlechtrepräsentiertwerdens). Es geht demnach vor allem um eine gute oder bessere Repräsentation des Einzelnen bzw. des Volkes in der Demokratie. 

Die Demokratie hat einen Souverän eingesetzt, dessen Besorgnis nicht aufgehört hat, problematisch zu sein. Diese Frage ist in der klassischen Unterscheidung zwischen formaler und realer Demokratie nicht beantwortet worden. Weil es das konkrete Volk (peuple concret) ist, das irgendwie selbst unbestimmt bleibt. Damit es aufhört, nur ein abstraktes Gebotsprinzip zu sein, mußte es fortwährend mit der doppelten Hilfe der intellektuellen Ausarbeitung und einer sinnvollen Beschreibung konstituiert werden.[9]

 

Die Exekutive, d.h. die Regierung, als Souverän der Demokratie sorgt sich nach Rosanvallon vor allem um ihren Machterhalt. Und das peuple concret, das nur insofern zu einem konkreten Volk wird bzw. geworden ist, als es intellektuell ausgearbeitet und mit einer sinn- wie gefühlvollen „Beschreibung“ (description sensible) versehen wird, würde demnach von der Exekutive selbst konstituiert werden. Rosanvallon schreibt und forscht mit seiner Lust an der Neuformulierung von Begriffen – mal-représentation, peuple concret– und der Literatur nicht zuletzt als Belletristik gerade im raconter-la-vie-Manifest eines Parlement des invisibles in einer entschiedenen Mehrdeutigkeit und Elastizität der Sprache. So wird er denn auch von Andreas Niederberger als ein Vertreter der Postdemokratie vorgestellt, der einen „Republikanismus jenseits der Republik“ fordere. 

Ein grundlegendes Problem und eine Schwäche existierender Republiken besteht für Rosanvallon darin, dass die republikanischen Verhältnisse sich selbst bislang nicht begreifen, also die Reflexivität der Steuerung nicht zu einer Selbstreflexivität der Demokratie und ihrer Funktion zwischen Gesellschaft und Staat geführt hat.[10]    

 

Einerseits feiert gerade der Begriff des Volkes im Verein mit der Heimat, der katholischen Religion und der ethnischen Reinheit fröhliche Urständ im bayrischen Landtagswahlkampf der CSU. Die Bilder der Wahlkampfauftritte wetteifern geradezu mit dem, was einst nur bei den Vertriebenenverbänden Usus war. Das Volk wird sichtbar in Kleinkindern, die in Trachten paarweise auf die Tanzfläche marschieren. Andererseits wird das Volk, wie es in den Erzählungen oder Berichten auf raconter le travail mit nicht kommentierten ebooklets repräsentiert wird, unendlich heterogen oder heterologisch. Das Volk, das sich mit mehr als 200.000 Bürgen (répondants) an der Beantwortung von Fragen zur Arbeit beteiligt hat, lässt sich zugleich außerhalb von statistischen Fragen schwer fassen. Zwar repräsentieren die Antworten statistisch Staatsbürger aus dem Volk. Doch bleibt es schwierig, dass sich darin jede/r Einzelne gut repräsentiert fühlt. Die Vertreter der Postdemokratie wie Rosanvallon arbeiten zumindest recht effektvoll mit den Widersprüchen der Demokratie.

 
raconter le travail - survivreBO2018: crash professionel (Screenshot T.F.)

Die Mosse-Lecture von Pierre Rosanvallon in Englisch wird in absehbarer Zeit online bei YouTube nachzuhören und zu sehen sein. Die Postdemokratie als Ansatz für die Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Populismus fiel zumindest für Joseph Vogl in der Diskussion ein wenig unbefriedigend aus, um es einmal so zu sagen. Denn Rosanvallon stimmte keineswegs in die Verurteilung des Populismus als demokratieschädlich und -schädigend ein. Für die Postdemokratie lässt sich der Populismus gar als Repräsentation des Volkes beschreiben. Denn Rosanvallon geht von Anfang an in seiner historischen Analyse der Demokratie davon aus, dass das Volk geradezu in einem Kongruenzverhältnis repräsentiert werden sollte. Das Konzept der demokratischen Idee ist auch nach dem Präsidenten der Central European University in Budapest, Michael Ignatieff, nicht etwas, das man als abgeschlossenes und garantiertes Wissen von der Demokratie wahrnehmen und gebrauchen sollte, vielmehr soll man darüber kritisch nachdenken.[11]   

 

Gegenüber seinem Vortrag an der Central European Universität im November 2017, Populism and Democracy in Europe: History and Theory, geht Pierre Rosanvillon in seiner Mosse-Lecture stärker vom Konzept der demokratischen Idee aus. Es ist nur folgerichtig, dass er an einem populistischen Projekt der Demokratie festhält, wie es sich mit raconter la vie angekündigt hat und mittlerweile als raconter le travail allerdings von der CFDT, dem Französischen Demokratischen Gewerkschaftsbund, weiterentwickelt. Es geht ihm auch keinesfalls darum, die Widersprüche von Demokratie und Populismus einzuebnen. Als Beispiele bringt er nun vielmehr den südamerikanischen Populismus als ein regulativ der Herrschaft von Links. Während man in Europa und Nordamerika den Populismus eher als eine Bewegung der Rechten wahrnimmt, knüpft Paulo Gregoire im August 2017 in seinem Artikel In Latin America, Populism Is Alive and Well für Forbes an die Möglichkeit eines guten Populismus an. 

Because populism is a political phenomenon, it is perhaps best viewed through the lens of political power. Rather than being champions of a particular economic vision, populist leaders are those who are able to capitalize on popular discontent with the status quo to take control of the government, where they stay by maintaining a direct connection to the masses.[12] 

 

Ohne jetzt ein Kenner der südamerikanischen Politik zu sein, müsste man wohl Rosanvallon zustimmen, dass Populismus in demokratiedefizitären Ländern nicht nur eine Frage und Möglichkeit der politischen Macht sein kann. Vielmehr generiert sich die Macht in defizitären Regimen bestenfalls gerade aus dem Volk als Populismus. Und möglicherweise ruft eine über längere Zeit auf eine Person fokussierte Macht sowohl von links wie von rechts populistische Bewegungen hervor. Man kann dabei aktuell auch an die Regierung aus linkspopulistischer MoViemento 5 Stelle und rechtspopulistischer Lega denken. Die ökonomischen Tatsachen eines Staates oder einer Volkswirtschaft mögen selbst aufs Beste bestellt sein, wenn sich die Macht scheinbar oder tatsächlich zu sehr personalisieren lässt wie in der Bundeskanzlerin Angela Merkel, ruft sie den fast ungelenken populistischen Protest hervor, weil wie Rosanvallon es formuliert, ein diffuses Gefühl der Abwesenheit in der Repräsentation von Macht aufkommt. Wer ein ebooklet schreiben kann und tatsächlich schreibt, fühlt sich möglicherweise gar nicht erst schlecht repräsentiert.

 

Der direkte Kontakt zu den Massen, der den populistischen Politiker hervorbringt, gehört wahrscheinlich auch in Lateinamerika zu den großen Mythen der Demokratie. Doch Rosanvallons Erzählprojekt gibt einen wichtigen Hinweis auf das Verhältnis von Sprache und Demokratie, Sprache und Repräsentation. Wer von sich erzählen kann, fühlt sich repräsentiert. Im Populismus spricht unterdessen ein Einziger für die Massen. Und das heißt, dass er auch die Sprache, der eben Unsichtbaren und Sprachlosen sprechen können muss. Donald Trump war durch seine Reality-Formate im Fernsehen von Anfang an dafür aufs Beste vorbereitet. Nicht was gesagt wird, ist entscheidend, sondern wie es auch durchaus ungelenk gesagt wurde und wird, verschaffte Donald Trump seine Wählbarkeit, weil sich eine Masse an amerikanischen Wählern in ihm repräsentiert sah und sieht. Die hohen Zustimmungswerte Donald Trumps unter seinen Wählern bestätigen genau dieses Verhältnis von Sprache und Repräsentation.

 

Demokratie heißt Partizipation, Teilhabe an politischen Entscheidungen. Pierre Rosanvallon knüpft letztlich in seiner Mosse-Lecture an die partizipative Demokratie von 1968 an. Willy Brandts Slogan „Mehr Demokratie wagen“, könnte man sagen, ist für ihn nach wie vor gültig. Ihm geht es mehr um den permanenten demokratischen Prozess und Demokratie als Prozess, denn darum eine gute Praxis zu definieren. Dass die Darstellung von Demokratie als Bild durchaus schwierig ist, kann man feststellen, wenn man bei Wikipedia Commons Bilder zur Demokratie sucht. Die Demokratie lässt sich offenbar schwer als ein Bild „repräsentieren“. Wie wird Demokratie Bild? Einerseits liefern Bilder bzw. Fotos von Parlamenten diese für die Demokratie. Doch nicht jedes Parlament funktioniert demokratisch. Auch Erdogan oder Putin berufen sich auf Parlamente, die eher autokratisch funktionieren. Peinlich genau wird die Repräsentation der chinesischen Ethnien im Volkskongress aufgeführt, während diese so gut wie keine demokratische Macht haben.

 
cc David Drexler: Stencil art in Madison, Wisconsin. Image taken on August 7, 2007

In Bildern von Parlamenten lässt sich schwer der Grad der Demokratie in einem Staat erkennen. Das Bild vom Parlament als Gebäude täuscht mehr über die demokratischen Verhältnisse, als dass es sie sichtbar macht. Und selbst die Wahlurne als Bild für freie, demokratische Wahlen erweist sich als ambig. „OUR DREAMS CANNOT FIT IN THEIR BALLOT BOXES“, sprühte 2007 eine politische Kunstaktion in der Universitätsstadt Madison, Wisconsin, an Gebäude. Steht die Wahlurne doch auch für eine Praxis der Eigenlegitimation von autokratischen Herrschern und eine unbefriedigende Periodisierung von Wahlen. Recht farbig wird die direkte Demokratie als Foto von einer Abstimmung einer Landsgemeinde im Schweizer Kanton Glarus von 2006 auf einem kleinstädtischen Marktplatz vor Alpenpanorama. Eine Art Paradies der Demokratie – oder auch gerade nicht. Selbst auf dem kleinen Marktplatz haben sich so viele Abstimmungsberechtigte eingefunden, dass sich viele auch nicht repräsentiert fühlen können.    

  
cc Adrian Sulc: Abstimmung an der Landsgemeinde am 7. Mai 2006 in Glarus

Rosanvallon schreibt der Sprache und dem „Wahrsprechen“[13] eine entscheidende, fast positivistische Rolle der Repräsentation in der Demokratie zu. Er knüpft nicht nur an eine Bemerkung eines führenden Politikers an, dass die „öffentliche Sprache … eine tote Sprache geworden“ sei, vielmehr geht er auch von der Sprache „als Stifterin von Beziehungen und Medium gegenseitiger Verständigung einerseits, als Mittel zur wirksamen Erforschung der Wirklichkeit andererseits (Produzentin von Sinn und Erkenntnis)“ aus.[14] Die Sprache und das Wahrsprechen werden für ihn zu entscheidenden Bedingungen der Repräsentation in der demokratischen Politik, was er mit dem 2015 in Französisch erschienen Buch vielleicht noch engagierter vertreten konnte, als heute da die Lüge der Fake News etc. zur politischen Währung geworden ist. 

Wahr zu sprechen bedeutet gleichzeitig, die Bürger in die Lage zu versetzen, ihr Leben besser zu bewältigen und ihnen zu ermöglichen, eine positive Beziehung zur Politik aufzubauen. Unwahr zu sprechen oder Phrasen zu dreschen, bedeutet umgekehrt, die Kluft zu vergrößern.[15]

 

Das sprachbasierte Projekt raconter la vie/raconter le travail als demokratisch, populistisches müsste man vielleicht noch einmal genauer dahin analysieren, wer wie spricht und sprechen kann. survivreBO2018 ist ja durchaus der französischen Sprache mächtig und kann an einen Burnout-Diskurs anknüpfen. – „Physisch ist es besser, aber psychologisch bin ich nah an einem Psychiater, wie nach einem Schock des Lebens! Ich brauche ein neutrales und fürsorgliches Zuhören: Burnout und Entlassung, es ist hart! Aber das Schwierige für mich ist, dass meine Entlassung kurz vor den Ferien stattfand Weihnachten.“[16]– Er ist von der Sprache und einem Diskurs nicht ausgeschlossen. Vielmehr reproduziert und personalisiert er ihn auf fast elegante Weise. In den USA dagegen hat die Trump-Regierung vor allem auf einen Abbau der Mittel für öffentliche Schulen mit populistischem Kalkül gesetzt. Denn der Trumpismus will vor allem nicht, dass die Bürger und Wähler durch Bildung für sich sprechen lernen können. Trump twittert gegen Sprache und Diskurs, was die tatsächliche Zukunft des Populismus werden könnte. 

 

Torsten Flüh 

 

Mosse-Lectures 

Autokratien 

Herausforderungen der Demokratie 

ab 8. November 2018 

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[1] Pierre Rosanvallon: Die gute Regierung. Hamburg: Hamburger Edition, 2016, S. 167.

[2] Ebenda S. 26.

[3] Ebenda.

[4] Raconter le travail: Projet. http://raconterletravail.fr/projet/  (Übersetzung T.F.)

[5] survivreBO2018: Crash professionel. In: racontes le travail 22 févier 2018.

[6] Ebenda.

[7] Siehe ebenda : Vôtre commentaire : postez le vôtre!

[8] Pierre Rosanvallon: Le Parlament des invisibles. Paris: Seuil, Januar 2014, S. 14-17.

[9]“La démocratie a institué un souverain don’t l’appréhension n’a cessé d’être problématique. Cette question n’a pas trouvé de réponse dans la distinction classique entre démocratie formelle et démocratie réelle. Car c’est le peuple concret qui reste d’une certain façon lui-même indéterminé. Pour qu’il cesse de n’être qu’un principe commandant abstrait, il a donc continuellement fallu le constituer avec le double secours de l’élaboration intellectuelle et de la description sensible.” Ebenda S. 17.

[10] Andreas Niederberger: Republikanismus jenseits der Republik? In: Michael Hirsch, Rüdiger Voigt (Hg.): Der Staat in der Postdemokratie. Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren französischen Denken. Stuttgart: Franz Steiner, 2009, S. 109.

[11]Michael Ignatieff introducing: Pierre Rosanvallon - Populism and Democracy in Europe: History and Theory, November 30, 2017. (YouTube)

[12] Paulo Gregoire: In Latin America, Populism Is Alive and Well. Forbes AUG 15, 2017 @ 10:34 AM.

[13] Pierre Rosanvallon: Die … [wie Anm. 1] S. 293.

[14]Ebenda.

[15]Ebenda.

[16]survivreBO2018: Crash … [wie Anm. 5] (Physiquement ça va mieux, mais psychologiquement je me suis rapprochée d’un psy, comme après un choc de vie ! J’ai besoin d’une écoute neutre et bienveillante: burn-out et licenciement, c’est raide ! Mais le plus dur pour moi, c’est que mon licenciement a eu lieu juste avant les fêtes de Noël.) S. 3. 

Zum Finale ein Feuerwerk der Ironie - Das Waldbühnenkonzert der Berliner Philharmoniker als Finale der Ära Rattle

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Programm – Symphoniemusik – Moderne 

 

Zum Finale ein Feuerwerk der Ironie 

Das Waldbühnenkonzert der Berliner Philharmoniker als Finale der Ära Rattle 

 

Sir Simon Rattle und Magdalena Kožena sowie die Berliner Philharmoniker verzaubern an zwei Abenden ca. 44.000 Waldbühnenbesucher*innen. Während Magdalena Kožena die Chants d’Auvergne von Joseph Canteloube singt, hört es sogar auf zu regnen. Es gibt wahrscheinlich keinen anderen Chefdirigenten und künstlerischen Leiter eines philharmonischen Spitzenorchesters, der ein populäres Großkonzert analytischer in eine Schule des Hörens verwandeln kann. Sir Simon Rattle hat die einst elitären Berliner Philharmoniker auf eine Art populär gemacht, die hoffentlich noch Jahrzehnte nachwirken wird. Mit dem Programm für das Waldbühnenkonzert zeigte der künstlerische Leiter noch einmal seine ganz große Kunst. Künstlerische Abstriche werden nicht gemacht. Ein wahres Simon-Rattle-Programm auf höchstem Niveau als Großereignis.

 

Das Wetter ist wie meistens zum Saisonende in der Waldbühne unpassend. Es gibt einen feinen Nieselregen bei 12° Grad Kälte zur karibischen Cuban Overture (1932) von George Gershwin. Die Waldbühne ist mit Regencapes gefüllt. Vereinzelte Tupfer von Taschenschirmen. Stockregenschirme müssen zu Hunderten am Eingang aus Sicherheitsgründen abgegeben werden. Das Publikum ist international. Vor der Sicherheits- und Schirmkontrolle befindet sich der Berichterstatter unter Spanier*innen, Italiener*innen, Japaner*innen, gewiss auch Engländer*innen etc. Das Publikum ist aus aller Welt angereist, das hört man sofort. Hier versammelt sich kein irgendwie imaginäres Berliner Marschpublikum zu „Das ist die …“, sondern eine internationale Fangemeinde. Als Chefdirigent betritt Rattle die Bühne das letzte Mal, wird jubelnd begrüßt und die Rhythmusinstrumente, Maracas, Claves, Bongos, Güiro setzen ein. Es folgt Sir Simon Rattles unterhaltsame wie programmatische Schule des Hörens mit einem Ironie-Feuerwerk am Schluss.

 

Die Kunst der Ironie war durchaus programmatisch für Rattles Finale. Er bringt sie am Schluss vor den unvermeidlichen Zugaben selbst zur Sprache, was sich übrigens noch 3 Tage in der Mediathek von 3Sat und anschließend in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker ansehen und anhören lässt. Sir Edward Elgars Pomp and Circumstances klinge in der Zeit von Brexit möglicherweise noch ironischer, sagt Rattle. Natürlich ist es mit der Ironie so eine Sache. Denn es geht nicht nur darum, dass etwas nicht ganz ernst gemeint ist. Vielmehr ist die Ironie im Englischen als Praxis besonders ausgeprägt – stärker als im Deutschen. Bereits die Eröffnung mit der Cuban Overture ist durchaus eine ironische, weil Gershwins Musik als, wie man lange sagte, Unterhaltungsmusik im Unterschied zur ernsten, philharmonischen Musik galt. Fowler’s Dictionary of Modern English Usage formuliert die Ironie 1926 als ein Sprechen für „a double audience“:   

Ironie ist eine Form der Äußerung, die ein doppeltes Publikum postuliert, bestehend aus einer Partei, die hörend hören, aber nicht verstehen soll, und einer anderen Partei, die, wenn mehr gemeint ist, als das Ohr trifft, sowohl mehr als auch um das Unverständnis von Außenseitern weiß.[1]


Cuban Overture (Screenshot 3Sat T.F.)

Ironie kann allerdings auch Grenzen in Frage stellen. Rattle ließ die Einteilung zwischen U und E, zwischen Unterhaltung und Ernsthaftigkeit, in den letzten Jahren immer weniger gelten. Die Cuban Overture mit den Berliner Philharmonikern bleibt nicht nur ironisch, vielmehr erhält die kurze Gelegenheitskomposition auf einmal einen Klangfarbenreichtum, der verblüfft und das Musikstück ebenso wertschätzt wie aufwertet. Sie erinnert insbesondere an die triumphale Aufführung von George und Ira Gershwins Porgy and Bess 2012 mit Black Voices. Wenn man sich die originale Instrumentierung der Cuban Overture ansieht, dann wird das Schlagzeug, zu denen Marcaras, Claves, Bongos und Güiro zählen, nicht näher mit lateinamerikanisch-kubanischen Instrumenten ausgeführt. In knapp 10 Minuten gelingt es Sir Simon Rattle, die Berliner Philharmoniker in ein swingendes Tanzorchester, in dem die ehrwürdigen Kontrabässe zu tanzen begannen, zu verwandeln. Bei höheren Temperaturen wäre es gar möglich gewesen, dass die ganze Waldbühne nach Kuba verrückt wäre. Das Publikum jubelte trotz Regen. Es war allerdings ein Statement des künstlerischen Leiters. Nicht zuletzt hatte er 2016 für das Musikfest der Berliner Philharmoniker und der Berliner Festspiele The John Wilson Orchestra mit MGM Film Musicals eingeladen und sich selbst an die Pauken gesetzt.

 

Was als populäres Programm für die Waldbühne aussah, führte mit einer feinen Ironie noch einmal Sir Simon Rattles Kunst- und Musikverständnis für ein philharmonisches Spitzenorchester im 21. Jahrhundert vor. Mochten doch Zehntausende einfach einen guten Abend haben, es war für einen anderen Teil der Zuhörer ein unmissverständliches Statement. Gabriel Faurés Pavane von 1887 setzte das exklusive Tanzmusikprogramm fort, obwohl nun dieses Stück weniger als Tanz, denn als panavisionsschöne Gefühlsfilmmusik heute bekannt geworden ist. Und dieses Stück an dieser Stelle gab wiederum einen ironischen Wink auf Rattles künstlerische Leitung. Denn er hatte es zum Silvesterkonzert am 31. Dezember 2003, also ganz zu Anfang seiner Berliner Jahre, die eine Ära werden sollten, mit den Berliner Philharmonikern in der Philharmonie einstudiert. Zuvor war Pavane als Titelmusik von der BBC für Fußballweltmeisterschaft 1998 populär geworden.


Chants d'Auvergne (Screenshot 3Sat T.F.) 

Ob es die Late Night Konzerte, das Education Programme mit Parsifal in der JVA Tegel oder die Aufführungen von Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion (2013) und Johannes-Passion (2014) waren, als Chefdirigent und künstlerischer Leiter setzte Sir Simon Rattle nicht nur ungewöhnliche Programme für ein philharmonisches Orchester um, er interpretierte sie auch mit einer analytischen Schärfe, die neue Maßstäbe setzt. Für ein großes Sinfonieorchester mögen Bachs Passionen allein schon von der Besetzung nicht besonders reizvoll sein. Doch Rattle machte keine künstlerischen Konzessionen, sondern ging immer aufs Äußerste. Er hat beispielsweise mit der Johannes-Passion eine forschende Interpretation erarbeitet, die Johann Sebastian Bach in einer tiefen Krise zugänglich werden lässt. Als Chefdirigent forschte Rattle die Partituren aus und stellte Fragen, die bisher nicht gestellt worden waren. Das ließ sich dann im Tristan (2016) ebenso gut hören wie in der Tosca (2017). Manch eine geübte Musikkritiker*in sah sich mit derartig gegenläufigen Auffassungen und Umsetzungen der Partitur schlechthin überfordert. Der Parsifal in der JVA Tegel wurde nicht wahrgenommen.


Chants d'Auvergne (Screenshot 3Sat T.F.) 

Die Volksliedsammlung und symphonische Ausarbeitung der Chants d’Auvergne von Joseph Canteloube gehört vielleicht mehr in den Konzertsaal als auf die Freilichtbühne. Starsängerinnen wie Anna Moffo, Victoria de los Ángeles, Kiri Te Kanawa, Frederica von Stade haben sie interpretiert. Bailèro mit der Stimmungsbezeichnung „Calme et contemplatif“ (ruhig und nachdenklich) hat gar Barbara Streisand aufgenommen. Nun sang Magdalena Kožena 7 Lieder aus der mehr als dreißig umfassenden Sammlung mit sehr unterschiedlichen Stimmungen zwischen Malurous qu’on uno fenno in „scharf akzentuiert“ und Uno jionto postouro „langsamer“. Wenn man nun anfangs versuchte, die Liedtexte zu verstehen, musste man schnell einsehen, dass sie in Occitan oder Okzitanischer Sprache, der regionalen Sprache der Auvergne und keinesfalls in Französisch abgefasst sind.

Es lässt sich in den Chants d’Auvergne als Programmteil wiederum eine leichte Ironie vermuten, wird doch in der deutschen Sinfoniemusik sehr auf Textverständlichkeit geachtet. Zwar artikulierte Magdalena Kožena die Liedtexte sehr deutlich auf ein Verständnis des Textes hin, doch ließ sich wegen der Regionalität der Sprache im Grenzbereich von Frankreich, Italien und Spanien bzw. Nordwestkatalonien nicht ein Wort verstehen. Die Chants d’Auvergne führten so nicht zuletzt für französische Hörer in Paris eine gewisse Unverständlichkeit in den Konzertsaal ein. Doch Canteloube hatte sie auch für das Radio und die Schallplatte als Medien von regionaler wie nationaler Reichweite komponiert.  Vielleicht muss man darin die besondere Funktion Joseph Canteloubes als Liedforscher und Komponist sehen. Denn er wird sich zweifellos darüber im Klaren gewesen sein, dass in den Pariser Konzertsälen Occitan nicht ohne Übersetzung zu verstehen war. Auf diese Weise gelang es Sir Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern und Magdalena Kožena, die Waldbühnenbesucher*innen zum konzentrierten Hören der nicht ganz so bekannten und populären Musik anzuleiten. Und da beginnt für Rattle wohl das eigentliche Wunder der Musik.

Komponiert und instrumentiert Joseph Canteloube die Chants d’Auvergne in einer fast spätromantischen Symphonik, so akzentuierte Sir Simon Rattle nach der Pause mit 4 Orchestersuiten aus Aram Chatschaturjans sozialistischen Ballett Gayaneh (1941-1943) sehr stark ins Moderne. Wohl ist der Säbeltanz aus Gayaneh ein populärer Klassikhit geworden, doch der Tanz der jungen Kurden, Gayanehs und Lesginka sind heute weniger bekannt und in gänzlich anderen Stimmungen komponiert. Ein wenig hatte man beim Zuhören das Gefühl, dass Sir Simon Rattle beim Säbeltanz besonders aufs Tempo, „Presto“, drückte. Das sozialistische Lehrballett rückt in Nähe des Pop. Insofern Gayaneh von Chatschturian als Auftragswerk der Kommunistischen Partei der Sowjetunion mit einem entsprechend kommunistischen Narrativ komponiert wurde, versteckt sich auch hier eine gewisse Ironie für ein Konzertpublikum, das sich wesentlich der Mittelschicht zurechnen und kaum die Kommunistische Partei wählen wollte. Die vor allem weiblichen, älteren Fans aus Japan mit Reiseführer im Mittelblock B wird man wahrscheinlich der oberen Mittelschicht zurechnen dürfen.  

Musikalisch wurde es dann mit Ottorino Respighis Pini di Roma (1923/1924) noch einmal richtig interessant. Die Symphonische Dichtung für Orchester erklang im August 2011 an gleicher Stelle unter der Leitung von Riccardo Chailly mit den Berliner Philharmonikern. Das Abschlusskonzert war im Juli abgebrochen worden, weil Regenböen durch die Waldbühne peitschten. Chailly entfaltete mit Pini di Roma ein gefühlsseliges Rom-Panorama als gelte es, einen Film als Musik ablaufen zu lassen. Der Klang war schön und voll mit ganz großem Gefühl im finalen Marschtempo. Die Kiefern der Villa Borghese, an einer Katakombe, auf dem Gianicolo und an der Via Appia wogten und wuchsen steil in den Himmel. Rom als Wellnessfilm. Schön, aber ein wenig belanglos. Sir Simon Rattle interpretiert die Pini di Roma nun derart streng modern, dass das Sacre du printemps hindurchschimmert, wie er es vor fast genau einem Jahr in der Philharmonie zelebriert hat. Plötzlich lässt sich Ottorino Resphighi ganz anders hören, worüber die Hörer*innen zumindest nachdenken, eventuell streiten können. Exemplarisch wird beides möglich: die Unterhaltung und das Nachdenken.

 

Überhaupt knüpfte Sir Simon Rattle nun mit seinen Zugaben ironisch an die Marschmusik an. Auf Pomp and Circumstances folgte John Philip Sousas The Liberty Bell, um überraschender Weise Claudio Monteverdis Si dolce é ‘l tormentomit Magdalena Kožena dazwischen zu spielen und mit dem unvermeidlichen Das ist die Berliner Luft zu enden. Marschmusik ist Stimmungsmusik, die dafür komponiert wurde, Menschen mitzureißen, mobil zu machen und im Gleichschritt mit angemessenem Tempo gehen zu lassen. Marschmusik ist letztlich eine ambivalente Ordnungsmusik. Umso erstaunlicher ist ihre Beliebtheit gerade bei musikalischen Großveranstaltungen. Insofern war Sir Simons Hinweis auf die Ironie ganz unvermeidlich. Endet die Symphonische Dichtung Pini di Roma mit einem anschwellenden Marsch auf der Via Appia, so ist Pomp and Circumstances spätestens seit den Londoner Proms der BBC zum Inbegriff einer lockeren Stimmung der Festivalbesucher geworden.

 

Die Liberty Bell ließ Sir Simon Rattle nun als Hinweis auf seine gewonnene Freiheit anschlagen, worauf der Abschied nun gewiss ein ironischer wurde. Völlig überraschend und mit allergrößter Überzeugung setzte sich Sir Simon Rattle dann ans Cembalo um Claudio Monteverdis betörendes Si dolce é ‘l tormento anstimmen zu lassen. Nach größter Ausgelassenheit, bei der das Publikum zu Pomp and Circumstances schon mit Handytaschenlampen zu schunkeln begonnen hatte, kehrten schlagartig mit leisen Tönen Ruhe und Konzentration ein. Auch das und gerade das vermag die Musik. „So süß ist die Marter, tief in meiner Brust …“ galt wohl ganz allein der Kraft der Musik. Und das Publikum hörte zu, lauschte gar. Das darf man wohl die große Kunst Sir Simon Rattles nennen. Als Gipfel der Ironie ließ er dann zu Paul Linckes Marsch einsetzen, der doch mittlerweile in Berlin so völlig deplatziert klingt. Aber einmal im Jahr in der Waldbühne … Vor allem muss Rattle den Marsch gar nicht dirigieren, wie er es mit einem Glas Bier in der Hand vorführt. Die Berliner Philharmoniker spielen ganz von selbst. – Mehr Selbstironie geht nicht für einen Dirigenten von Weltruhm. 

 

Torsten Flüh 

 

Waldbühnenkonzert der Berliner Philharmoniker 

bis 30. Juni 2018 in der 3Sat Mediathek 

später Digital Concert Hall 

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[1]Irony (Übersetzung, T.F.) In: Henry Watson Fowler: A Dictionary of Modern English Usage, 1926.

Berlins heimliche Free-Jazz-Königin sprengt Sendesaal - Aki Tanases fulminantes Preisträgerinkonzert im Kleinen Sendesaal des rbb

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Freiheit – Jazz – Session 

 

Berlins heimliche Free-Jazz-Königin sprengt Sendesaal 

Aki Tanases fulminantes Berliner Jazz-Preisträgerinkonzert im Kleinen Sendesaal des rbb 

 

Der Berliner Jazzpreis 2018 wurde am 26. Juni im Kleinen Sendesaal an der Masurenallee Aki Tanase verliehen. Woraufhin 高瀬アキ eine fulminante Jazz-Session mit der Dichterin Yoko Tawada, dem Saxophonisten Rudi Mahall und Alexander von Schlippenbach entfachte, die den Kleinen Sendesaal im Haus des Rundfunks sprengte. Aki Tanases internationale Karriere begann mit einer Aufnahme beim Berlin Jazz Festival am 5. November 1981. Ihr erstes Album 1980 nannte sie kurz und programmatisch AKI 1978 bei King Records. Aki in schwarzem Ballet Suit mit langem Haar an einer Ballettstange und mit eigenem Trio – Nobuyoshi Ino, Bass etc., Takuji Kusumoto, Drums und Latin Percussion. Sie ist mehr Venyl als Bits und kommt aus einer Zeit, als die Freiheit noch von Hand, nämlich im Free Jazz gemacht wurde.

 

Free Jazz war und ist bis heute ein Versprechen und eine Praxis der Freiheit. „Die Freiheit der künstlerischen Gestaltungsmittel war und ist wesentliches Merkmal der vielen verschiedenen Bands und Projekte, an denen Aki Takase beteiligt ist“, begründet die Jury, zu der Ulf Drechsel vom RBB gehörte, die Preisverleihung an Aki Tanase. Der Jazzredakteur des RBB erzählt in seiner Laudatio, wie er Aki Tanase 2004 in Berlin kennenlernte, als sie ihn ansprach und seine Sendung lobte, die sie gehört hatte. Er kannte sie von LPs und vom Hörensagen. Doch nun lernte er sie als Pianistin, Interpretin und Komponistin kennen. Es muss um die gleiche Zeit gewesen sein, als der Berichterstatter Aki Tanase durch die Schriftstellerin Yoko Tawada im b-flat noch in der Rosenthaler Straße 13 an einem Wochentag bei einer Session traf.

 

Yoko Tawada und Aki Tanase performten neue Text-Musik-Improvisationen. Das klang ein wenig wie Poetry Slam und Free Jazz. Der b-flat Acoustic Music & Jazzclub, der seit 2016 in der Dircksenstraße ein tägliches Musikprogramm bietet, gehört zu den typischen Jazzclubs und damit Auftrittsorten von Aki Tanase. Es sind meistens aus Musikerinitiativen geschaffene Freiräume für die ganze Breite des Jazz und musikalische Interventionen. Jazz war bis zum Rauchverbot im Lokal immer Zigarettenrauch, abgedimmtes Licht, Bier, Bourbon und Cocktails. An jenem Abend zu Beginn der Nullerjahre, wie man sagt, experimentierten Aki Tanase und Yoko Tawada mit onomatopoetischen Texten und Tönen am Flügel. Das Publikum an jenem Abend blieb überschaubar. Was man gehört hatte, ließ sich nicht genau einordnen.

 

Der Zug zur Freiheit des Experiments als Improvisation zeichnet Aki Tanase und ihr eher flüchtiges Jazz-Werk aus. Free Jazz war seit den 50er Jahren eine ebenso musikalische wie intellektuelle Herausforderung. Zunächst einmal war die Geste der Freiheit einer nicht in Noten gefassten Musik aus der Improvisation entscheidend. Die Geschichte des Free Jazz speist sich überwiegend aus den Namen der Musiker und ihrer Bezugnahmen aufeinander. Dabei war natürlich auch dieses freiheitliche Musikgenre ein von Männern dominiertes. Dass Aki Tanase 1978 mit ihrem Trio ein Jazz-Album einspielte, dürfte auch und nicht nur für Japan eine Novität gewesen sein. Sich als Frau in der Free Jazz-Szene zu behaupten, setzte sicher voraus, mit ihnen mithalten zu können, und zwar auf technisch-musikalischer wie intellektueller Ebene.

 

1981 brachte Aki Tanase als drittes Album Minerva’s Owl mit der gleichnamigen Komposition von 6:14 Minuten zusammen mit dem New Yorker Saxophonisten Dave Liebman heraus.[1] Der Wink auf Georg Friedrich Hegels Grundlinien des Rechts und Geschichtsphilosophie mit der „Eule der Minerva“, die „erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug (beginnt)“[2], dürfte auch ein intellektuelles Statement gewesen sein. Doch was genau Komposition bei dieser Venyl-LP hieß, bleibt offen. Denn einerseits komponierte Aki alle 5 Titel wie Being, Blues For Toko, Monologue, In Groups Of Pipers und eben Minerva’s Owl. Andererseits wird vermerkt, dass alle Titel von „Aki Tanase & Dave Liebman“ komponiert (composed) wurden. Womit die einmaligen Improvisationen vom 12., 13. und 14. Dezember 1980 rechtlich als Kompositionen gelten.

Man darf davon ausgehen, dass Aki Tanase die Titel ihrer Alben formuliert und ausgesucht hat. Sie bestätigte nicht zuletzt mit dem Album Esprit (1981) die Intellektualität des Free Jazz und eignete diese sich an, indem sie mit dem Bassisten Yoshio Ikeda Stücke der Jazz-Größen Miles Davis, Michael Leonard, John Coltrane, Thelonious Monk und Sonny Rollins interpretierte und bei Gabriel Urbain Fauré Après Un Rêve – Valencia gar bearbeitete. Der Titel Esprit huldigt insofern durchaus dem Geist und Einfallsreichtum der Jazz-Kollegen. Doch er eignet sich diesen auch kreativ selbstbewusst an. Sie lässt sich nicht von den intellektuellen Gesten der Männer abschrecken, sondern dockt eigenwillig und empathisch musikalisch an sie an.

 

Jazz und Free Jazz werden als männliche Geschichten erzählt. Unter den 22 Namen der „Herausragenden Alben des Free Jazz der 1960er und 1970er Jahre“ auf de.wikipedia.org findet sich zwischen Albert Aylers Spiritual Unitüber Alexander von Schlippenbachs Globe Unity bis Attila Zoller The Horizon Beyond kein einziger Frauenname. Frauen sangen und singen allenfalls im Jazz – Ethel Waters, Betty Carter etc. Die Herkunft des Wortes Jazz ist mehr oder weniger ungeklärt. 1912 wird es zum ersten Mal schriftlich im Kontext eines Baseballspiels in der Los Angeles Times als „jazz ball“ gebraucht, dessen Flug so beschrieben wird, „weil er wackelt und man damit einfach nichts anfangen kann“.[3] Der „jazz ball“ wäre insofern ein außer Kontrolle geratener Ball im Spiel. Und vielleicht ist es diese Bedeutungsmöglichkeit eines Außer-Kontrolle-geratens, die das Musikmachen in den Kneipen und Clubs von Anfang an begleitet.

 

Gleichfalls wurde die Unkontrollierbarkeit laut Tom Vitale, einem Jazz-Experten des NPR, National Public Radio, durch eine Erinnerung an ein Gespräch im Jahr 1979 mit dem farbigen Jazz-Komponisten Eubie Blake mit der männlichen Sexualität in Verbindung gebracht. Bevor der Broadway von „J-A-Z-Z“ gesprochen habe, habe man es „J-A-S-S“ genannt, was man in der Anwesenheit von Frauen nicht hätte gebrauchen dürfen. Jass kennt der englische Wortschatz nicht, aber jizz. Die vielfache Umschreibung des Wortes in der Umgangssprache legt insofern nahe, dass es sich um jizz handeln könnte.[4] 

He said that when this music made its way to the New York stage, it was a given a racier name — one that Blake says was derogatory. He wouldn't even say the word, only spell it. 

"When Broadway picked it up, they called it 'J-A-Z-Z,'" he says. "It wasn't called that. It was spelled 'J-A-S-S.' That was dirty, and if you knew what it was, you wouldn't say it in front of ladies."[5]

 

Gleichviel, ob der 92-jährige Eubie Blake seinerzeit einen populär erweiterten Wortschatz kannte oder eine eigene Etymologie mit dem Jazz verband: er gibt damit einen Wink auf eine geschlechtliche Verknüpfung des Begriffs, der zum Namen eines besonders diversen Musikgenres werden sollte. Und zweifellos wurden das Musikgenre und dessen Aufführung spätestens in den 20er Jahren in Europa, insbesondere Berlin, mit dem Geschlecht als Sexualität in Kategorie und Praxis sowie Rasse und Klasse verknüpft. In jener Zeit hält der Jazz nicht zuletzt für Frauen im Tanzen ein körperliches Befreiungsversprechen bereit. Jazz befreit den Körper von den abgezählten Choreographien der Gesellschaftstanz-Schritte.

  

Popoder populäre Kultur und klassische, um nicht zu sagen, bürgerliche Musikausbildung spielen auch für Aki Tanase eine entscheidende Rolle für den Free Jazz. Wie Ulf Drechsel in seiner Laudatio erwähnt, soll sie durch das Hören von Schallplatten in Studentenclubs in Osaka und Tokio zum Jazz gekommen sein. Pop und ein umfangreiches Musikwissen verknüpft sie spielerisch zu einer ganz eigenen Handschrift. Ihr zweites Album veröffentlichte Aki Takase mit populären Jazzinterpretationen unter dem Titel As Time Goes By zwischen Tara’s Theme, The Third Man Theme und Over The Rainbow, was schon darauf hindeutet, dass es für sie immer beides gibt intellektueller Free Jazz und Pop.

 

Aki Tanase versteht sich wohl nicht zuletzt als eine Rebellin des Jazz. Sie hat immer wieder neue Projekte wie nicht zuletzt das mit Yoko Tawada mutig initiiert und ausgeführt. Sieht man sich die Cover ihrer Alben an, dann hat sie nicht nur äußerst stilvolle und zeitgemäße Motive ausgesucht, sondern sich immer auch selbstbewusst als Rebellin in Szene gesetzt. Nachdem sie mit Rudi Mahall und Alexander von Schlippenbach schwer abgejazzt hat, leitet sie am Steinway-Flügel über in die Habanera aus Georges Bizets Carmen: „L'amour est un oiseau rebelle …“. Die Liebe ist ein rebellischer oder aufsässiger Vogel, der sich nicht zähmen und beherrschen lassen will. Das hätte kein treffenderer Schluss mit feiner Ironie für ihr Konzert abgeben können.

 

Doch die Pianistin Aki Tanase ist nicht nur Rebellin gegen die Männer im Jazz beispielsweise, vielmehr hat sie sich mit Talent und größtem Fleiß in die Männerdomäne eingearbeitet und eigenwillig eingespielt, um mit ihnen zu kommunizieren. Mit Rudi Mahal und Alexander Schlippenbach gelingt es ihr so mühelos, dass das Publikum jubelt. „Freiheit und Form sind für Aki Takase keine Gegensätze, sondern miteinander verwobene Ebenen ihrer Musik, die zudem durch einen ihr eigenen Humor besticht - jenseits jeglicher Effekthascherei“, begründet die Jury ihre Preisverleihung, zu der auch der erste Preisträger des 2017 zum ersten Mal vom rrb-Kulturradio und dem Berliner Kultursenator vergebenen Preis Gebhard Ullmann gehörte. Aki Tanase ist wenigstens die erste Frau, die den Berliner Jazzpreis erhalten hat. Umgekehrt wäre es noch besser gewesen.

 

SWR2 hat Aki Tanase und ihren Mann Alexander von Schlippenbach im April mit einer JazzSession beschenkt und vice versa. Denn zusammen bieten sie humorvoll 150 Jahre Jazz, wie der Titel der weiterhin als Podcast verfügbaren Session heißt. Anders gesagt: sie zelebrieren in der gemeinsamen Session zusammen 150 Jahre gelebtes Leben mit 70, Aki, und 80 Jahren, Alexander. Das Leben als Jazz mit einer gewissen Haltung zur Rebellion bei gleichzeitigem Training am Flügel hält offenbar Hirn und Körper jung, um es einmal so respektlos zu formulieren. Dabei ist eine Session eben nicht nur ein Konzert, bei dem Zuhörer*innen zum Stillsitzen und Schweigen verurteilt sind. Vielmehr lebt eine Session zu einem guten Teil von den Reaktionen aus dem Publikum beispielsweise durch spontanen Applaus während des Spiels, wie es sich auch im Preisträgerinkonzert hören lässt.

 

Die Session ist mehr eine Kommunikationsweise der Musik als ein „bürgerliches“ Konzert. Bestenfalls gibt es spontanen Applaus mitten im Stück oder Zwischenrufe. In der klassischen Musik ist sie dem Terzett oder Quartett etc. näher als dem Solo und Orchesterstück unter Leitung eines Dirigenten. Schrieb Goethe 1829 noch an Zelter, dass sich im Quartett „vier vernünftige Leute“ unterhielten, so unterhalten sich in der Jazz-Session mehrere Musiker*innen durch Schlagfertigkeit und Anspielungen. Eine Session findet zwischen und unter Musiker*innen statt. Sie ist nicht zuletzt eine antibürgerliche Haltung zur Musik, für die nach wie vor gilt, was Roland Barthes einmal bemerkte: 

Sie kümmern sich nicht geschäftig um jedes Detail, im Gegensatz zur bürgerlichen Kunst, die stets indiskret ist. Sie vertrauen der Materie der Musik, die sogleich auch die letzte ist.[6]

 

Vielleicht kommt die Schlagfertigkeit von Aki Tanase am besten in dem onomatopoetischen 葛飾/Hokusaiin der Session mit Yoko Tawada zur Geltung. Bereits 2002 haben Aki Tanase am Klavier, der chinesischen Koto, mit Live Electronics und Yoko Tawada (Text) diagonal als CD mit Titeln wie tango.de, dreizehn, die flucht des monds und tango.jp aufgenommen. Hokusai spielten sie zum ersten Mal bei einem Konzert in Tokio 2017. Vielleicht kommt die Onomatopoesie nicht nur der Dichtung Yoko Tawada besonders entgegen, sondern auch dem Musikverständnis Aki Tanases. Denn es geht mehr um sinnliche als um sinnige Lautmalerei, Tonwortbildung oder Tonmalerei. Hokusai kann im Japanischen immer wieder auch Sinnereignisse aufblitzen lassen, doch generiert sich das Stück aus dem poetischen Umgang mit dem Namen.

 

Sinnereignisse der Performance im Free Jazz oder der Session lassen sich schlecht festhalten oder verifizieren. Sie sind sinnlich wie das Aufblitzen eines plötzlichen Sinns, was Aki Tanases Musiksprache wie Yoko Tawadas Dichtung auszeichnet.[7] Wenn man Aki Tanases Preisträgerinkonzert, das noch bis 5. Juli in der rbb-Mediathek nachzuhören und zu sehen ist, folgt, dann mag sich in den unterschiedlichen Kompositionen und Improvisationen eine Diversität von Sinnereignissen einstellen. Sie mögen von Hörer*in zu Hörer*in unterschiedlich ausfallen, man wird vielleicht auch nicht herausfinden können, woran Aki Tanase beim Spielen gedacht hat, aber sie sind möglich und rufen bisweilen einen Jubel hervor. 

 

Torsten Flüh 

 

rbb24|Kultur 

Aki Takase mit Berliner Jazzpreis ausgezeichnet     

bis 5. Juli 2018

 

Aki Tanase gibt zahlreiche Konzerte in und außerhalb von Berlin

Concerts

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[1] Siehe Aki Tanase: Discography Details http://www.a30a.com/aki/aki_disc.html#AKI1

[2] Georg Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972, S. 14.

[3] Jazz Etymology and definition, Übersetzung T.F., https://en.wikipedia.org/wiki/Jazz

[4]jizz ist ein vulgärer Begriff für „Sperma“ oder „Wichse“. Siehe LEOs Wörterbuch jizz.

[6] Tom Vitale: The Musical That Ushered In The Jazz Age Gets Its Own Musical. In: nrp music March 19, 20168:16 AM ET.

[6] Roland Barthes: Bürgerliche Gesangskunst. In: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe. Berlin: Suhrkamp, 2010, S. 222.

[7] Vgl. auch Torsten Flüh: „Ich lasse mich gerne atmen durch eine andere Sprache“ – Yoko Tawada liest neue „Überseezungen“ mit Naomi Sato an der (shō) im Haus für Poesie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Februar 2018 23:05.

Künstliche Intelligenz und Monstera deliciosa - Sabine Bendiek von Microsoft Deutschland lädt zum Parlamentarischen Abend über Künstliche Intelligenz

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Monstera – Intelligenz – Wahrnehmung 

 

Künstliche Intelligenz und Monstera deliciosa 

Sabine Bendiek von Microsoft Deutschland lädt zum Parlamentarischen Abend über Künstliche Intelligenz 

 

Der Philodendron oder Monstera deliciosa ist als Zimmerblattpflanze gerade wieder schwer in Mode. Der Berichterstatter kennt ihn aus der Wohnstube seiner Großmutter. Heute gilt er als Designpflanze des Minimalismus. Monstera steht in der Sitzecke für die internationalen Besucher*innen in der Digital Eatery von Microsoft Unter den Linden 17. Digital Chic. Was brauchen die Digital Natives heute mehr als ein leistungsstarkes, ultraflaches Notebook oder gleich nur das multifunktionale Smartphone und eine Monstera deliciosa, die für ihre Lichtanpassungsfähigkeit bekannt ist? Die Monstera, die Großmutter sprach immer verheißungsvoll vom Philodendron, in ihrer Anpassungsfähigkeit und ihrem Minimalismus verheißt plötzlich wieder Zukunft.

Künstliche Intelligenz für Deutschland und Minimalismus liegen vielleicht näher als gedacht. In den 60er Jahren entwickelte sich ein Minimalismus in der Kunst wie bei Carl Andre oder Sol LeWitt. Später feierte Phil Glass mit Minimal Music seit Einstein on the Beach Erfolge. Heute nehmen sich immer mehr junge Menschen den Minimalismus als Lebensweise und umweltbewussten Life Style zu Herzen. Lisa Sophie Lurent, Lotti, Y-Kolletiv und Resi Random etc. propagieren auf Blogs und als YouTuber ein glückliches Leben durch Konsumverzicht, Ordnung statt Chaos und Ausmisten. Das Leben wird überschaubar. Tobis Minimalismus extrem gilt als Utopie. Aus der Ferne winkt Erich Fromms Haben oder Sein von 1976 herüber. Sabine Bendiek verspricht die problemlösende KI-Technologie, die „wahrnehmen, lernen, logisch denken“ kann.

 

Technologie zum Lösen von Problemen bietet sich in einer gerade für junge Menschen als zunehmend unüberschaubar komplex empfundenen Welt an. Konsumvermeidung und Künstliche Intelligenz bedingen einander. Durch Minimalismus als Lebensweise wird, was sich in einem komplexen Leben ansammelt, sich in Richtung Chaos und Messy entwickelt, in klares Design, kleine Wohnungen und einen Umzug im Kleinwagen verwandelt. In einer Welt unendlicher Datenproduktion und ständigen Datenaustausches, um Leihfahrräder mit dem Smartphone und Autonomes Fahren mit KI verfügbar zu machen, verspricht der Minimalismus Ordnung und Kontrolle des selbst erstellten Minimalisums.

 

Der neue Minimalismus ist die Antwort auf den Plastikstrudel im Ozean, das Billig-T-Shirt aus Bangladesch und Hungersnöte. Microsoft verspricht nun, bei all den Problemen mit Künstlicher Intelligenz und Algorithmen zu helfen. Es geht um einen Wandel von der Hard- zur Software. Hardware war immer ein wenig schmutzig, produzierte Müll, besonders gefährlichen Elektronikschrott. Software soll als sauber gelten. Wie gut, dass Microsoft schon das Soft der Software im Namen führt. Für den Philodendron empfiehlt dann nicht zuletzt das Pflanzenwissen im Internet nur, dass er „für gelegentliches Besprühen und Entfernen der Staubschicht … dankbar“ ist. So einfach kann Leben sein. So ähnlich hielt es Oma schon mit ihm.

 

Sabine Bendiek eröffnete ihren Vortrag mit einer charmanten Definition der Künstlichen Intelligenz. Sie sei eine „Technologie, die wahrnehmen, lernen, logisch denken, bei der Entscheidungsfindung unterstützen kann und bei der Lösung von Problemen hilft“, sagte die Vorsitzende der Geschäftsführung von Microsoft Deutschland. Genau das brauchen und wollen wir, könnte man denken. Sabine Bendiek formuliert mit der Künstlichen Intelligenz als Area Vice President nicht nur einen Wandel des Konzerns Microsoft in Deutschland, wie ihn im Januar Brad Smith an gleicher Stelle angekündigt hatte.[1] Sie macht durch eine einladende, offene Körpersprache vor der smarten Videowand auch Lust auf Künstliche Intelligenz, die (keinesfalls) die menschliche ersetzen, vielleicht eher in Richtung von Verhaltensdesign optimieren soll.[2] Künstliche Intelligenz wird ein vielversprechender Wirtschaftsbereich, an den Deutschland seinen Anschluss finden soll oder muss.

 

Microsoft und Bill Gates haben nie in einer Garage wie Steve Jobbs und Steve Wozniak Computer zusammengelötet. Bill Gates war von Anfang an ein Programmierer, was nicht zuletzt heißt, dass er maßgeblich an der Entwicklung und Verbreitung von Künstlicher Intelligenz beteiligt war. Doch der Begriff der Artificial Intelligence wie er nicht zuletzt mit Alain Turing 1956 auf der Dartmouth Conference entwickelt wurde, stellte auch eine unheimliche Vergleichbarkeit mit dem menschlichen Gehirn auf. John von Neumanns Silliman Lectures an der Yale University erschienen 1958 unter dem Titel The Computer and The Brain auch in Deutsch als Die Rechenmaschine und das Gehirn. Von Neumann benutzt zwar noch nicht den Begriff der Artificial Intelligence. Doch er gliederte seine durch Krankheit verhinderten Vorlesungen in zwei Teile, eben dem ersten The Computer und dem zweiten The Brain. Er verstarb am 8. Februar 1957 im Walter Reed Hospital, so dass Klara von Neumann das „unfinished and fragmantary manuscript“ schließlich zur Veröffentlichung an die Yale University Press vergeben musste.[3]

 

Nach Ray Kurzweil gehört The Computer and The Brain heute zu den Gründungsschriften der AI oder Artificial Intelligence[4], die nun „die Entscheidungsfindung unterstützen kann und bei der Lösung von Problemen hilft“. Diese semantische Verschiebung von der Konkurrenz zwischen Rechenmaschine und Gehirn zur Unterstützung und Hilfe deutet die aktuelle, politisch korrekte und vielversprechende Umformulierung der Künstlichen Intelligenz durch Microsoft an. John von Neumanns fragmentarische Vorlesungen ohne jegliche Graphiken oder Bilder stoßen um 1958 nicht nur die Technologie der Artificial Intelligence an, sie geben auch einen Wink auf die Neurowissenschaften, weil er als Mathematiker verstehen wollte, wie das „Nervensystem“ funktioniert. 

Since I am neither a neurologist nor a psychiatrist, but a mathematician, the work that follows requires some explanation and justification. It is an approach toward the understanding of the nervous system from the mathematician’s point of view. However, this statement must immediately be qualified in both of its essential parts.[5]

 

John von Neumann schreibt in seinen Manuskripten weder von der Artificial Intelligence noch benutzt er den Begriff des Lebens für seine mathematischen Überlegungen. Das macht ihn durchaus zu einem Scharnierautor. Denn er beschreibt nun mit der Analogisierung von Computer und Gehirn, von Maschine und Mensch zwei Bereiche des  Denkens, die er durch Mathematik zugänglich machen will. Er vermutet gar, dass „a deeper mathematical study of the nervous system“ das Verständnis der mathematischen Aspekte dahingehend verändere, dass sich der Blick auf „mathematics and logics“ verschieben werde.[6] Das Nervensystem ist nach von Neumann „prima facie digital“[7], womit das Gehirn und sein Denken im Vergleich mit einem Computer „two kinds of “automaton““ für den Mathematiker werden.[8] Damit wird der Vergleichbarkeit Tür und Tor geöffnet. Wenn das Gehirn funktioniert wie ein Computer, dann kann ein Nervensystem digital wie ein Computer arbeiten.

 

Die beiden Automaten brauchen Kontrolle und lassen sich kontrollieren. Sie werden berechenbar. Die vereinfachende Operation einer Mathematisierung des Nervensystems macht es nicht nur beschreibbar, sondern kontrollierbar. Denn es geht dem Mathematiker von Neumann vor allem um Kontrolle durch Logik oder die „Logical control“.[9] Der Begriff der Kontrolle oder des Kontrollierens kommt außerordentlich häufig in The Computer and The Brain vor. Ray Kurzweil geht in seinem Vorwort 2012 entschieden weiter. 

In einem großen Projekt, das menschliche Gehirn zu verstehen, machen wir sich beschleunigende Gewinne beim Reverse Engineering als den Paradigmen des menschlichen Denkens und wenden diese biologisch inspirierte Methoden an, um immer intelligentere Maschinen zu schaffen. Künstliche Intelligenz (KI) wird auf diese Weise entwickelt letztlich über das unverbesserte menschliche Denken hinweg rasen. Ich bin der Ansicht, dass der Zweck dieses Bestrebens nicht darin besteht, uns zu verdrängen, sondern um die Reichweite dessen zu erweitern, was bereits eine Zivilisation von Mensch und Maschine ist. Das macht unsere Spezies einzigartig. (Übersetzung T.F.)[10]

 

Der Wunsch der Kontrolle klingt auch heute in der Künstlichen Intelligenz und dem Trend des Minimalismus wieder. Autonomes Fahren kann tendenziell nicht die Kontrolle über das Auto verlieren. Vielmehr können Programmierungsfehler auftreten. Doch die KI, die die hochverschalteten und -vernetzten Datenströme zu Entscheidungen über das Fahrverhalten zusammenführt, gerät nicht einfach außer Kontrolle wie ein Mensch. Der „Roboterwagen von Uber“ war nicht außer Kontrolle geraten, als im März 2018 ein Volvo XC 90 in Arizona eine Radfahrerin mit Todesfolge überfuhr. Vielmehr sei die „Notbremsfunktion … laut Uber aber abgeschaltet gewesen, um ein unberechenbares Verhalten des Roboterwagens zu verhindern“.[11] Die sprachlichen Operationen in der Berichterstattung zum tödlichen Uber-Unfall sind erstaunlich. Denn Lutz Reiche hatte im Manager Magazin getitelt Der Roboterauto-Albtraum - Software erkannte Passantin nicht. Wenn die „Notbremsfunktion“ abgeschaltet ist, dann können Sensoren und Software soviel „erkennen“, wie sie wollen. Gebremst wird dann trotzdem nicht. Das ist allerdings das Gegenteil von Kontrollverlust und Intelligenz.

 

Einerseits ist vielleicht kein anderer Begriff für den Menschen in der Moderne so entschieden zur Conditio Humana erklärt worden wie jener der Intelligenz, der schnell mit der Vernunft und Logik kurzgeschlossen wurde. Andererseits hat die Intelligenz selbst vielfache Transformationen zwischen Vernunft, Logik und Emotionaler Intelligenz erfahren, so dass der Begriff weiterhin dehnbar und ambig ist. Können Automaten wahrnehmen? KI könne „wahrnehmen“, hatte Sabine Bendiek auf der Microsoft-Bühne gesagt. Wenn man intelligente Wahrnehmung auf jenen Bereich des Straßenverkehrs durch visuelle, akustische, klimatische und gar olfaktorische Sensoren, deren Datenmengen und -qualitäten begrenzt, die durch weitere Programme und Algorithmen das Fahrverhalten kontrollieren, dann ist eine solche Wahrnehmung wahrscheinlich längst effizienter als ein Menschenhirn.

 

Die technologischen „KI Durchbrüche bei Microsoft“ haben längst mehr als Pari zum Menschen erreicht. „2016 Objekt & Bilderkennung Pari zu Menschen“. Wären Sie oder ich ein Bot, dann müssten wir uns nicht bei einem zufälligen Treffen nach Jahren sagen: „Helfen Sie mir weiter, woher wir uns kennen.“ Das ist zwar ganz charmant formuliert, aber einem Bot wäre das nicht passiert. Einmal erkannt und abgespeichert, hätten wir uns in Nullkommanichts wiedererkannt. Dafür ist ein Bot mit Gesichts(bild)erkennung ja schließlich gemacht. Auch der „Switchboard speech recognition test“ hat 2017 ein Pari erreicht. Im Vergleich zum Computer wird der menschliche „Automat“ immer defizitärer. Im Januar 2018 erreichte der Roboter im „SQUAD reading comprehension test“ 88.5 % im Vergleich zum Menschen. Was heißt dann Leseverständnis, wenn der Stanford Question Answering Dataset (SQUAD) Test zeigt, dass Menschen häufig völlig falsch lesen und verstehen? Schließlich doch nicht endlich hat die blitzschnelle Maschinelle Übersetzung für den Tagesgebrauch im März 2018 eine Gleichheit von 69.9% zum Menschen bei Microsoft erreicht. KI ist auf dem Vormarsch.

 

Die Zahlen, die Sabine Bendiek charmant und gestenreich als Erfolge der hochsympathischen Künstlichen Intelligenz im Microsoft Atrium präsentierte, funktionieren über die Mathematik wie sie durch John von Neumann als Sohn eines Bankiers in Budapest zum Wissensparadigma wurde. Was sich berechnen lässt, kann kontrolliert werden. Es kommt nur auf die Feinabstimmung der Algorithmen, der Statistiken und Datenmengen an. Ein Pari im SQUAD heißt, dass das Lesen bereits in einen algorithmischen Datensatz aus Fragen und Antworten verwandelt worden ist. Man glaubt ja sonst gar nicht, was Menschen in einem einfachen Zeitungsartikel lesen können und dann auch noch davon überzeugt sind, dass sie richtig gelesen haben. Nicht nur das, sie sind davon überzeugt, dass andere das ganz falsch lesen. Und was sie gelesen und verstanden haben, setzt ungemeine Kräfte für ihre Identität frei.

 

Eigentlich kann man sich nur wünschen, dass Roboter in den USA und weiten Teilen Europas z. B. Horst Seehofer erklärten, wie richtiges, intelligentes SQUAD-Lesen geht. Leider geht Sabine Bendiek aber nicht genauer darauf ein, wie das Lesen im SQUAD-Test funktioniert. Es sind die Zahlen, die von Microsoft und seiner Künstlichen Intelligenz überzeugen sollen. Und es ist die Körpersprache, mit der Sabine Bendiek überzeugen kann. Dafür dürfte sie durchaus das eine oder andere Buch über NLP gelesen haben. Schon in der Volkshochschule Hamburg in den 90er Jahren war NLP als Fortbildung hoch im Schwange. Neuro-Linguistisches Programmieren wäre durchaus ein Bereich, den John von Neumann mit The Computer and The Brain angestoßen haben könnte, wenn er schreibt: 

As pointed out, the nervous system is based on two types of communications: those which do not involve arithmetical formalisms, and those which do, i.e. communications of orders (logical ones) and communications of numbers (arithmetical ones). The former may be described as language proper, the latter as mathematics.[12]

 

Seit den 70er Jahren gehört das Neuro-Linguistische Programmieren in mancherlei Spielarten zu den Erfolgsrezepten in der Kommunikation nicht nur von Menschen, die z.B. an der Volkshochschule unterrichten wollen. Überzeugen kann man mit Hilfe von NLP lernen. Und plötzlich kehrt dann auf dem Wunschzettel des Neffen ein neuer NLP-Bestseller auf. Womöglich lassen sich auch wieder Minimalismus und NLP prima kombinieren. NLP, so könnte man sagen, versucht jede sprachliche Aktion bis in die zeichenhafte Augenstellung zu deuten und zu regeln. Vielleicht ist NLP so etwas wie eine Sprache der Gesten auf der Bühne, die in anderen Fortbildungsangeboten schon leicht einmal Charisma genannt werden kann. Erstaunlich daran ist allerdings, dass eine allzu große Beherrschung von NLP in ihren letztlich mathematischen Grundlagen an einen Automaten denken lässt. Nach einem Aphorismus von John von Neumann, der nicht in The Computer and The Brain vorkommt, ist die Mathematik viel leichter als das Leben zu erlernen. 

If people do not believe that mathematics is simple, it is only because they do not realize how complicated life is.


Sitzecke mit Monstera deliciosa 

Das komplizierte Leben wäre demnach viel schwieriger als die Mathematik, die das Leben – und darum geht es von Neumann wohl mit seinem Vergleich von Computer und Gehirn – viel einfacher machen könnte. Auf fast schon literarische Weise knüpft Sabine Bendiek an Alan Turings, für den das Leben erwiesener Maßen durch Homophobie und brutale Gesetzesmaschinen gerade nicht einfach war, positive Formulierung der Maschine an: „We should not ask, can machines think, but rather, what can machines do?“ Vielleicht muss man sich heute vielmehr fragen, was denken sich Menschen bei Uber dabei, wenn sie eine Notbrems- und/oder Geschwindigkeitsbegrenzungsfunktion ausschalten? Sabine Bendiek sagt, dass es bei Microsoft so etwas wie eine Ethikkommission gibt und dass sie die neue Europäische Datenschutzverordnung auch in außereuropäischen Ländern zum Standard gemacht haben. Vielleicht ist Microsoft im Bereich des Programmierbaren tatsächlich vorbildlich. – Oder?     

 

Torsten Flüh

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[1] Siehe: Torsten Flüh: Kant und die Ethikrichtlinien aus dem Internetkonzern. Brad Smith stellt The Future Computed im Microsoft Atrium in Berlin und beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos vor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Januar 2018 19:01.

[2] Siehe auch: Torsten Flüh: Von der Design-Wende. Zur Tagung Verhaltensdesign im Hybrid Lab. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Dezember 2016 21:12.

[3] Klara von Neumann: Preface. In: John von Neumann: The Computer and The Brain. New Haven: Yale University Press, 1958, S. X.

[4] Ray Kurzweil: Foreword to the third edition. In: John von Neumann: The Computer and The Brain. New Haven: Yale University Press, 2012, S. Xi.

[5] John von Neumann: Introduction. In: ders.: The … [wie Anm. 2] S. 1.

[6] Ebenda S. 2.

[7] Ebenda S. 39-40.

[8] Ebenda S. 39.

[9] Siehe: Logical Control. Ebenda S. 11-22.

[10] In a grand project to understand the human brain, we are making accelerating gains in reverse engineering the paradigms of human thinking, and are applying these biologically inspired methods to create increasingly intelligent machines. Artificial intelligence (AI) devised in this way will ultimately soar past unenhanced human thinking. My view is that the purpose of this endeavor is not to displace us but to expand the reach of what is already a human-machine civilization. This is what makes our species unique. Ray Kurzweil: Foreword ... [wie 3] S. xi-xii.

[11] Lutz Reiche: Der Roboterauto-Albtraum - Software erkannte Passantin nicht. In: Manager Magazin 25.05.2018.

[12] John von Neumann: The Computer … [wie Anm. 2] S. 81-82.

Iskandar Widjaja begeistert im Kornversuchsspeicher - Berliner Stargeiger geht neue Wege in Klassik und Weltmusik am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal

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Musik – Wissenschaft – Immobilie 

 

Iskandar Widjaja begeistert im Kornversuchsspeicher 

Berliner Stargeiger geht neue Wege in Klassik und Weltmusik am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal

 

An einem Mittwochabend im Juli findet sich im Kornversuchsspeicher am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal gleich neben der Kieler Brücke eine illustre Gesellschaft aus Real Estate, Investoren, Gästen und Künstlern zum Konzert von Iskandar Widjaja & Friends ein. Der unspektakuläre, denkmalgeschützte, sechsstöckige Backsteinbau stand seit der Zeit um 1900 schon immer am Ufer. Gelegentlich fahren Ausflugsschiffe mit Betriebssommerfestgesellschaften vorbei. In einem Schlauchboot paddelt ein Pärchen auf dem Kanal. Unter den Gästen ist  der Starorganist Cameron Carpenter. Bis 1989 lag der Kornversuchsspeicher im toten Winkel gegenüber der Führungsstelle Kieler Eck an der Mauer, wo heute Günter Litfin, dem zweiten Mauertoten im nahen Humboldthafen, gedacht wird.

 

Wann genau der Kornversuchsspeicher ein Technikdenkmal wurde, ist nicht leicht zu ermitteln. Zwischenzeitlich war er Lagerraum, Event Location, Kunstort und Immobilie vor dem Umbau, um demnächst das Wahrzeichen für die Wasserstadt Mitte an der Heidestraße abzugeben. An diesem Abend tritt Iskandar Widjaja mit seinen Freund*innen auf. Es gibt Fingerfood und Drinks. Im ersten Teil spielt er auf einer JB Vuillaume, was man Klassik nennt. Mélodie Zhao begleitet Widjaja am Steinway-Flügel. Der erste Satz, Presto, aus Christian Sindings Suite im alten Stil von 1889 wird zum fulminanten Auftakt. Widjaja spielt sehr schnell, forciert, rockt fast. Das Publikum lässt sich zum spontanen Applaus hinreißen. Die Suite – Presto, Adagio, Tempo Giusto – des norwegischen Komponisten gilt als eine Art Geheimtipp im Konzertprogramm.

Der Speicher wurde in zwei Phasen 1897/1898 und um 1915 erbaut. Wie sollte Getreide um 1900 am besten zur Weiterverarbeitung in der Großstadt gelagert werden? Bei der Lagerung von großen Mengen Getreide in neuartigen Silos, die seit 1873 in den USA von Fred Hatch entwickelt worden waren, trat eine Reihe von Problemen auf. Das Getreide musste in Räume gleichmäßig verschüttet werden, durfte nicht feucht, aber auch nicht zu trocken und staubig sein. Die Lagerung des Getreides erforderte neuartige Technologien. Wenn sich in einem Silo zu große Staubwolken bilden, können diese jederzeit explodieren. War das Getreide zu feucht, drohte Schimmel. Lange stand der Getreidespeicher leer oder wurde schlicht als Lagerstätte zweckentfremdet. 

Zweck des Kornversuchsspeichers war die wissenschaftliche Untersuchung der Getreidelagerung, die vergleichende Bewertung der Silo- und Schüttbodenspeicherung und die Erprobung moderner Maschinentechnik.[1]

 

Dass das Gebäude an einem modernen Verkehrsknotenpunkt in der Industriemetropole Berlin stand, lässt sich heute kaum noch erahnen. Zwischen den Bahnanschlüssen nach Hamburg im Nordwesten oder dem hannoverschen Lehrte im Westen und dem Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal lag der Kornversuchsspeicher an einem Verkehrsknotenpunkt für den Transport von Massengütern in Güterzügen und auf Frachtkähnen.Mit dem Standort am Kai des Berlin-Spandauer Schiffahrtskanals bestand eine hervorragende Anbindung an das Wasserstraßennetz und die Eisenbahn“[2], erinnert die Denkmaldatenbank. Technikhistorisch sind die Kinder und Kindeskinder sozusagen in verschiedenen Bautypen heute noch im nahen Westhafen u.a. mit dem riesigen Westhafenspeicher zu bestaunen. Der Kornversuchsspeicher ist so etwas wie der Vater aller Getreidesilos in Deutschland, wenn nicht Europa.

 

Plötzlich verwandelt sich das Gebäude in eine Zukunftswerkstatt der Künste und eines neuen Stadtquartiers. In dieser Eigenschaft wird es zum beziehungsreichen Auftrittsort für Iskandar Widjaja, der in seinem Musikprogramm als einst klassisch ausgebildeter Jungstudent für Violine an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ neuartige Wege mit Christian Sinding neben Johann Sebastian Bach, Camille Saint-Saëns neben dem trendigen Langzeitkonzert-Komponisten Max Richter spielt. 2016 führte der in London lebende Max Richter bei maerzmusik – festival für zeitfragen – nächtens bis in den Morgen im Kraftwerk Mitte Sleep auf. Nachdem Widjaja ebenfalls 2016 ein vielbeachtetes Klassik-Konzert mit dem Deutschen Symphonie-Orchester unter Christoph Eschenbach mit Stücken von Henryk Wieniawski und Robert Schumann gespielt hat, das mittlerweile als CD vorliegt, setzt er nun verstärkt persönliche Akzente in seinem Musikverständnis. Die Trennung von U und E lässt er nicht gelten.

 

Ebenso charmant wie offen moderiert Widjaja sein Konzert im Kornversuchsspeicher vor floralem Dekor auf der weiß getünchten Backsteinwand selbst. Auch das ist fast ein Statement zu seinem Musik- und Künstlerverständnis. Entrückte Künstler, die nicht sprechen können oder wollen, weil es um „heilige Kunst“ geht, verpassen heute vor allem ein jüngeres Publikum. Gehört Iskandar Widjaja gar zu einem neuartigen Künstlertypus im Konzertsaal? Dieser neuartige Künstlersolist auf dem Konzertpodium sucht den Kontakt zum Publikum, indem er spricht, wie Yannick Nézet-Séguin auf Facebook Fotos mit Lisa Batiashvili von Backstage in der Waldbühne postet und mit Lockerheit wie Esprit die Genre mixt. Club und Konzertbühne sind ihm gleichermaßen wichtig. Für junge, aufstrebende Solisten wie Widjaja wird der Club, wo junge Menschen Musik hören, unverzichtbar. 

  

Das musikalische Spezialwissen der Klassik und Klassik-Kritiker ist fragwürdig geworden. Vielleicht fing es schon mit dem Cross Genre von Leonard Bernstein und seinem ebenso unterhaltsamen wie politisch bösen Candide 1956 oder der verspäteten Uraufführung von A Quiet Place 2013 an. Sir Simon Rattle hat das Mischen der Genres programmatisch und als Haltung durch George Gershwins Cuban Overture mit den Berliner Philharmonikern kürzlich in der Waldbühne, aber nicht nur für sie, bestätigt. Auf dem Konzertpodium ist heute eher ein elitärer, bürgerlicher Gestus zu vermeiden. Im Kornversuchsspeicher trennt Iskandar Widjaja den Klassikteil durch eine Pause vom Hybrid Genre des zweiten. Vielleicht reicht es, wenn er für das Publikum zu Bachs Musik sagt, dass „die Welt wieder in Ordnung ist“, wenn er ihn spiele. Die Ordnung und Harmonie in Bachs Musik, die nicht zuletzt auch eine mathematische ist, bewirkt eine ebenso geordnete wie entspannte Wahrnehmung, könnte man sagen.

 

Der Umfang und die Kombinationen der Musikgenres bei Iskandar Widjaja ist erstaunlich und vielschichtig. Auf seinem neuen Album Mercy, das am 7. September erscheinen und auf das im Kornversuchsspeicher aufmerksam gemacht wird, spielt er Johann Sebastian Bachs Violinkonzert in d-Moll (BW 1052r) mit zurückhaltender Begleitung am Cembalo äußerst leidenschaftlich und virtuos. Das Violinkonzert erhält eine neuartige Intensität. Auf dem Konzertpodium lässt sich verfolgen, wie sehr er sich nicht nur intellektuell und technisch, sondern körperlich in die Musik hineinarbeitet. Ein intensiver Bach steht für ihn gleichwertig neben Max Richters Komposition Mercy. Das sprengt durchaus historisch-kritische Aufführungspraktiken und rückt Johann Sebastian Bachs Erbarme Dich aus der Matthäus-Passion wie in Eneril mit der mongolischen Vokalistin Urna Chahar-Tugchi in die Nähe einer spirituellen Weltmusik.  

 

Es ist durchaus eine Frage, ob und in welcher Weise das Gefühl für Johann Sebastian Bach eine kompositorische Kategorie war. Für Iskandar Widjaja als Musiker und Violinist ist Bach ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Bezugspunkt beispielsweise auf dem Album Mercy. Das Album ist zwar um Max Richters gleichnamige Komposition aufgebaut. Doch eigentlich bezieht sich das Album auf Johann Sebastian Bachs Erbarme Dich für Geige und Mezzosopran aus der Matthäus-Passion. Um das Erbarme Dich werden Kompositionen und Arrangements von Yiruma, Arvo Pärt, Max Richter, Giordano Franchetti und Urna Chahar-Tugchi sowie Bach selbst angefügt. Doch formuliert das Erbarme Dich ein Gefühl? 2013 inszenierte Peter Sellars die Matthäus-Passion mit den Berliner Philharmonikern unter Sir Simon Rattle in der Philharmonie. Magdalena Kočená sang quasi mit der Geige von Daniel Stabrawa.[3]  

Erbarme dich, mein Gott, 

Um meiner Zähren willen! 

Schaue hier, Herz und Auge 

Weint vor dir bitterlich. 

Erbarme dich, mein Gott.

  

Die Bitte um das Erbarmen, engl. Mercy, bei Johann Sebastian Bach wird in der Ersten Violine mit wiederholten Seufzern transformiert. Um der flehentlichen Bitte Nachdruck zu verleihen, wird geweint. Insofern geht es nicht primär um den Ausdruck eines Gefühls, sondern um eine rhetorische Figur. Der letztlich sich unterwerfenden Bitte um Gnade wird Nachdruck verliehen. Insofern handelt es sich hier um eine Geste der Unterwerfung, um Gnade durch Gott zu erhalten. Die üblicherweise ca. 6 Minuten der Arie Erbarme dich werden in der Bachschen Harmonik besonders reich variiert. Doch weder die Bitte noch die Gnade sind ein Gefühl. Vielmehr ist die Gnade als Erbarmen ein göttlicher Rechtsakt, den eben nur Gott in seiner alttestamentarischen und damit christlich, jüdischen und islamischen Allmacht ausführen kann.

  

In der Passion als Leiden oder Leidensweg lässt Gott die Gnade an Jesus gerade nicht walten. Er verweigert sie bis zu seinem Tod – „Um die neunte Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eli, Eli, lema sabachtani?, das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Matthäus 27/46) – und zur österlichen Auferstehung von den Toten. Johann Sebastian Bach als Kirchenmusiker ist dies bei der Komposition der Arie Erbarme dich auch in der notwendigen Vergeblichkeit der Bitte um Gnade bewusst. Insofern schimmert in den Seufzern der Violine eine gesetzmäßige und theologische Vergeblichkeit durch. Statt emotionaler Aufwallung und Expression verläuft die Passion von vornherein theo-logisch. Deshalb kann die Musik in einer paradoxen Zuversicht harmonisch bleiben.

 

Unter anderem hat Nigel Kennedy 2002 mit dem Gewandhausorchester Erbarme dich als bruchlosen Megahit eingespielt.[4] In der Matthäus-Passion funktioniert die theo-logische Musik durch Emotionen anscheinend bruchlos. Es gibt, sagen wir etwas Tröstendes in der Musik. Sir Simon Rattle hat 2014 für die Johannes-Passion auf eine andere, dunklere Färbung hingewiesen.[5] Es ist merkwürdig genug, dass in einer zunehmend widersprüchlichen Wahrnehmung von Welt ausgerechnet Johann Sebastian Bachs in seiner Zeit als zu opernhaft und zu emotional kritisierten Passionsmusiken heute als Open Air-Ereignis taugen. Insbesondere mit der Stimme der Ersten Violine des Erbarme dich werden Gefühle von theologisch fast obszöner Innerlichkeit verknüpft.

  

Iskandar Widjajas Erbarme dich klingt ein wenig rauer. Mit Mercy und Eneril nimmt es gänzlich andere Wendungen an. Man könnte sagen, dass sich die verweigerte oder zumindest aufgeschobene Gnade qua Musik in Trost von universaler Reichweite verwandelt. Die Musik tröstet wie in dem streng komponierten und konstruierten Stück Spiegel im Spiegel von Arvo Pärt aus dem Jahr 1978, das Iskandar Widjaja im Kornversuchsspeicher mit Friedrich Wengler am Klavier spielt. Auf der CD wird von Giordano Franchetti eine Art Raumklang aus dem Bauch einer schwangeren Frau in das Stück montiert. Auch Fratres von Arvo Pärt von 1977 spielt auf religiöse Musikpraktiken an, um sich zugleich von einer bestimmten Religion zu lösen. Am weitesten geht Iskandar Widjaja mit Urna Chahar-Tugchi in Eneril.

 

Indem Urna Chahar-Tugchi und Iskandar Widjaja in Eneril die formelhafte Kompositionspraxis von Johann Sebastian Bach Erbarme dich hier mit der Gesangspraxis der mongolischen Steppe kombinieren, treffen zwei unterschiedliche Musikpraktiken aufeinander, um sich doch in einem Musikereignis zu finden. Kann das funktionieren? Wie kann Urna mit ihrer Stimme auf die Komposition von Johann Sebastian Bach in der Aktualisierung und Interpretation von Iskandar Widjaja reagieren? Zwei gänzlich verschiedene Musikpraktiken werden hier kombiniert und abgestimmt zu einer Art tröstlicher Weltmusik. Der Effekt dieses Musikexperiments ist überraschend und löst Begeisterung aus. Musik wird vielleicht immer dann besonders intensiv, wenn es vor allem um ein gemeinsames Musikmachen geht. Dann springt, wie man sagt, ein Funke über wie im Kornversuchsspeicher.   

 

Torsten Flüh

  

Iskandar Widjaja 

Merci - Trailer

  

15. August 2018 

Umago classics 

J.S.Bach: The Partitas 

 

7. September 2018 

CD Release Party&Konzert "Mercy" 

Club Haubentaucher Berlin

 

Kornversuchsspeicher

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[1] Kornversuchsspeicher. In: Denkmaldatenbank.

[2] Ebenda.

[3] Siehe Torsten Flüh: Ein Licht in der Dunkelheit. Zu Bachs Matthäus-Passion als Eröffnung der Festtage in der Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Oktober 2013 00:16.  

[4] Nigel Kennedy: J.S. Bach – Erbarme Dich, Mein Gott | St. Matthew Passion (Gewandhausorchester) Open Air at the Marktplatz Leizig YouTube.

[5] Siehe Torsten Flüh: Herzenssache. Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion der Berliner Philharmoniker auf DVD und Blu-Ray. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. Oktober 2014 20:32.  


Die Sprache der Sexualitäten und ein queerer Glücksfall - Zum Jahrbuch Sexualitäten 2018 und warum es kein queeres Begehren gibt

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Begehren – Ehe – Queer 

 

Die Sprache der Sexualitäten und ein queerer Glücksfall 

Zum gerade erschienen Jahrbuch Sexualitäten 2018 und warum es kein queeres Begehren gibt 

 

Am Freitagabend wurde im taz.café in der Rudi-Dutschke-Straße von Rainer Nicolaysen das Jahrbuch Sexualitäten in seiner dritten Ausgabe mit queeren Gästen aus Theater, Forschung, Politik und Journalismus vorgestellt. Volker Beck, Martin Dannecker, Lily Kreuzer, Gustav Peter Wöhler, Christiane Härdel, Jan Feddersen, Sophie Richter, Babette Reichardt, Heteros, Homos, Trans und Inter sowie Menschen ohne kategorisch-sexueller Identität hatten sich recht zahlreich im taz.café eingefunden, um das neue Buch mit Jessica Lynn auf dem Cover in Orange zu feiern. Nach einem Portrait des schwulen Michel Foucault in Blau und einem lesbischen Paar in Rot signalisiert Jessica als trans*Person geschlechtliche Vielfalt. Die Rede- und Schreibweisen zu Sexualitäten werden im Jahrbuch abermals breit aufgefächert und diskutiert.

Volker Beck bringt sich in seiner Vorstellung des Essays (K)ein Glücksfall von Jan Feddersen im neuen Jahrbuch in freier Rede sogleich in Stellung. Er fühlt sich mit dem Essay als Politiker und Aktivist kritisch angesprochen. Schließlich war er es als Politiker und Bundestagsabgeordneter des Bündnis 90/Die Grünen im Frühjahr 2017 gewesen, der die „Ehe für alle“ ins Wahlprogramm gepusht hatte. Jan Feddersens kritischen Essay zur „Eroberung des heterosexuellen Kerngehäuses: die Ehe für alle und ihre Durchsetzung in Deutschland“ wollte Beck nicht unwidersprochen gelten lassen. Am 30. Juni 2017 lud die Bundestagsfraktion der SPD zu einem spontanen Empfang mit Thomas Oppermann, Johannes Kahrs, Martin Schulz etc. unter Anschnitt einer Regenbogen-Torte durch die damalige Bundesministerin Barbara Hendricks, die am 30. Oktober 2017 ihre Lebenspartnerin heiratete, in das Reichstagsgebäude.

 

Die Zeiten ändern sich so rasant, dass der Jahrestag der „Ehe für alle“ angesichts revanchistischer, nationalistischer und geschlechtsrevisionistischer Debatten im Deutschen Bundestag fast vergessen wurde. Das „Konfetti, das am 30. Juni 2017 im Deutschen Bundestag, exakt um zehn Minuten nach neun Uhr, auf Volker Beck herabregnete, missfiel“ nicht nur „dem die Sitzung an diesem Freitagmorgen leitenden Bundestagspräsidenten Norbert Lammert“.[1] Während CDU-Abgeordnete wie Stefan Kaufmann oder Ursula von der Leyen nach der Befreiung vom Fraktionszwang durch die Bundeskanzlerin für die eherechtliche Gesetzesänderung gestimmt hatten, erinnerte Volker Beck daran, dass Norbert Lammert im „Diskussionsforum zum politischen Handeln aus christlicher Verantwortung“ kreuz-und-quer.de noch am 23. Mai 2016 die „Ehe für alle“ unter dem Titel UNGLEICHES UNGLEICH BEHANDELN – ZUR EHE UND GLEICHGESCHLECHTLICHEN PARTNERSCHAFTEN verhindern wollte.[2]

 

Worum geht es also nach wie vor mit dem Geschlecht, der Gleichgeschlechtlichkeit und der Sexualität? Das Geschlecht wird gebraucht in einer Bedeutungsvielfalt von „Gesamtheit der Merkmale, wonach ein Lebewesen in Bezug auf seine Funktion bei der Fortpflanzung als männlich oder weiblich zu bestimmen ist (…) Gesamtheit der Lebewesen, die entweder männliches oder weibliches Geschlecht (..) haben (…) Geschlechtsorgan (…) Gattung, Art (…) Generation (…) Familie, Sippe (…) Genus“.[3] Weiterhin hat Robert Tobin darauf aufmerksam gemacht, dass sich der Begriff „sexuality“ um 1800 mit der Übersetzung von Carl von Linnés systematisch-botanischen Schriften aus dem Lateinischen ins Englische als einer der Kategorisierung verbreitete.[4] Es geht mit dem Geschlecht und der Sexualität also immer um Einteilungen in Kategorien. Das Einzelne und Einzigartige wird einem Geschlecht zugeordnet.

 

Als Geschlechtsrevisionismus muss die aktuelle Debatte um außereuropäische Flüchtlinge und dem „Geschlecht“ der Europäer, Italiener, Deutschen und Bayern etc. wahrgenommen werden. Hergestellt und sichtbar gemacht werden Geschlechter, die längst in einem Diskurs der Differenz aufgegangen waren. Mit Trachtentreffen in Weiß-Blau werden auf Wahlkampfbühnen selbst Kinder vor der Geschlechtsreife, wie man sagt, vom Geschlecht eingeholt. Die Geschlechtserkennung wird durch Rosa und Blau zwar kaum noch praktiziert. Doch in Weiß-Blau wird es auf einmal wieder notwendig, das Geschlecht sichtbar zu machen. Das widerspricht zwar selbst der Geschlechts- und Einkaufspraxis des Fußballvereins Bayern München, doch politisch soll es den Klassenerhalt sichern. Längst sind die chinesischen Fans zum Machtfaktor geworden, so dass der FC Bayern am 22. März 2017 sein „China-Büro in Shanghai“ eröffnete.[5] 

 

Volker Becks Plädoyer für die gesetzliche Durchsetzung der Ehe als „Ehe für alle“ gegen Norbert Lammert und seine katholischen Mitstreiter im Mai 2016 muss ein wenig zugespitzt werden. Denn mit der ebenso feinen wie vernebelnden Formulierung „Ungleiches ungleich behandeln“ kopierten die ausnahmslos männlichen Laien und Funktionäre der katholischen Kirche – „Dieter Althaus, Alois Glück, Friedrich Kronenberg, Hermann Kues, Norbert Lammert, Thomas Sternberg, Bernhard Vogel“ – den Differenzdiskurs und drehten ihn machtvoll in einen kategorisierenden bzw. geschlechtenden Konservativismus um. Die hochausdifferenzierte Sprache der Juristen sollte einzig und allein der Verhinderung einer Gleichstellung dienen, weil jedoch der öffentliche Diskurs zur Ehe weitaus elastischer, also auch ungenauer stattfindet, war es die juristische Genauigkeit Volker Becks, die schließlich zur Gesetzesänderung führte.

 

Bei der „Eroberung des heterosexuellen Kerngehäuses“ geht es Jan Feddersen letztlich um die ideologische Frage, ob der Begriff der Homosexualität in eine subversive, staatskritische Lebens- und Sexualpraxis gewendet werden soll oder nicht. Einerseits sieht Feddersen „eine Art Glücksfall“ in der Entscheidung des Deutschen Bundestages vom 30. Juni 2017. „Und zugleich war es auch keiner, wenn man bedenkt, dass mit der Ehe für alle eben keine Signatur von Identitätspolitik geleistet wurde, sondern nur dem Gebot der Säkularisierung des Eherechts Folge geleistet wurde: ein Akt der Demokratisierung gegen als traditionell empfundene Gefühle vorwiegend christlicher Provenienz.“[6] Volker Becks Erinnerung an den Artikel in kreuz-und-quer.de deckt unterdessen eine diskurspolitische Strategie auf, die nicht nur von konservativen Katholiken eingesetzt wurde, sondern spätestens seit Frühjahr 2015 zum höchst erfolgreichen Diskurswerkzeug der AfD gehört. Der linke, dekonstruktivistische Diskurs nach ’68 soll mit den gleichen Mitteln umgedreht werden.

 

Es geht nicht nur um Homosexuelle, Ehe und Gleichstellung, vielmehr ging es für die katholischen Funktionäre in der CDU im Mai 2016 wie im Juni 2017 um die Rückeroberung des politischen Diskurses. Das Mitglied des Bundestages Dr. Marc Jongen (AfD), mittlerweile Obmann des Ausschusses für Kultur und Medien im Bundestag und ordentliches Mitglied des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung sowie des Ausschusses für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages hat diese Diskursstrategie bereits am 25. Mai 2016 klipp und klar im Interview mit der ZEIT erklärt.[7] Doch schon am 14. Januar 2016 hatte Jörg Scheller in der Printausgabe der Zeit darauf hingewiesen, dass der „AfD-Landesparteitag Baden-Württembergs die Gleichstellung der Geschlechter (unter seiner Federführung) mit der Begründung (ablehnte), man wisse sich dabei "mit den ethischen Grundsätzen der großen Weltreligionen einig"“.[8] Es gab, und das sollte nicht vergessen werden, für die katholischen Funktionäre geschlechtspolitisch eine gewisse Vorlaufzeit zur Erklärung vom 23. Mai 2016.

 

Marc Jongen wird als Parteiideologe von den Medien und der politischen Öffentlichkeit weniger wahrgenommen als die theatralen Parteivorsitzenden Alice Weidel und Alexander Gauland sowie Beatrix von Storch, weil der flüchtige Diskurs schnell vergisst und/oder verdrängt wird. Die AfD will nicht nur mit schwulen Identitären am CSD teilnehmen, sie will richtige und falsche Lesben wie Schwule selektieren. Deshalb waren die Abstimmung im Deutschen Bundestag am 30. Juni 2017 und Volker Becks juristisches wie politisches Gespür ein uneingeschränkter Glücksfall. – Er wäre heute nicht mehr möglich! Die „bürgerliche() Vernunft“[9] feiert unterdessen mit der Re-Installation von innereuropäischen Grenzen insbesondere in Deutschland mit den meisten europäischen Nachbarländern fröhliche Urständ. Die Re-Installation von Grenzen, Geschlechtern und Kategorien geschieht aktuell mit atemberaubender Schnelligkeit aus einer vermeintlich politisch notwendigen Pragmatik.

 

Weniger kontrovers verlief Christiane Härdels Vorstellung der Queer Lecture von Rainer Herrn zu Abbildungspraktiken in der ersten Transvestitenzeitschrift »Das 3. Geschlecht«, die wie fünf weitere Lectures im Jahrbuch Sexualitäten 2018 abgedruckt ist. Rainer Herrn ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin. Er hat im Forschungsprojekt Kulturen des Wahnsinns mitgearbeitet, über dessen Abschlussveranstaltung auf dem RAW-Gelände NIGHT OUT @ BERLIN 2015 berichtete.[10] Mit seinem Aufsatz eröffnet Herrn nun ein relativ neues Forschungsfeld, indem er einräumt, dass sich „Historiker_innen Abbildungen“ bedienten, „um maßgebliche Personen, Ereignisse und Dokumente zu illustrieren, und nur selten, um die historischen Abbildungspraktiken zum Gegenstand ihrer Betrachtungen zu machen“.[11] Zeitlich fällt die Veröffentlichung der fünf Hefte der Zeitschrift zwischen 1930-1932 mit Magnus Hirschfelds Sexualwissenschaftlichen Bilderatlas zur Geschlechtskunde von 1930 zusammen, in dem Bilder wie im Medium der Illustrierten fast ohne Text auskommen.[12] 

 

Um 1930 gibt es durchaus verschiedene Abbildungspraktiken, die überhaupt mit der von Magnus Hirschfeld entfalteten Bild-Wissenschaft der Sexualitäten unter dem Motto des Bildatlasses „Bilder sollen bilden. M.H.“ entfaltet werden.[13] Hirschfeld verknüpft insofern mit seiner Geschlechtskunde einen Bildungsauftrag. Das Bildkonzept soll Wissen von der Sexualität und von sich selbst vermitteln. Darauf geht auch Rainer Herrn mit „der besonderen Rolle der Bildlichkeit als konstitutivem Bestandteil einer visuellen Selbstermächtigungs- und -vergewisserungsstrategie der Transvestit_innen“ ein.[14] Die Zeitschrift stellt nach Herrn in gewisser Weise einen Sonderfall dar, insofern sie die „Bebilderung“ „Illustriert mit 20 Bildern“ in der ersten Ausgabe bis zu „Illustriert mit 30 Bildern“ selbst steigert, um auf das „Bedürfnis, sich mit den Abgebildeten zu identifizieren, wie es bei“ den Leser_innen „überwiegend der Fall gewesen sein dürfte“, einzugehen.[15] Die Verschränkung von Bild- und Selbstfindung machte insoweit den Zug der Zeitschrift aus.

 

Der Bilderaustausch und die „Bildwanderungen“ spielten nach Herrn offenbar eine wichtige Rolle für die Zeitschrift. Denn häufig wurden von Leser_innen „Privatbilder() zur Veröffentlichung“ eingesandt.[16] Es entstehen dabei offenbar Wechselwirkungen zwischen angeschauten und den von sich selbst gemachten Bildern, die in der Zeitschrift abgebildet gewünscht werden. Andererseits ergeben sich in den von Friedrich Radszuweit verlegten und herausgegebenen Illustrierten nach Herrn auch Probleme der „Grenzziehung“ und kategorischen Zuordnung von Bildern, was deren Abbildungsversprechen auch fragwürdig werden lässt: 

Auch die Bildwanderungen zwischen Homosexuellen- und Transvestititen-Zeitschriften aus dem selben Verlag, die mit entsprechenden Umetikettierungen der Fotos einhergingen, verweisen auf eine gewisse Durchlässigkeit der Grenzziehungen zwischen Minderheiten. Andererseits bestand die Redaktion von »Das 3. Geschlecht« vornehmlich aus Homosexuellen, die die Bilder auswählten, bearbeiteten und mit Bildunterschriften versahen und damit über die Inszenierungen der heterosexuellen transvestitischen Leserschaft urteilten.[17]  

 

Die Vielfalt der theoretischen und methodologischen Ansätze im Jahrbuch Sexualitäten ist groß, was durchaus Anlass für den einen oder anderen Dissens gibt. Beispielsweise könnte und müsste man fragen, ob es in der Sexualität und Ausübung von geschlechtlichen Praktiken überhaupt „Minderheiten“ im Unterschied zu einer Mehrheit geben kann. Interessant wird die geschlechtliche Praxis doch gerade an dem Punkt, wenn Transvestiten nicht zugleich Sex mit Männern praktizieren, was übrigens einen Wink auf die illustrierte autobiographische Erzählung My Life von Jessica Lynn im Jahrbuch gibt.[18] Geschlechtskörper und Geschlechtspraktiken können in unendlichen Variationen auseinanderfallen und umspielt werden. Doch das ist vor allem eine Frage der öffentlichen Diskurse, gesellschaftlichen Normen und der Rechtsprechung, die Hans Giese noch nicht als eine freie genießen durfte. Den diskurskritisch-biographisch angelegten Artikel Sexualwissenschaft als Lebenswerk. Zur Biografie Hans Gieses (1920-1970) von Moritz Liebeknecht stellte Raimund Wolfert vor.

 

Hans Giese belebte nicht nur die Sexualwissenschaft nach 1949 in der Bundesrepublik Deutschland wieder, er war auch wissenschaftlicher Berater des Remakes von Anders als die Andern (1919), dem ersten Film zur Homosexualität und gegen den § 175 StGB, eine Art Dokudrama, an dem Magnus Hirschfeld beratend mitgewirkt hatte. Das Remake kam 1957 unter dem leicht verschobenen Titel Anders als du und ich (§ 175) in der Regie von Veit Harlan in die bundesdeutsche Kinolandschaft, um zensiert und verschnitten auf fatale Weise Handlungsmuster im Umgang mit vor allem homosexuellen Söhnen für die nächsten Jahrzehnte bis in die 80er Jahre zu prägen.[19] Der Film war ausgerechnet von dem nationalsozialistischen Starregisseur Veit Harlan mit Beratung durch den 37jährigen Hans Giese gedreht und konzeptualisiert worden, um im öffentlichen Diskurs wahlweise als Anbiederung an die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen oder als Bestätigung des verbrecherischen Paragraphen wahrgenommen zu werden. Liebeknecht weist denn auch auf die ambivalente Rolle Gieses in der Sexualwissenschaft hin: 

Während er einerseits als zutiefst konservativer Akteur beschrieben worden ist, der durch seine Arbeit das System überkommener Moral- und Wertvorstellungen in der Bundesrepublik der 1950er Jahre gestützt habe, wurde er andererseits als homosexueller Aktivist dargestellt, der sein reformerisches Wirken unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit zu verbergen suchte.[20]    

 

Liebeknecht behandelt u.a. die „Institutionalisierung der Sexualwissenschaft in den 1950er und 1960er Jahren“, indem er die sexualpolitische Diskussion um den § 175 und Gieses Haltung zu rekonstruieren versucht.[21] Es ist schon ein wenig überraschend, dass in dem Abschnitt der ambige Spielfilm Anders als du und ich keine Erwähnung findet. Ist es doch gerade dieser wirkmächtige und umstrittene Film, der das Klischee der Verführung zur Homosexualität durch einen Künstler als Versagen der Aufsichtspflicht der Mutter inszeniert, um so überhaupt einen Schutz vor Homosexualität zu begründen. Anders als die Andern hatte 1919 dagegen die gesellschaftliche Diskriminierung und Erpressbarkeit von Homosexuellen in den Vordergrund gerückt. Die historische Dimension der Homosexualität wird im Jahrbuch dem Liebeknechts folgend von Götz Wienold mit dem Essay Der Junge mit dem dunklen Teint oder: Fünfmal »Ich bin homosexuell« 1947 bis 1969 autobiografisch-linguistisch entfaltet.[22]   

 

An fünf datierbaren Szenen als „Gegebenheiten“ spielt Götz Wienold Erinnerungen durch, wie er gelernt hat, »Ich bin homosexuell« zu sagen.[23] Die Dramatik dieser Formulierung wird gerade in den Kinos mit dem Film Love, Simon (2018) als Coming-of-age-Drama für die USA, Hollywood und dann wohl doch noch die westliche Welt inszeniert.[24] Ein unterhaltsamer Highschool-Film für Teenager, in dem vor allem die Sprache im digitalen Medium E-Mail die entscheidende Rolle spielt. Indem Simon eine E-Mail-Korrespondenz mit Blue führt, der sich unter Pseudonym im Internetforum der Highschool als „gay“ geoutet hat, verliebt er sich in den imaginären Leidensgenossen, stellt sich verschiedene gleichaltrige Jungs als Blue vor und erklärt sich schließlich vor den Freund*innen, der Familie und der ganzen Schule als »Ich bin homosexuell« bzw. „gay“. Man mag den ziemlich mainstreamigen Film in vielerlei Hinsicht kritisieren, sehr treffend wird allerdings die sprachliche Verfertigung des homosexuellen Ich von Regisseur Greg Berlanti, der mit ehemaligen Fußballspieler Robbie Rogers seit 2017 verheiratet ist, inszeniert, als hätte er Wienold gelesen. Robbie Rogers sagte erst kurz vor seinem Karriereende als Fußballspieler 2017, dass er homosexuell ist. 

»Ich« zu sagen, ist auch etwas, das wir lernen, wenn wir sprechen lernen, und das uns einiges auferlegt, und Sprachen verfahren auch in diesem Punkt nicht alle gleich. Leserinnen und Leser wissen schon, ich bin ein Mann, ich schreibe als Mann.[25]     

 

Wienolds Confessions linguistiques rücken einerseits in Erinnerung, wie schwer oder geradezu unmöglich es zu bestimmten Zeiten war, »Ich bin homosexuell« zu sagen. Um 1950 hätten ihn „André Gide und seine Bücher“ geholfen, „ohne André Gide“ hätte er „nicht überlebt“. Doch es gilt eben auch heute noch für jeden Einzelnen und jede Einzelne sich einer bestimmten Kategorie zu unterwerfen, wenn man wie Simon durch Verrat gezwungen wird, »Ich bin homosexuell« zu sagen. Es geht um einen Akt der Unterwerfung des Ich in eine sprachliche Zuschreibung oder Kategorie. Das wird selbst oder gerade an dem hollywoodhaften Teenager-Film Love, Simon deutlich. Simon spielt im Film scherzhaft durch, wie es wäre, wenn Teenager ihren Eltern sagen müssten, dass sie heterosexuell sind. Es geht immer wieder und vor allem um die Aussage des Ich. Daran hat sich trotz und alledem nichts geändert. Auch in Zeiten des Smartphones und der Internetforen nicht. Die Aussage folgt immer der Logik der Konfession als einem Geständnis vielleicht nicht mehr der Sünde oder eines Verbrechens, sehr wohl aber der Unterwerfung unter die sprachliche Ordnung. Götz Wienold zitiert dafür Jean-Paul Sartres Roman Zeit der Reife, der 1949 in Deutsch erschien, Karl Mays Ich, aus Karl Mays Nachlass ca. 1931, Walt Whitmans Leaves and Grasses (1860), André Gides Acquasanta und Briefe sowie die Entdeckung der Linguistik, „denn Linguistik liegt quer – im nicht anrüchigen Sinn mit nur einem e – zur traditionellen Fächerstruktur der Philosophischen Fakultäten“.[26]  

 

Warum sollte queer anrüchig sein? Wer oder was macht queer anrüchig? Der öffentliche Diskurs? Darüber wäre noch einmal zu sprechen. Vielleicht ist Götz Wienold an dieser Stelle als mutiger und innovativer Linguistik doch noch ein wenig in der Sprache und ihrem Gebrauch gefangen, obwohl er sich mit der Verteidigung seiner Habilitation zu Patricia Highsmiths The Talented Mr. Ripley auf linguistisch-akademische Weise emanzipiert hat. Zu jener Zeit, erinnert Wienold, bestimmte noch ein Literaturbegriff den wissenschaftlichen Diskurs, der den linguistischen Begriff Text nicht kannte. Konfessionen sind eben immer sowohl identitätsstiftendes Bekenntnis als auch schuldhaftes Geständnis, obwohl die letztere Bedeutungsebene im Deutschen fast verschwunden ist. Doch die Linguistik kann auch queer sein, weil sie vor allem sprachliche Prozesse, Mehr- und Doppeldeutigkeiten thematisieren und aufdecken hilft. Nicht zuletzt spielt die Linguistik zumindest eine diskrete Rolle für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum „dritten Geschlecht“, die Konstanze Plett im Jahrbuch thematisiert und die Lily Kreuzer vorstellte.

 

 

Wienolds linguistische Autobiographie spielt nicht zuletzt für die Frage nach der Identität eine wichtige Rolle. Ist die Identität im vorsprachlichen Begehren angelegt oder muss sie sprachlich in einer Kategorie artikuliert werden? Bei Götz Wienold wie beim Filmteenager Simon geht es mit der Aussage »Ich bin homosexuell«, um die auch fremde Identität als Homosexueller, die gar nicht so recht zum Ich passen will. Soll Simon sich jetzt schwul kleiden? Kleidung, Aussehen und Performance stellten dann allererst Identität her. Katharina Oguntoye stellte Timo Lehmanns Jahrbuch-Beitrag James Baldwin jenseits der Identitäten vor und unterstrich, wie wichtig für sie James Baldwin identitätspolitisch gewesen sei. In seinem Gespräch mit Jan Feddersen spricht Martin Danneker dagegen sehr streitbar über Queer Theory, die schon deshalb nicht „anrüchig“ sein kann, weil es nach Dannecker „kein queeres Begehren“ geben kann. 

Das Begehren käme in die Irre. Wenn es dort Begehren gäbe, wäre es ein Begehren ohne Körper. Wenn das Begehren sich nicht an körperlichen Repräsentanzen festmachen würde, hätten wir ein Begehren, was gleichsam wie die Liebe zur Literatur ist. Man sich einem Buch hingeben, sich von ihm abwenden, ein neues Buch nehmen und kann sich intensiv darauf einlassen. Die Tatsache, dass man als schwuler Mann mit einem weitgehend festgelegten Begehren in die ödipale und adoleszente Welt eintritt und diese Festgelegtheit auch noch als sexuell befriedigend erlebt wird, ist eine fortlaufende Wiederlegung der queeren Utopie.[27]   

 

Es ist ganz unzweifelhaft, dass es in der Sexualwissenschaft als Disziplin das Begehren geben muss. Das Begehren ist der Dreh- und Angelpunkt der Wissenschaft von der Sexualität und ihrer Begründungszusammenhänge. Und weil ein „schwuler Mann mit einem weitgehend festgelegten Begehren in die ödipale und adoleszente Welt eintritt und diese Festgelegtheit auch noch als sexuell befriedigend erlebt wird“, könnten wir die ganze sprachliche und praktische Ausgestaltung dieses Begehrens in ihrer Vielfalt vergessen. Mit der „Festgelegtheit“ wird allerdings auch eine deterministische Komponente der Sexualwissenschaft angesprochen. Gegen diesen diskreten Determinismus arbeitet die Queer Theory, weil sie sich eben nicht auf eine derartige Wissensformation festlegen lassen will. Darin hat die Queer Theory nach wie vor ihren Ursprung: Vielleicht lässt es sich so formulieren: die Queer Theory verbietet kein Begehren, sie wendet sich gegen einen genetischen, physio- und/oder psychologischen Determinismus. Und das geht nur über die Befragung der Sprache und Bilder.

 

Es spricht für die Vielfalt des Jahrbuch Sexualitäten, dass es nicht nur Kontroversen durch unterschiedliche Methoden zulässt, sondern provoziert. Martin Danneckers Verdienste und sein Lebenswerk im Einsatz für die Abschaffung des § 175 StGB und für die Regulierung der politischen Maßnahmen durch „Aufklärung statt Einschüchterung“[28] Anfang der 80er Jahre sind nicht hoch genug einzuschätzen. Martin Dannecker hat wenigstens die Schwulen vor der Internierung durch den CSU-Politiker Peter Gauweiler mitgerettet. Das darf nie vergessen werden. Die CSU war und ist eine politische Bewegung der Ausgrenzungen, Grenzziehungen und Internierungen. Jan Feddersen erinnert im Gespräch mit Martin Dannecker an seine Verdienste seiner Sexualwissenschaft zu einer Zeit, als die Queer Theory nicht zuletzt als Kritik an Wissens- und Wissenschaftsmodellen in Zeiten von HIV/AIDS am Entstehen war.

 

Die Kurzvorstellungen der Release Party im taz.café können hier noch nicht einmal vollständig referiert werden. Ebenso wie vielleicht niemand das ganz Jahrbuch Sexualitäten 2018 von der ersten bis zu letzten Seite lesen wird. Zwar ist dem wissenschaftlichen Jahrbuch die Geste eigen, ein zumindest ansatzweises Wissen oder einen Stand der Wissenschaft in einer Disziplin zu präsentieren oder gar zu repräsentieren. Doch das Jahrbuch Sexualitäten hat mit seinen Abschnitten Editorial, Essay, Queer Lectures, Im Gespräch, Miniaturen und Rezensionen vor allem eine einladende und oft auch unterhaltende Vielfalt für jede einzelne Leser*in ihres Geschlechts zu bieten. 

 

Torsten Flüh  

Jahrbuch 

Sexualitäten 2018  

Hg. im Auftrag der Initiative Queer Nations von Janin Afken, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf 

Reihe: Jahrbuch Sexualitäten 

Jahrgang 2018 

€ 34,90 (D) | € 35,90 (A) 

Alle Preise inkl. MwSt zzgl. Versandkosten 

lieferbar, 331 S., 52 Abb., geb., Schutzumschlag, 15,0 x 22,3 

ISBN: 978-3-8353-3293-5 (2018)

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[1] Jan Feddersen: (K)ein Glücksfall. Die Eroberung des heterosexuellen Kerngehäuses: die Ehe für alle und ihre Durchsetzung in Deutschland. In: Janin Afken, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen, Benedikt Wolf: Jahrbuch Sexualitäten 2018. Göttingen: Wallstein, 2018, S. 15.

[2] Redaktion kreuz-und-quer.de: UNGLEICHES UNGLEICH BEHANDELN – ZUR EHE UND GLEICHGESCHLECHTLICHEN PARTNERSCHAFTEN. In: kreuz-und-quer.de 23. Mai 2016.

[3] Es wird hier die aktuelle Definition des Begriffs im (Google-)Wörterbuch zitiert. Auf de.wikipedia.org wird aktuell der Begriff Geschlecht diskutiert: „Diese Seite wird derzeit im Sinne der Richtlinien für Begriffsklärungen auf der Diskussionsseite des Wikiprojektes Begriffsklärungsseiten diskutiert. Hilf mit, die Mängel zu beseitigen, und beteilige dich an der Diskussion!“ Dies weist nicht nur daraufhin, dass der Gebrauch des Begriffes in seiner binären Anordnung wie im Google-Wörterbuch fragwürdig geworden ist, nachdem das Bundesverfassungsgericht am 10. Oktober 2017 den Gesetzgeber aufgefordert hat, bis Ende 2018 das „Personenstandrecht (…) weiteren positiven Geschlechtseintrag zulassen (muss)“. Beschluss vom 10. Oktober 2017.

[4] Robert Tobin: Bildung und Sexuality in the Age of Goethe. In: E. L. McCallum (ed.): The Cambridge History of Gay and Lesbian Literature. Cambridge: University Press, 2014, S. 257.

[5] PRESSEINFORMATION: FC Bayern eröffnet China-Büro in Shanghai. Erstellt am 22.03.2017 um 10:00 Uhr von Redaktion.

[6] Jan Feddersen: (K)ein … [wie Anm. 1] S. 27.

[7] Vgl. insbesondere zu Marc Jongen: Torsten Flüh: Das Nachleben der Diskursfriedhöfe. Falk Richters Fear an der Schaubühne am Lehniner Platz. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. Mai 2016 18:48. 

[8] Jörg Scheller: Wenn die stolzen Geister denken. In: Die Zeit 28. Januar 2016, 4:38 Uhr.

[9] Jan Feddersen: (K)ein … [wie Anm. 1] S. 27.

[10] Siehe Torsten Flüh: Wahnsinn mit Methode. Zur Abschlussveranstaltung Kulturen des Wahnsinns im Abulatorium. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Juli 2015 21:31.

[11] Rainer Herrn: Abbildungspraktiken in der ersten Transvestitenzeitschrift »Das 3. Geschlecht«. In: Jahrbuch … [wie Anm. 1] S. 57.

[12] Zu Magnus Hirschfeldts Sexualwissenschaftlicher Bildatlas zur Geschlechtskunde siehe: Torsten Flüh: Zu Magnus Hirschfelds Bilderatlas. Aus Anlass der Spendengala Marlene für Magnus – DenkMal für Hirschfeld und die ersten Hirschfeld-Tage. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Mai 2012 22:51.

[13] Zum Bildungskonzept und zur Bildpraxis von Hirschfelds Bildatlas siehe: Torsten Flüh: Gefeierte Enden der Sexualwissenschaft. Zum Festakt für Magnus Hirschfelds 150. Geburtstag im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Mai 2018 16:46.

[14] Rainer Herrn: Abbildungspraktiken … [wie Anm. 11] S. 58.

[15] Ebenda S. 61.

[16] Ebenda S. 84.

[17] Ebenda S. 85.

[18] Jessica Lynn: My Life. In: Jahrbuch … [wie Anm. 1] S. 272-277.

[19] Vgl. dazu das sexuell Unheimliche der Orgel in der „Verführungsszene“ von Anders als du und ich: Torsten Flüh: Der Orgel verschrieben. Cameron Carpenter an der renovierten Karl-Schuke-Orgel. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Oktober 2012 17:28.

[20] Moritz Liebeknecht: Sexualwissenschaft als Lebenswerk. Zur Biografie Hans Gieses (1920-1970). In: Jahrbuch … [wie Anm. 1] S. 112-113.

[21] Ebenda S. 125-130.

[22] Götz Wienold: Der Junge mit dem dunklen Teint oder: Fünfmal »Ich bin homosexuell« 1947 bis 1969. In: Jahrbuch … [wie Anm. 1] S. 133-156.

[23] Ebenda S. 134.

[24] Love, Simon (2018) Erscheinungsdatum: 28. Juni 2018 (Deutschland), Regisseur: Greg Berlanti, Kamera: John Guleserian, Cutter: Harry Jierjian, Executive Producer: Timothy M. Bourne, Musik komponiert von: Rob Simonsen. (Der Original-Trailer fällt definitiv besser aus als der deutsche.)

[25] Götz Wienold: Der … [Anm. 22] S. 134.

[26] Ebenda S. 152.

[27] Jan Feddersen/Martin Dannecker: »Es gibt kein queeres Begehren« In: Jahrbuch … [wie Anm. 1] S. 185.

[28] Ebenda S. 177.

Ehre und Erotik verdinglicht - Zur Sonderbriefmarke 150. Geburtstag Magnus Hirschfeld und der Ausstellung Erotik der Dinge

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Briefmarke – Erotik – Liebesdinge

 

Ehre und Erotik verdinglicht 

Zur Sonderbriefmarke 150. Geburtstag Magnus Hirschfeld und der Ausstellung Erotik der Dinge 

 

Auf dem Festakt in der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum überreichte die Staatssekretärin beim Bundesminister der Finanzen Christine Lambrecht am Donnerstag offiziell das am 12. Juli 2018 herausgegebene Sonderpostwertzeichen150. Geburtstag Magnus Hirschfeld in einer queeren Zeremonie an Dr. Daniel Baranowski von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld und Ralf Dose von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e. V. 1968 zum 100. Geburtstag von Dr. Magnus Hirschfeld wäre eine derartige staatlich-finanzministerielle Ehrung noch völlig undenkbar gewesen. Quasi gerahmt von der Serie „Deutschlands schönste Panoramen“: Gartenreich Dessau-Wörlitz und 100. Geburtstag Nelson Mandela (Gemeinschaftsmarke mit Südafrika) ist nun zumindest der Name Magnus Hirschfeld mit seinen Lebensdaten 1868-1835 und den astronomisch-geschlechtlichen Symbolen für Venus und Mars bzw. Frau und Mann auf der Sonderbriefmarke in einer Auflage von 4,2 Millionen Stück erschienen.

 

Das „nassklebende Sonderpostwertzeichen“ sollte nicht unterschätzt werden, zumal es einst in die Liebesdinge verwickelt war. Unzählige erotische Abenteuer begannen einmal damit, dass eine „Briefmarkensammlung“ zuhause gezeigt werden sollte. Zur Überreichung der Sonderbriefmarke waren zahlreiche Vertreter*innen aus Gesellschaft wie Politik unter ihnen Rabbiner Walter Homolka, Lily Kreuzer, Prof. Dr. Andreas Krass, Jan Feddersen, Manuela Kay erschienen. Die Briefmarke ist vielleicht kein liebesmittel wie sie Magnus Hirschfeld im Institut für Sexualwissenschaft in Berlin im vornehmen Stadtteil Tiergarten zu Studienzwecken sammelte und 1930 zusammen mit Richard Linsert im Berliner Man Verlag als Buch mit „zahlreiche(n) Bilder(n) aus den einzigartigen Sammlungen des Instituts für Sexualwissenschaft“ veröffentlichte. Doch Briefmarken waren oft in Verführungskünste verwickelt. Das seltene Hirschfeld-Buch liebesmittel lässt sich indessen noch bis 1. Oktober 2018 im Museum der Dinge in der Ausstellung Erotik der Dinge – Sammlungen zur Geschichte der Sexualität bestaunen.  

  
© BMH/Benjamin Hauf

Man muss die liebesmittel als solche auch sehen können! Als Mittel und Mittler sind sie medial verschränkt. Das hat mit der Erotik zu tun und einem besonderen Wissen um die Praktiken, in die die Dinge zur Stimulation verwendet werden. Man kann dabei an eine Formulierung der Schriftstellerin Gertrude Steins erinnern: „A rose is a rose is a rose“[1] Eine Briefmarke ist eine Briefmarke ist eine … Ein Turnschuh ist ein Turnschuh ist ein … Ein Kronleuchter ist ein Kronleuchter ist ein … Bleiben wir zunächst bei der Briefmarke und der Frage: „Willst Du meine Briefmarkensammlung sehen?“ Mathias Ottmann nannte sie noch 2017 den „entscheidenden Wendepunkt bei einem Date“.[2]– Dass ein hirschfeldsches Liebesmittel auf einer Sonderbriefmarke aus dem dafür zuständigen Bundesministerium der Finanzen abgebildet werden könnte, erscheint völlig undenkbar. Doch werden Briefmarken, zumindest die nassklebenden seit Generationen oft mit der Zunge geleckt, wie es sich die meisten Geliebten verbitten würden. Also lässt sich die Briefmarke doch in erotische Praktiken verwickeln.


© BMH/Benjamin Hauf 

Sprachliche Verknüpfungen und Praktiken sind für die Erotik der Dinge wichtig. Man kann eine nassklebende Briefmarke recht genüsslich lecken, bevor sie auf den Briefumschlag oder eine Postkarte etc. geklebt wird. Noch 2001 soll die Royal Mail ihrer Majestät der Königin von England erklärt haben, dass man „etwa 5,9 Kalorien zu sich“ nehme beim Lecken einer Briefmarke. Die königlich britische Post wies darauf hin, dass der „Briefmarkenrücken“ Zucker enthalte.[3] Lieben Kinder heute noch das Briefmarkenlecken? Machen es Sekretäre und Sekretärinnen noch? Das hat es zumindest früher gegeben. Die gummierte Rückseite bespucken, war eigentlich immer etwas schnöde und gefährlich. Es konnte 'was danebengehen. Die Erotik der Dinge und selbst der Briefmarke beginnt vielleicht mit der ersten nassklebenden Briefmarke.


Scan T.F. 

Magnus Hirschfeld hat es nicht als Portrait auf die Briefmarke geschafft. Das hat etwas mit dem „Programmbeirat“ und dem „Kunstbeirat“ im Bundesfinanzministerium zu tun. „Früher entschieden die Landesfürsten allein darüber, was auf einer Briefmarke zu sehen ist. Heute kann jeder Themen vorschlagen“, heißt es zur Entstehung eines Briefmarkenmotivs.[4] Eine Briefmarke ist eine ernste Angelegenheit. Gar die des Souveräns. In einer Demokratie ist dies das Volk bzw. dessen gewählte Vertreter. Vielleicht hätte ein Portrait doch zu viel Ehre bedeutet. Wie gut, dass es noch Sonderstempel(!) gibt. Die Post ist zwar privatisiert und hat ihren Konzernsitz in Bonn, doch sie kooperiert mit dem Ministerium in Berlin unter der Postleitzahl 10117. So wurde ein Dissens um das zwar zweigeschlechtliche Postwertzeichen, das wenigstens mit den Farben der queeren Regenbogenfahne verrutscht scheint, zumindest mit einem Sonderstempel des Ministeriums in vier Geschlechtskombinationen am „Erstausgabetag“ gestempelt und beglaubigt. Der Post-Konzern steuerte vom Sitz in 53113 Bonn einen Sonderstempel mit Portrait bei.


Scan T.F. 

Der Bundesminister der Finanzen Olaf Scholz hat im Juli 2018 die Festausgabe der Sonderbriefmarke mit Sonderstempeln schwungvoll abgezeichnet. Das darf nicht unterschätzt werden. Die Staatssekretärin Christine Lambrecht versicherte beim Festakt, dass mit Andrea Voß-Acker, Wuppertal, eine versierte und hochangesehene Gestalterin von Postwertzeichen durch den Kunstbeirat ausgewählt worden sei. Wahrscheinlich muss man sich die Zusammensetzung des Kunstbeirats gar so vorstellen, dass die im Bundestag vertretenen Parteien inklusive CSU und AfD sowie die Evangelische und die Katholische Kirche ein Mitspracherecht haben. Da wird dann einiges gegen ein Portrait gesprochen haben, zumal Magnus Hirschfeld zwischen 1918 und 1928 wenigstens an 4, sagen wir sexualhygienisch-volksaufklärerischen Filmen des Berliner Filmregisseurs Richard Oswald beratend beteiligt war: Sündige Mütter (§ 218 StGB - Abtreibung), 1918, Anders als die Andern (§ 175 StGB – Homosexualität), 1918/1919, Das gelbe Haus/Die Prostitution/Im Sumpf der Großstadt (§ 184 StGB etc.), 1919, Geschlecht in Fesseln. Die Sexualnot der Strafgefangenen.[5] 

Magnus Hirschfeld galt nicht nur als Experte für Varianten der geschlechtlichen Neigung und Betätigung, vielmehr wird er um 1918 besonders populär, weil die Hygiene und Gesundheit der Bevölkerung durch Sexualverkehr am Ende des Ersten Weltkriegs schwer belastet war. Geschlechtskrankheiten und ungewollte Schwangerschaften entzogen sich weitgehend der Kontrolle im Krieg und in den industriellen Zentren. Penicillin oder andere Medikamente gegen Krankheiten gab es nicht, Verhütungsmittel oder gar die Pille waren kaum oder gar nicht vorhanden. Abtreibungen wurden illegal unter mangelnden hygienischen Verhältnissen vorgenommen. Gleichzeitig hielt aber vor allem die Katholische Kirche an ihrem Sittenkodex zur Sexualität fest, wie er jüngst erst in der Republik Irland gesetzlich geändert wurde. Magnus Hirschfeld sah in seinen Liebesmitteln nicht nur einen erotischen Aspekt, sondern auch einen hygienischen, der sich heute kaum noch vorstellen lässt. Insofern überschneiden sich in der Sammlung ein historischer und ein hygienischer Wissensaspekt. In der wissenschaftlichen Begründung von Daniel Baranowski heißt es: 

Magnus Hirschfeld war Arzt, Jude, Sozialdemokrat und schwul. Er kämpfte zeit seines Lebens gegen die rechtliche und soziale Ungleichstellung der Homosexuellen, forschte zur Vielfalt von Sexualität und Geschlecht und war einer der Hauptinitiatoren der ersten homosexuellen Emanzipationsbewegungen der Welt. 

 

Die AusstellungErotik der Dinge ist ein Gemeinschaftsprojekt der Forschungsstelle Kulturgeschichte der Sexualität der Humboldt-Universität zu Berlin mit dem Werkbundarchiv – Museum der Dinge in Kooperation mit dem Kinsey Institute und dem World Erotic Art Museum. Sie ist das erste in einer Reihe von kooperativen Forschungs- und Ausstellungsprojekten, welche die Forschungsstelle unter der Leitung von Prof. Dr. Andreas Krass mit der Sammlung des von Naomi Wilzig gegründeten World Erotic Art Museum in Miami durchführt. Erotisieren und/oder fetischisieren lassen sich vermutlich die meisten Dinge des Lebens. Oft findet die „Erotisierung von Dingen als kulturelle Praxis“[6] in einer Kombination mit Erzählungen wie in der vom Kronleuchter statt: 

»Schon in meiner frühesten Kindheit,« schreibt sie mir, »gab ich mich den Wonnen des Kristalls hin. (…) 

An einem Kronleuchter mit Kristallprismen versenkte ich mich immer wieder in die Brechungen des Lichts und ließ mich von dem Farbenspiel betören. – 

Ich studierte den Kronleuchter während der verschiedenen Beleuchtungen des Tages; ich wußte, wann die Sonne sich darin fangen würde, und ich unterließ es nie, um die Stunde meinen Besuch bei ihm zu machen. Das strahlende Licht, was zu allen Seiten sprühte, bereitete mir einen außerordentlichen Genuß – es war, als wenn es wie feiner Goldstaub durch mein Blut sickerte -, ich fühlte es heiß durch meinen ganzen Körper rieseln bis zur Ermattung.«[7] 

 

Der Verknüpfung der Kindheit, wie in dem nach Magnus Hirschfeld in der Ausstellung zitierten Text, mit einer wiederholt ausgeübten Praxis und einem Versenken, Studieren, Wissen und Vergessen des Ichs lassen sich anscheinend in die entlegensten Bereiche übertragen. In der Ausstellung werden nicht nur im Eingangsbereich unter Glashauben auch witzige Souvenirs wie Miniaturplastiken der nackten Meerjungfrau im Hafen von Kopenhagen, des Heiligen Sebastian, des David von Michelangelo in Florenz oder der steinzeitlichen Venus von Willendorf gezeigt, vielmehr werden im Durchgang auch naturkundliche Mineraliensammlungen in zufällig dem weiblichen oder männlichen Geschlechtsteil ähnlichen Ausformungen in Schauschränken ausgestellt, die sich fast übersehen lassen. Über die Wahrnehmung einer Ähnlichkeit lassen sich in Steinspalten Vulven oder in Kristallanhäufungen Penisse erkennen. Die Natur gibt sozusagen geschlechtliche Zeichen. 

Die Form der Dinge, deren Körperähnlichkeit und die Phantasie, sie zu berühren, tragen entscheidend zur erotischen Wirkung von Dingen bei, ob es sich um Naturobjekte oder Artefakte handelt. Die Gestaltung von Alltagsobjekten greift dabei oft – bewusst oder unbewusst – auf primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale zurück. Das taktile Versprechen bestimmter Materialarten wie Leder, Seide, Fell, Lack, Latex, Nylon und Metall scheint eine besondere Anziehungskraft auszuüben. Fragen zur Erotik im Material werden im interaktiven »sensing materials lab« nachgegangen, das über die Ausstellungszeit wächst.[8]

 

Sinn wird in Sinnlichkeit mit der Erotik der Dinge in hölzernen Wäscheklammern, einem Montageschlüssel, Sisalleinen oder einem Reibebrett für das Glätten und Abreiben frisch aufgebrachten Putzes umgewandelt. Die Zweckentfremdung von Dingen durch oft höchst individuelle Praktiken sorgt für ein erotisches Moment, das anderen völlig verborgen bleibt. Ein Klassiker darunter ist die Aubergine oder Egg Plant, die schon Robert Mapplethorpe so fotografiert hat, dass deren fotographische Abbildungen unter Pornographie-Verdacht gerieten. Die Umwandlung des Nahrungsmittels in ein sensuelles Penetrationsding ließ den Blick permanent kippen. In der Ausstellung wirkt sie dagegen in einer Vitrine etwas verloren, weil es immer um das mögliche Kippen des Blicks geht.

 

Zwischen Dingen aus dem „Herrenzimmer“ und „Körper-Teile“ wird die Erotik in Vitrinen gebannt. Anfassen lassen sie sich nicht. Die Vitrinen rahmen die Dinge in einer geradezu entsexualisierenden Weise. Trotzdem mag der einen oder anderen Besucher*in der Besuch der Ausstellung peinlich werden. Das kann man nicht so genau wissen. Vor den „sexuellen Inhalten“ wird am Eingang zum Ausstellungsbereich gewarnt. „Bitte beachten Sie, dass in der Ausstellung Erotik der Dinge sexuelle Inhalte zu sehen sind. Es steht deshalb im Ermessen der Besucher_innen entsprechend damit umzugehen. Kinder sollten von einem Erwachsenen begleitet werden.“ Das Schild markiert die Grenze des Imaginären. Denn die naturkundlichen Mineralien sind noch vor dem Schild platziert. Dahinter wird es sexuell und/oder wissenschaftlich.

 

Die Tischvitrine– „Visuelles Erscheinungsbild und Ausstellungsgrafik: Rose Apple, Wolfgang Schneider“ – nutzte schon Magnus Hirschfeld in seinem Institut für Sexualwissenschaft. Tischvitrine, Schautafel oder Bilderatlas[9] lassen sich als visuelle Verfahren der Wissenschaft beschreiben. Sie zeigen und ordnen die Dinge, um mit Texttafeln oder Listen zu benennen und festzulegen. Oft sind Tischvitrinen von Finger- oder ganzen Handabdrücken gezeichnet, als müssten sich die Ausstellungsbesucher gegenüber dem Ding auf Distanz halten und/oder wollten sie dieses unbedingt berühren. Das hat vermutlich mehr mit den Methoden der Wissenschaft als mit dem „sexuellen Inhalten“ zu tun. Wie sich bereits bei der Verwissenschaftlichung der Schriften Johann Joachim Winckelmanns beobachten ließ[10], verdrängt die Wissenschaft zugleich das Wissen um den sexuellen Genuss und macht diesen unablässig zum Gegenstand des Wissens.     

 

Magnus Hirschfelds liebesmittel, die neben der „Klassifizierung des Sex“ durch Alfred C. Kinsey und dem World Erotic Art Museum von Naomi Wilzig den Ausgangspunkt für die Ausstellung bilden, wurden 1930 mit einem starken Wissensgestus in typologischem Fettdruck auf dem Schutzumschlag veröffentlicht. Gerade, was heikel und peinlich bei den „sexuellen Inhalten“ werden könnte, wird als reformerisches Anliegen durch „riesige Praxis und Erfahrung“ adressiert. 1930 hat sich ein Erfahrungswissen im Institut akkumuliert, das mit dem der historischen Wissenschaft verknüpft und in Bildern dargestellt werden kann: 

Zahlreiche Bilder aus den einzigartigen Sammlungen des Instituts für Sexualwissenschaft illustrieren dieses kultur- und sittengeschichtlich wertvolle Werk, das unser Wissen um eine bisher kaum behandelte Seite unseres Liebeslebens vertieft, besonders wertvoll durch seinen rücksichtslosen Kampf gegen Geheimmittelschwindel, Aberglauben und Kurpfuscherei.[11]     

 

Doch welche Art von Wissen wird mit Tischvitrinen, Schautafeln und dem Bilderatlas praktiziert? Gewarnt wird vor einem vermeintlich verstörenden, verletzenden Inhalt. Das kann eine Strategie der Ausstellung sein. Kinder könnten – und das dürfte schon passiert sein – völlig unbefangen die Aubergine, die Webarbeiten, die Seile und Körperteile gesehen haben. Soll man als Erwachsener gleich aufschreien und erklären, was nicht gesehen werden darf? Tischvitrinen, Schautafeln und Bilderatlas als Tische wie Tafeln, würde Georges Didi-Huberman sagen, sind wie die Figur des Atlas, die „Gelegenheit zu einem tragischen Wissen darstellte, einem Wissen durch Berührung und durch Schmerz“.[12] Alles, was wir über Sex wissen, beziehen wir von einem „eigenen Unglück“, um Didi-Huberman einmal zu paraphrasieren: 

Ein nahes Wissen, aber gerade deswegen ein unreines Wissen: ein beunruhigendes (savoir inquiet) und sogar »unheilvolles« Wissen …[13] 

 

Mit einem Spint, einer Holzbank und einem Turnpferd wird am anderen Ende der Ausstellung ein Trauma aus dem Schulsport und Fetisch inszeniert. Die Welt der Arbeit, der harten Körperarbeit von Bauarbeitern und Schulsport wird zum erotischen Ding. Zu sehen ist nichts als Dinge, Socken, Turnschuhe bzw. Sneakers etc. Es riecht nicht wie im Umkleideraum oder auf der Baustelle nach Schweiß und Arbeit und Angst. Es riecht nach Ausstellung, sieht aber fast genau so aus wie jene Orte der Disziplinierung und gewiss auch Angst. Über einen Turnbock oder ein Turnpferd möchte man niemals wieder springen müssen, um in Sport keine 5 zu bekommen und nicht in die nächste Klasse versetzt zu werden. Doch wenn das Turnpferd in ein erotisches Ding, in einen Fetisch verwandelt wird, verliert es vielleicht seinen Schrecken. Mit den Worten der Ausstellungsmacher*innen:  

Sexualwissenschaft und Psychoanalyse haben die Erotisierung von Dingen und die Fixierung auf bestimmte Objekte mit dem Begriff des Fetischismus bezeichnet und dieses Verhalten lange Zeit pathologisiert. Hirschfeld sprach hingegen freundlich von erotischen Dingen auch als „Liebesmitteln“. Heutzutage produziert eine ganze Industrie Objekte, die euphemistisch als Spielzeug benannt werden.[14]

 

Der Fetisch ist leer. Das Turnpferd hatte im Schulsport die Funktion der Geschlechtung, Disziplinierung und Kategorisierung von Schüler*innen, die darüber sprangen, und solchen, die es nicht konnten. Warum der Absprung vom Sprungbrett gelang oder nicht gelingen wollte, um über das Turnpferd zu kommen, wurde nie wirklich geklärt. Auch Ängste und ihre Mechanismen wurden nicht aufgeklärt. Es ging nicht darum Ängste, durch den Sprung vom Brett über das Pferd zu überwinden, sondern als unüberwindbare aufzubauen. Das waren die Effekte der Disziplinierung. Es ging um Einteilungen, um Werte und Minderwertigkeiten. Auf diese Weise hat Sigmund Freud den „Penis des Weibes“, die Klitoris vom „Bild des Penis des Mannes“ um der Geschlechtung willen unterschieden. Oder wie Claudia Reiche es in queer plexus – Zu medialen und symbolischen Wandlungen der Klitoris als „Schlussgedanke Freuds“ formuliert hat: 

Vorbild des Fetisch ist der Penis des Weibes. Dieses Vorbild geht meist in das Bild des Penis des Mannes über. Daraufhin gilt die Klitoris als der reale kleine Penis des Weibes und als Bild eines minderwertigen, nämlich kleineren Organs. Jedoch wirkt in diesem Bild das paradoxale Original des weiblichen Phallus weiter.[15] 

 

Claudia Reiche insistiert auf das „Undarstellbare der sexuellen Differenz als Differenz“[16] und gibt damit einen Wink auf das Sexuelle nicht als Wissen, sondern als Differenz. Das Sexuelle oder die Erotik sind den Dingen nicht eigen, vielmehr werden sie durch kulturelle Praktiken erotisch. Physische Handlungen mit den Dingen reichen für die Stimulation nicht, sie müssen vielmehr in einen imaginären Überschuss verwickelt werden. Vielleicht sind es die Dinge aus dem Herrenzimmer, die den Körper fast ausschließlich der Frau als lustvoll genießenden darstellen, um sich von der eigenen phallischen Lust zu überzeugen, sich als Herr über die Lust selbst zu vergewissern. Doch die hirschfeldschen Liebesmittel und das industriell verfertigte Spielzeug queeren auch die Selbstvergewisserung. 

 

Torsten Flüh 

 

Sonderbriefmarke 

150. Geburtstag Magnus Hirschfeld 

Shop der Deutschen Post 

0,70 € 10er Bogen   

 

Erotik der Dinge 

bis 1. Oktober 2018 

Museum der Dinge 

Oranienstraße 25 

10999 Berlin

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[1] Zuerst: Gertrude Stein: Sacred Emily. (1923) In: Geography and Plays. Letters of Note.

[2] Vgl. Mathias Ottmann: Das ist der entscheidende Moment bei einem Date. In: GQ Deutschland 07. September 2017.

[3] Welt: Notiert: Briefmarken-Lecken macht dick. In: Der Tagesspiegel 30.01.2001, 00:00 Uhr.

[4] Siehe: Bundesministerium der Finanzen: Entstehung. 18.09.2014.

[5] Siehe: Richard Oswald: Regisseur und Produzent. Red. Helga Belach u. Wolfgang Jacobsen. München: edition text + kritik, 1990.

[6] Zitiert nach Museum der Dinge: Erotik der Dinge – Sammlungen zur Geschichte der Sexualität. Ausstellungen 2018.

[7] Zitiert nach Ausstellungstext aus Magnus Hirschfeld: liebesmittel. Berlin: Man Verlag, 1930.

[8] Museum der Dinge: Erotik … [wie Anm. 6].

[9] Zum Bilderatlas siehe auch: Torsten Flüh: Gefeierte Enden der Sexualwissenschaft. Zum Festakt für Magnus Hirschfelds 150. Geburtstag im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Mai 2018 16:46.

[10] Vgl. Torsten Flüh: Zur Verfertigung der Wissenschaft mit Briefen. Die Weimarer Ausstellung und der Katalog Winckelmann. Moderne Antike und die aktuelle Winckelmann-Forschung. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. Juli 2017 19:29.

[11] Magnus Hirschfeld: liebesmittel … [wie Anm. 7] Schutzumschlag.

[12] Georges Didi-Huberman: Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft. Paderborn: Wilhelm Fink, 2016, S. 103.

[13] Ebenda.

[14] Museum der Dinge: Erotik … [wie Anm. 6].

[15] Claudia Reiche: queer plexus – Zu medialen und symbolischen Wandlungen der Klitoris. In: Josch Hoenes, Barbara Paul (Hg.): un/verblümt. Queere Politiken in Ästhetik und Theorie. Berlin: Revolver Publishing, 2014, S. 40

[16] Ebenda S. 52.

Kühlendes Kino in der Hitzewelle - Zum Freiluftkino und der restaurierten Fassung von Der Himmel über Berlin

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Berlin – Freiluftkino – Engel

 

Kühlendes Kino in der Hitzewelle 

Zum Freiluftkino und der restaurierten Fassung von Der Himmel über Berlin 

 

Eine der längsten Hitzewellen der letzten Jahrzehnte hat sich über Berlin gelegt. Das hat Vor- und Nachteile. Zu den Vorteilen gehört, dass der Berichterstatter endlich einmal ins Freiluftkino gegangen ist. Das wurde nämlich in den letzten Jahren dadurch verhindert, dass es meistens zu kalt und gar regnerisch war. In diesem Jahr ist es anders. Doch das Freiluftkino-Programm ist nicht immer interessant. Nun wurde im Freiluftkino Friedrichshain die im April angelaufene restaurierte und digitalisierte Fassung von Wim Wenders Meisterwerk Der Himmel über Berlin gezeigt. Das hat zwei Vorteile. Der Film wurde im Winter 1986/87 gedreht, weshalb eine kühlende Szenerie geboten wird. Und Wim Wenders kommt sogar persönlich zu einer kurzen Anmoderation vorbei.

 

Ein Nachteil der Hitzewelle und dem Freiluftkino-Hype sollte allerdings nicht unerwähnt bleiben. Die Mitarbeiter an der Kasse sind auf eine Art ruppig, wie sie sonst eher nicht mehr in Berlin üblich ist. Man denkt sich offenbar, dass man sich das bei einem Hype leisten kann. Vergünstigungen gibt es schon gar nicht, weil das Berliner Wetter wohl sonst auch keine Vergünstigungen für das Freiluftkino bereithält. Lange Schlangen bilden sich, bei denen nicht klar ist, ob man nun in der Ticket- oder der Einlassschlange steht. Natürlich beginnt der Film nicht um 21:30 Uhr, sondern dann laufen erst einmal die Shazam-fähigen Vorfilme. Das heißt, dass die Shazam-App auf dem Smartphone die in den Filmen verwendete Musik erkennt. Dann folgt die Anmoderation mit Wim Wenders höchstpersönlich und schließlich 128 Minuten Film. Doch die faszinieren mit jeder Einstellung bis kurz nach Mitternacht.

 

Wim Wenders ist an diesem Abend gut aufgelegt und plaudert ein wenig mit dem Moderator über die Produktionsbedingungen des Films und Freundinnen. Er habe eigentlich auch im Ostteil der Stadt drehen wollen und sei sogar bis zum Ministerium für Kultur gekommen. Sogar Formulare habe er schon auszufüllen begonnen. Doch dann war eine der Bedingungen für die Genehmigung ein Drehbuch, das eingereicht werden musste. Und er habe kein Drehbuch gehabt und wollte auch keines schreiben. Denn das Filmen ohne Drehbuch gehörte ganz unbedingt zu den Voraussetzungen für diesen Film. Man könnte wahrscheinlich sagen, dass das fehlende Drehbuch verhinderte, dass auch der Ostteil der Stadt Berlin im Film vorkam. So plaudert Wim Wenders an diesem Abend im Freiluftkino, der einst sozialistischen Freilichtbühne im Volkspark Friedrichshain von 1950, als sei es das Natürlichste von der Welt, einen Film ohne Drehbuch zu drehen.

 

Das fehlende Drehbuch für Der Himmel über Berlin, den Wim Wenders recht konträr im Englischen Wings of Desire nannte, ist für die Filmforschung nicht ganz uninteressant. Einerseits lässt sich gut denken, dass das fehlende Drehbuch als Grundvoraussetzung, in Ost-Berlin drehen zu dürfen, natürlich das Misstrauen der Zensur auf den Plan rief. Einfach so in Ost-Berlin durch die Straßen schlendern und an irgendwelchen Orten zu filmen, war undenkbar.[1] Das muss im Smartphone-Zeitalter für Menschen, die nach 1989 geboren sind, erst einmal klargestellt werden. Und dann war eine Kamera mit Negativfilmmaterial einfach sehr teuer. Also man konnte nicht mit Schwarz-Weiß-Filmmaterial so drauflos drehen. Man sollte schon vorher wissen, wofür man es verwenden wollte, bevor man es belichtete. Im Freiluftkino Friedrichshain sagt Wim Wenders, dass er den Film in Schwarz-Weiß gedreht habe, weil er für Farbfilm kein Geld hatte.

 

Vielleicht muss man sich das einmal so vorstellen, und so oder so ähnlich erzählt es Wim Wenders am 26. Juli 2018 im Zeitalter der Digitalkameras die Geschichte mit dem Filmmaterial. Wir hatten kein Geld, um mit dem teureren Farbfilmmaterial zu drehen. Deshalb haben wir begonnen, mit Schwarz-Weiß-Material zu drehen. Dann bekamen wir später doch Geld für Farbfilmmaterial und das änderte dann noch einmal den Film in seiner Originalversion, in der wir dann Schwarz-Weiß direkt an Farbe geschnitten haben. Überhaupt war der Schnitt im Nachhinein sehr sprunghaft, was 1987 in Cannes, wo der Film die Goldene Palme gewann, noch gar nicht als Mangel wahrgenommen wurde. Doch später störte ihn, Wim Wenders, das schon, weil die Übergänge in seiner Imagination weicher sein sollten. Und deshalb ist der Film 2017 mit 4 K, einer hochauflösenden HDR-Technologie für Ultra HD, restauriert worden, um, sagen wir, Dornröschen noch einmal wachzuküssen. Wenn man sich Der Himmel über Berlin/Wings of Desire in den letzten Jahren in der Originalversion anschaute, dann waren diese Farbschnipsel, die Kulissen und immer auch der Ton doch ziemlich anstrengend.     

 

Nun ist Der Himmel über Berlin/Wings of Desire nicht nur ein Liebesfilm zwischen dem Engel Damiel, Bruno Ganz, und der Trapezkünstlerin Marion, Solveig Dommartin, die Wim Wenders Freundin war. Es ist nicht nur ein Film über Engel in Berlin. Es ist auch kein Film über die geteilte Stadt Berlin, in der nur Engel – filmtechnisch per Überblendung – durch die Mauer gehen können. Es ist vielmehr ein Film über das Medium Film und das Filmemachen selbst. Denn nicht zuletzt spielen die Sequenzen von den Dreharbeiten für einen Nazifilm in einem teilweise zerstörten Bunker dadurch eine wichtige Rolle, dass die Dreharbeiten immer wieder als Filmemachen vorgeführt werden. Sie wirken wie Dokumentarszenen, doch ein derartiger Film kam nie ins Kino. Ebenso bleibt die Rolle von Peter Falk als Film- und in den 80er Jahren Fernsehserienstar Colombo mehrdeutig. Man könnte sagen, dass er zwischen den Filmwelten wandelt und sich schließlich als (ehemaliger) Engel zu erkennen gibt.

 

Es gibt ganz ungeheuerliche Szenen vom Dasein der Engel in der Staatsbibliothek von Hans Sharoun an der Potsdamer Straße, in der der Berichterstatter jetzt gerade – right here, right now – sitzt, weil es hier im aufgeheizten Berlin, heißester Tag des Jahres, wunderbar kühl ist. Hier lässt sich denken und arbeiten, während es seit Tagen in Berlin längst zu heiß geworden ist zum Denkenschreiben. Natürlich hört er nicht wie im Film die Gedanken der Lesenden und Schreibenden, wie sie im Film von den nur für den Filmzuschauer sichtbaren Engeln mitgehört werden. Bis auf gelegentliches Hüsteln, Seitenblättern, Laptoptastenklimpern bleibt es still, während er sprechendlesend schreibt. Im Film lassen sich nur Gedankenschnipsel aufschnappen. Die Engeldichte ist besonders hoch, weil – so Wenders These – Engel als Schutzengel geistig sind. Hier überschneiden sich im Film auf faszinierende Weise Spiel- und Architekturfilm.

 

Mein Freund C. hätte den Film im Freiluftkino gern gesehen, weil er meinte, ihn vor Zeiten nicht verstanden zu haben. Der Film, könnte man sagen, hat keine richtige Handlung, die verstanden werden müsste. Das hat mit dem fehlenden Drehbuch zu tun. Und eigentlich erzählen die Protagonisten auch nicht viel von sich selbst. Vor der Filmaufführung sagt Wim Wenders, dass die Schauspieler gern mehr über ihre Figuren gewusst hätten, weil Schauspieler immer wissen wollen, welche Geschichte ihre Figuren haben. Das helfe beim Schauspielern. Doch Engel wie Damiel und Cassiel (Otto Sander) haben keine persönliche Geschichte. Was sollten Engel von ihrer Geschichte oder Herkunft auch wissen können? Doch es gibt in dem ein vielleicht unstillbares Begehren, wie der alternative Titel Wings of Desire vorschlägt.  

 

Engel bzw. Schutzengel sind in der Eröffnungssequenz, wenn Damiel und Cassiel im Autohaus unsichtbar in einem Coupé sitzen und sich von ihren jüngsten Einsätzen erzählen, eine Art Buchhalter, die sich ihre schicksalhaften Einsätze in Notizbücher aufschreiben. Doch es gibt auch eine Vergeblichkeit im Einsatz als Schutzengel. Denn häufig werden Sie nicht gehört und Verzweifelte oder Lebensmüde begehen doch einen Suizid. Es ist übrigens eine Suizid-Szene, als ein junger Mann von einem Hochhausdach springt, die Cassiel für einmal „Nein“ aufschreien lässt. Suizid spricht gegen Schutzengel oder zeigt ihre Vergeblichkeit. Als verbotene Suizid-Szene, die insbesondere in einem christlich-religiösen Kontext verboten ist, wie Thomas Macho gezeigt hat[2], gibt sie durchaus einen Wink auf Wim Wenders katholische Herkunft. Der Engel ist einsam in seiner ewigen Existenz, die allerhöchstens Kinder wahrnehmen können.

 

Der Himmel über Berlin kann als einer der poetischsten Filme des deutschen Kinos im 20. Jahrhundert gelten. Doch man kann auch fragen, wie diese Poesie entsteht. Wim Wenders sagte im Gespräch, dass er nach längerer Zeit in den USA nach Berlin zurückgekommen und ihm aufgefallen sei, wie viele Engel in Berlin zu sehen waren. Eine entscheidende Funktion nimmt indessen der Engel auf der Siegessäule im Tiergarten ein. Der voluminöse, riesige Siegesengel als Victoria wird seiner säkularen Geschichte auch entnommen und umgewidmet zum Stützpunkt für Damiel, der zuerst auf der Turmruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche erscheint und dort von Kindern gesehen wird. Die poetische Verwandlung des Siegesdenkmal im Krieg gegen Frankreich und des Mahnmals gegen den Krieg zum Schauplatz für einen Engel oder gar den Engel der Geschichte, einem Angelus Novus wie bei Walter Benjamin[3], gibt einen Wink auf die Mehrdeutigkeit der Engel in Wim Wenders Film.

 
Der Himmel über Berlin - 4K-Trailer restaurierte Fassung (Screenshot T.F.)

Die Engel lassen sich vor allem nicht fassen und festlegen. Benjamins Engel der Geschichte spielt im Film ebenso wie der Schutzengel oder der Siegesengel eine Rolle. Die Vieldeutigkeit der Engel, die auftreten, macht auch ihre Poesie aus. Wim Wenders erzählt nicht nur eine Geschichte mit Engeln oder über sie, vielmehr bringt er ein Wissen von Engeln in einen Prozess. Damiel bringt, nach dem er vom Himmel gefallen und Mensch geworden ist, eine goldene Rüstung zum Trödelladen, die der Erzengel Michael getragen haben könnte. Gleichzeitig ist die Trapezkünstlerin Marion mit künstlichen Engelsflügeln gerade kein Engel, sondern ein Mensch, in den sich Damiel verliebt. Engel fahren in Berlin im oberen Deck Bus oder streifen in der Staatsbibliothek herum. Sie stehen an der Imbissbude und besuchen Dreharbeiten im Bunker. Sie begleiten den alten Homer (Curt Bois) in seinen Erinnerungen an den Potsdamer Platz auf der Nachkriegsbrache, die längst verschwunden ist.   


Der Himmel über Berlin - 4K-Trailer restaurierte Fassung (Screenshot T.F.) 

Die sichtbare Unsichtbarkeit gehört ebenfalls zu den poetischen Operationen im Film. Während das Medium Film eines der Sichtbarkeit und des Visuellen ist, wird in diesem das Unsichtbare zum Thema. Die Engel sind nicht einfach sichtbar als Engel, vielmehr bleiben sie im Film unsichtbar, obwohl sie gesehen und gehört werden können. Insofern als mit Damiels Menschwerdung der Film in den Farbfilm wechselt, bleibt er als Engel so lange unsichtbar, wie der Film in Schwarz-Weiß geschnitten und gedreht worden ist. Doch dieser Wechsel ergibt sich allein aus dem Prozess des Drehens und der Montage im Schnitt. Er war offenbar nicht geplant. Man müsste deshalb auch sagen, dass die Dramaturgie des Filmmaterials eine ist, die nicht genau festgelegt werden kann. Vielleicht lässt sie sich als eine des Begehrens formulieren. Denn das Farbfilmmaterial kommt immer dann ins Spiel, wenn es um die Figur Solveig geht.


Der Himmel über Berlin - 4K-Trailer restaurierte Fassung (Screenshot T.F.) 

Wir wissen nicht genau, ob und wenn ab wann es ein Drehbuch für den Film gab. Zumindest gab es anfangs keines. Aber es gab das Begehren, einen Film zu machen, das etwas mit dem Kindsein, mit Berlin, mit dem zerstörten Nachkriegs-Berlin, mit dem Krieg, mit dem Verschwinden, mit Solveig Dommartin, mit den Menschen in Berlin, mit den Ruinen und dem Medium Film selbst zu tun hatte. Mit den Nachkriegsaufnahmen in Farbe der Trümmerlandschaften und der Trümmerfrauen wird Dokumentarfilmmaterial von Wim Wenders in den Film montiert. Die Trennung von Dokumentar- und Spielfilm wird so zugunsten des Visuellen unterlaufen. Das Visuelle vermag zu faszinieren, durchkreuzt Handlungsstränge und die Festlegung auf ein Filmgenre. Wim Wenders hat immer zwischen Dokumentar- und Spielfilm gependelt. 2013 drehte er für das 50. Jubiläum der Philharmonie den 3D-Film Cathedrals of Culture: The Berlin Philharmonic.[4]


Der Himmel über Berlin - 4K-Trailer restaurierte Fassung (Screenshot T.F.) 

Wim Wenders zitiert und knüpft an das Lied vom Kindsein von Peter Handke an. Wie formuliert Handke das Kindsein, von dem das Kind nichts wissen und das der Erwachsene nur als Verlust wissen kann? 

Als das Kind Kind war, 

ging es mit hängenden Armen, 

wollte der Bach sei ein Fluß, 

der Fluß sei ein Strom, 

und diese Pfütze das Meer. 

Als das Kind Kind war, 

wußte es nicht, daß es Kind war, 

alles war ihm beseelt, 

und alle Seelen waren eins.[5] 

Als das Kind Kind war, 

hatte es von nichts eine Meinung, 

hatte keine Gewohnheit, 

saß oft im Schneidersitz, 

lief aus dem Stand, 

hatte einen Wirbel im Haar 

und machte kein Gesicht beim Fotografieren.


Der Himmel über Berlin - 4K-Trailer restaurierte Fassung (Screenshot T.F.)

In mehreren Variationen werden von Peter Handke Wunsch und Wissen eines Kindes durchgespielt. Kindsein wird als eine Frage des Wissens und Nicht-Wissens formuliert, wie mit dem „Gesicht(machen) beim Fotografieren“. Im Zeitalter der Smartphones wird Kindern heute vielleicht schon früher das Kindsein genommen, weil sie früher wissen, wie sie ein Gesicht machen müssen, wenn sie fotografiert werden oder gar ein Selfie machen. Immer noch und immer wieder ist es mit dem Wissen wie in jener Anekdote Heinrich von Kleists in seinem Text Über das Marionettentheater, der vom 12. bis 15. Dezember 1810 im Zeitungsprojekt der Berliner Abendblätter erschien, in der sich ein Jüngling einen Dorn aus dem Fuss zieht. Als der Jüngling um die Schönheit seiner Geste weiß, bekommt er sich nicht mehr hin: 

… Es traf sich, daß wir grade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch’ eine Entdeckung er gemacht habe. In der That hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiederte – er sähe wohl Geister! Er erröthete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehn lassen, misglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! er war außer Stand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag’ ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten: –


Der Himmel über Berlin - 4K-Trailer restaurierte Fassung (Screenshot T.F.) 

Das Wissen verstellt die Wahrnehmung auch. Kleists Anekdote aus dem Text Über das Marionettentheater erinnert an die Fallstricke des Wissens von sich selbst und der Welt. Die Engel verschwinden mit dem Wissen beispielsweise ihrer Herkunft aus der Zeit über den Sieg Preußens im Krieg gegen Frankreich. Wings of Desire spielt en passant darauf an, dass das Begehren Flügel verleihen kann. Das Begehren lässt sich nicht in Drehbücher verwandeln, zumindest vermied es Wim Wenders und drehte so einen Film nicht nur über Berlin, der auch in der restaurierten Fassung weiterhin zu faszinieren vermag. Vielleicht gibt es im August irgendwo in Deutschland im Freiluftkino noch einmal Der Himmel über Berlin. — Und dann geht Damiel mit seiner Erzengel-Michael-Rüstung wieder die Oranienstraße hinunter zum Oranienplatz, wo jetzt an der Ecke ein Luxushotel in einem ehemaligen Kaufhaus ist.


Der Himmel über Berlin - 4K-Trailer restaurierte Fassung (Screenshot T.F.) 

  

Torsten Flüh

  

Wim Wenders 

Der Himmel über Berlin

restaurierte Fassung in 7 K 

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Freiluftkino Friedrichshain

Programm 2018

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[1] Wieland Speck drehte 1985 mit versteckter Kamera Szenen zu seinem Film Westler in Ost-Berlin für das Kleine Fernsehspiel im ZDF. Als publik wurde, dass der Film ohne Drehgenehmigung in Ost-Berlin gedreht worden war, dürfte das sicher nicht die Bereitschaft des Ministeriums für Kultur erhöht haben, Wim Wenders eine Genehmigung ohne Drehbuch zu erteilen. Siehe auch kurz zu Westler: Palermo oder Bierbrunnen. Laden 52 im Berlin Carre präsentiert Visuelle Lektüren/Lektüren des Visuellen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. Juni 2010 10:13.

[2] Sieh über Thomas Machos Kulturgeschichte des Suizids: Torsten Flüh: Der Suizid muss ein moderner Wiener sein - und stören. Thomas Macho stellt sein Buch Das Leben nehmen in der Feierhalle des Kulturquartiers silent green vor. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. November 2017 19:41.

[3] Siehe auch Torsten Flüh: Die Schnecke, der Maulwurf und die Hauskatze. Verleihung des August-Bebel-Preises 2011 an Oskar Negt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. März 2011 22:44.

[4] Siehe auch Torsten Flüh: Die hohe Schule des Hörens. Zum Festkonzert der Berliner Philharmoniker für 50 Jahre Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. Oktober 2013 22:12.

[5] Peter Handke: Lied vom Kindsein. (nach Transkription)

 

Das Trauma des Öffentlichen im Privaten - Zeruya Shalev und Maria Schrader lesen aus Schmerz beim Literatursommer in Kiel

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Israel – Lesen – Trauma 

 

Das Trauma des Öffentlichen im Privaten 

Zeruya Shalev und Maria Schrader lesen aus Schmerz beim Literatursommer in Kiel 

 

Der Literatursommer 2018 in Schleswig-Holstein hat Literatur aus und über Israel zum verknüpfenden Thema der Lesungen zwischen Brunsbüttel und Apenrade, Heide und Kappeln, Lübeck und Kiel gemacht. Seit 1996 veranstaltet das Literaturhaus in Kiel die Reihe mit einem wechselnden Länderschwerpunkt im nördlichsten Bundesland und hinüber bis ins dänische Apenrade, wo es eine Deutsche Zentralbibliothek gibt. 30 Autorenlesungen vernetzen mit dem Literaturhaus Schleswig-Holstein im Kieler Schwanenweg die Leser*innen zwischen Nord- und Ostsee, Elbe und über das Grenzflüsschen Krusau bis an die Apenrader Förde. Am 3. August zog das Literaturhaus mit seinem Veranstaltungsraum in den nahen, größeren Vortragsaal der Kunsthalle Kiel für die Lesung aus Zeruya Shalevs Roman Schmerz.

 

Die Schauspielerin, Regisseurin und Sprecherin Maria Schrader las Passagen aus Zeruya Shalevs Roman, den sie für den HörbuchHHamburg Verlag eingelesen hat. Eröffnet wurde der Abend mit einer kurzen Lesung der ersten Seite des Romans von Zeruya Shalev in Hebräisch, was gewiss für die meisten Zuhörer*innen einen geheimnisvollen Zauber hatte. Shalev las in einem Erzählton, der gewiss angebracht ist. Doch als Maria Schrader die gleiche Passage auf Deutsch las, passierte doch so ungleich viel mehr, was nicht nur am Verständnis durch die Sprache liegt. Maria Schrader gehört wie Eva Matthes zu den, wie man sagt, ausdrucksstärksten Sprecherinnen von Hörbüchern. Die Sprecherin liest nicht nur mit ihrer Stimme, sie ist im Glücksfall auch in den komplexen Lese- und Interpretationsprozess eingebunden.

 

Ein Buch vorgelesen zu bekommen von einer Sprecher*in, setzt noch einmal einen anderes Leseverständnis als Prozess in Gang. Einerseits kann die Sprecher*in einem erzählenden Ich, einer auktorialen Erzähler*in in ihrer subjektiven Wahrnehmung eine Stimme verleihen. Andererseits kann die Sprecher*in sich stark von der Perspektive der Erzähler*in durch Tonfall und Stimmfärbung, Timbre distanzieren und zugleich nah sein. Das Hörbuch kommt eigentlich aus der Sendegeschichte des Radios und seinen Vorlesereihen wie Am Morgen vorgelesen mit Gert Westphal. Gert Westphal wurde zum „König der Vorleser“ erklärt und brachte mit dunkler werdender Stimme Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg in die Aufwachphase. Jede Formulierung Fotanes wurde ein bedeutendes Versprechen. Die Haltung der Erzähler*in im Roman Schmerz, ist anders, auffallend distanziert, während ein Erinnerungsstrom erzählt wird, der wörtliche und indirekte Rede nicht genau abgrenzt. Die vermeintliche Normalität kann durch eine Frage abrupt unterbrochen werden. 

Doch dann hat Micki sie gefragt, weißt du, welches Datum heute ist, als handle es sich um einen Geburtstag oder einen Hochzeitstag, und sie strengte ihr Gedächtnis an. Sie haben im Winter geheiratet, sich im Winter davor kennengelernt, die Kinder sind im Winter geboren.[1]

 

Die beiläufig gestellte Frage, die sogleich mit dem Privaten eines Geburts- oder Hochzeitstages in Verbindung gebracht wird, erinnert an einen Schmerz, der auf fatale Weise individuell und öffentlich, politisch ist. Schmerz ist ein Trauma-Roman, der in gewisser Weise fulminant, doch diskret einsetzt. Das stellt Ansprüche an die Sprecherin, die Maria Schrader klug zu treffen vermag. Sie phrasiert die komplexen, fließenden Satzkonstruktionen mit einer warmen Stimme. Die Schreibweise, die bei Fontane z. B. mit dem Gewicht der historischen Bedeutung strukturiert wird, erfordert für Schmerz einen anderen als den tragenden Tonfall Gert Westphals. Und auch im Unterschied zur vielleicht dramatischsten und nuancenreichsten Vorleserin Eva Mattes, da gibt es ein vielstimmiges Theater beim Vorlesen, kann Maria Schrader einen vielschichtigen Erzählfluss in Gang setzen.  

… Nichts wirklich Wichtiges hat sich in ihrem Leben im Sommer ereignet, obwohl in einem so langen Sommer so viel passieren kann, und Micki senkte den Blick, deutete auf ihre Hüfte, die seit damals breiter geworden ist, und plötzlich war der Schmerz wieder da, und sie erinnerte sich. 

         Oder erinnerte sie sich zuerst, und dann kam der Schmerz? Sie hat ihn nie vergessen, deshalb war es keine Erinnerung, sondern das absolute Dasein in dieser brennenden Minute, der Bruch, der immer klarer wurde …[2]    

 

An der Geschichte von Iris wird mit der Eröffnungssequenz des Romans von Anfang an klar, wie sehr die Lebenswirklichkeit des Staates Israel in ihr Leben hineinspielt. Iris‘ Körper und ihre Psyche sind zutiefst durch einen Selbstmordattentäter verletzt worden. Man darf es durchaus eine erzählerische Konstruktion nennen, dass Mickis „Blick […] auf ihre Hüfte“ deutete und damit auf den Unterleib auch als Ort des Geschlechts und der Geschlechtlichkeit weist. Zeruya Shalev spricht mit Sabine Kray in der Kieler Kunsthalle ausführlich und sehr persönlich über ihren Schreibprozess als erfahrene, doch ebenso emotional mit ihrer Romanfigur verbundene Schriftstellerin. Das Schreiben ist für sie ein derart emotionaler Prozess, dass sie eines Tags über Iris geweint habe, als ihre Tochter von der Schule nach Hause gekommen sei. Zwar entspann sich mit der Tochter ein ebenso witziger wie verständnisvoller Wortwechsel über das Schreiben, aber der Wink auf die Emotionen gibt auch einen Hinweis darauf, wie wirklich und aufwühlend das erfundene Gefühlsleben von Iris für die Autorin ist.

 

Das Gefühlsleben der Romanfigur Iris wird nicht nur durch das Trauma, durch die körperliche wie psychische Verletzung als Privatperson im öffentlichen Raum bestimmt. – Vielleicht fallen beim Lesen und Vorlesen in unterschiedlichen Tempi und Sequenzierungen diese Verkettungen erst auf, wenn man unterbricht und Fragen an den Text stellt. Es gibt ja durchaus Leser*innen, denen das Vorlesen zu schnell geht. – Der Schmerz wird auch mit einer Liebesgeschichte aus der Jugend und den daraus entstandenen Verletzungen verwoben. Der Schmerz, der plötzlich zurückkehrt, hat mehr als eine Ursache. Körper und Psyche lassen sich nicht trennen. Doch in Israel wird von Zeruya Shalev das Verhältnis von Trauma und Öffentlichkeit auf eine ganz eigene Weise erzählt. Sie kritisiert den Staat Israel nicht offen. Doch sie macht Problematiken aus einem personalisierten Erleben lesbar. Das politische Attentat durchwühlt die Privatsphäre und die Frage danach, was passiert wäre wenn nicht Iris den Bus mit dem Attentäter hätte überholen wollen. 

Es ist seltsam, sagt sie, so etwas ist nie zuvor und nie danach passiert, jedenfalls nicht um diese Uhrzeit, und er sagt, also, es reicht, Iris, komm, wir wollen doch nicht diese Wunde aufreißen, du weißt, wie sehr mich das quält.[3]

 

Das Trauma wird mit anderen Wunden verknüpft. Es gibt keine einfachen Antworten. Vielmehr stellt die Verletzung durch den Selbstmordattentäter die quälende Sinnfrage. Das Trauma lässt sich nicht einfach beseitigen oder verstehen. Vielmehr dehnt es sich aus bis in die feinsten persönlichen Netze. Es hat diesen politischen Selbstmordanschlag gegeben, der schwere körperliche Verwundungen verursacht hat, doch es gibt auch die Verwundung einer enttäuschten Liebe aus der Jugend, die immer wieder aufbricht und das beunruhigende Gefühl verursacht, ein Leben verpasst zu haben. Stattdessen hat sich Iris ihr Leben als Frau und Mutter mit Micki selbst verpasst und verpassen lassen. Lässt sich ein Trauma heilen? Es meldet sich über einen schwer lokalisierbaren Schmerz besonders in der Sexualität. 

Und er faucht, bestimmt nicht viel, ein bisschen Liebe, ein bisschen Wärme, damit ich spüre, dass ich eine Frau zu Hause habe. Und sie sagt, ich habe genug von deinem Selbstmitleid, es geht jetzt nicht um dich, sondern um mich, ich habe schreckliche Schmerzen, und du willst mir Sex vorschlagen? Warum kann ich nicht ein bisschen Empathie ohne Sex bekommen?[4]    

 

Gibt es ein Recht auf einen persönlichen Schmerz? Schmerz kann durchaus als ein Frauenbuch, eine Frauengeschichte gelesen werden, die der Roman auch ist. Doch wenn man ein wenig genauer liest, dann geht es mit Schmerz um geschlechterübergreifende Fragen. Der Schmerz wird durchaus auf mehreren Ebenen verhandelt. Geschlechterfragen wie Mann und Frau, Alter und Beruf, Sexualität und Begehren sind nur einige Ebenen. Was lässt sich vom Schmerz wissen? Das Expertenwissen durch den Schmerzdoktor oder Schmerzspezialisten Doktor Rosen, der sich als der Geliebte aus der Jugend entpuppt und damit so etwas wie ein erster Schmerzverursacher ist, erweist sich letztlich als ambivalent. Wird der Schmerz der Schmerzkranken nicht abgesprochen, wenn er sich als „Schutzmechanismus“ erklären lässt? 

Es stellt sich also heraus, dass die Schmerzen nur ein Schutzmechanismus sind, sagt Micki zu ihr, als sie die Hangstraße hinauffahren. Das Nervensystem produziert die Schmerzen, um bekanntzugeben, dass im Gewebe etwas nicht in Ordnung ist, und wenn dieser Schutzmechanismus verletzt ist, ist er wie ein Rauchmelder, der nicht aufhört zu piepen, selbst wenn das Feuer bereits gelöscht ist. Ist dir das klar? Das ist wirklich spannend![5]

 

Um den Schmerz ranken sich die Erzählungen und Erklärungsmodelle, die den Schmerz selbst nicht abschalten können. Vielmehr, und darauf geht Shalev weniger ein, können dann Schmerzmedikamente gegen Entzündungen im Körper die Wahrnehmung derart beeinträchtigen, dass man sich selbst durch Nebenwirkungen nicht wiedererkennt. Das Wissen vom Schmerz als „Diagnose“ beseitigt den Schmerz selbst dann nicht, wenn sie Micki in eine leichte Euphorie versetzt. Doch Mickis ihrerseits fast schon verletzende Euphorie über das physiologische Wissen eines „verletzte(n) Nerv(s)“ – „heilt, wird wieder lebendig, wacht auf und fängt an, Beschwerden zu machen“ – als „posttraumatische Schmerzen“ beschreibt, aber behebt nicht den Schmerz. Dabei war es bereits 1920 Sigmund Freud, der in seinem psychoanalytischen Buch Jenseits des Lustprinzips auf ein neuartiges Krankheitsbild nach dem 1. Weltkrieg verwies. 

Nach schweren mechanischen Erschütterungen, Eisenbahnzusammen­stößen und anderen, mit Lebensgefahr verbundenen Unfällen ist seit langem ein Zustand beschrieben worden, dem dann der Name »traumatische Neurose« verblieben ist. Der schreckliche, eben jetzt abgelaufene Krieg hat eine große Anzahl solcher Erkrankungen entstehen lassen und wenigstens der Versuchung ein Ende gesetzt, sie auf organische Schädigung des Nervensystems durch Einwirkung mechanischer Gewalt zurückzuführen.[6] 

 

Die „organische Schädigung des Nervensystems“ war für Freud schon vor nicht ganz einhundert Jahren keine (alleinige) Ursache der traumatischen Neurose und des Schmerzes. Die Wiederkehr des Schmerzes, wie sie von Zeruya Shalev im Roman mehr durchgearbeitet als geheilt wird, beschäftigte bereits Freud soweit, dass er schließlich zu bedenken gibt, „daß das künstlerische Spielen und Nachahmen der Erwachsenen, das zum Unterschied vom Verhalten des Kindes auf die Person des Zuschauers zielt, diesem die schmerzlichsten Eindrücke zum Beispiel in der Tragödie nicht erspart und doch von ihm als hoher Genuß empfunden werden kann“.[7] Anders gesagt, der psychische Schmerz kann durch die künstlerische, literarische Schreibverarbeitung in einen „hohe(n) Genuß“ verwandelt werden. Iris‘ plötzlich durch eine Frage einsetzender Schmerz lässt sich durchaus als ein psycholinguistischer formulieren. Er wird durch die Sprache und das imaginäre Erinnern ausgelöst. Iris genießt durchaus den „Ehebruch“, der vermeintlich das Jugendtrauma heilen soll und es dennoch verpasst. Shalev erzählt von diesem schmerzhaften Paradox.

 

Ist es doch wiederum die israelische Gesellschaft, die Lebenswirklichkeit in Israel, die den „Ehebruch“ in seiner Intimität zugleich legitimiert und entwertet, weil „der Prozentsatz“ sowieso gestiegen ist. Das Trauma-Schicksal der Romanfigur Iris betrifft auf ebenso beruhigende wie beunruhigende Weise nicht nur sie selbst, wenn sie ihrer Freundin Schula von ihrem „Ehebruch“ erzählen will und beim Staubsaugen vor sich hinplappert. Die Verletzungen der israelischen Zivilgesellschaft durch Bomben, Selbstmordattentäter, Straf- und Abwehraktionen sowie Gesetze und Verordnungen lassen sich vermeintlich in den „Prozentsatz der Ehebrüche“ verlängern oder transformieren. Zumindest im beiläufigen Radiohören oder vom Hörensagen schleicht sich ein Wissen über eine Korrelation von staatlichem Ausnahmezustand und Ehebruch ins Denken.

Was für ein Zufall, wiederholt sie plötzlich, ich habe gehört, dass sich in Israel der Prozentsatz der Ehebrüche in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat, interessant, woher man das weiß, schließlich halten die Leute ihre Ehebrüche geheim, und sofort übertönt der Staubsauger mit seinem Lärm alles, was gesagt oder nicht gesagt wird, und Iris schließt die Augen.[8]   

 

Schmerz erzählt auf mehrdeutige Weise vom verpassten Leben, von der verpassten Liebe einer Frau. Die Erzählungen kreisen, wie Zeruya Shalev im Gespräch mit Sabine Kray sagt, um die Frage: Warum sind die Menschen so besessen von der Vergangenheit? – Sie hat unweigerlich mit dem Trauma, den Wunden zu tun, die in unterschiedlicher Intensität plötzlich und unkalkulierbar entstanden sind. Eigentlich ist Iris gar nicht so unzufrieden mit ihrem Leben. Doch Eitans Beendigung der Beziehung nach dem Tod seiner Mutter, weil er sich unfrei fühlte, gibt Iris das Gefühl ein Leben an seiner Seite verpasst, um stattdessen eines mit Micki verpasst bekommen zu haben, in einem Staat, der beispielsweise über die allgemeine Wehrpflicht ständig in die Familie eingreift, mit der Bedrohung dadurch die Kinder wirklich zu verlieren, ist der Staat als Bedrohung ständig präsent. Denn in gewisser Weise befindet sich der Staat Israel in einem permanenten Ausnahmezustand, weil es sich ständig in einer Stärke präsentieren muss. Das führt zu einem schwierigen, emotionalen Populismus, wie ihn Eva Illouz in ihrer Mosse-Lecture 2016 kritisiert hat.

So viele Schmerzen und Empfindlichkeiten, Wunden und Narben entstehen aus der Nähe. Aber es ist auch sinnlos, sich jetzt bei ihm zu beklagen, und sie ist, in ihrer neuen Position als Ehebrecherin, die Letzte, die das Recht hat, ihm Vorwürfe zu machen. Auch wenn er es noch nicht weiß, so weiß sie es doch, und ihr Handy weiß es, denn in diesem Moment klingelt es, er sucht sie, Schmerz, und sie wird natürlich nicht antworten, …[9] 

 

Berührend ist auch die Sequenz vom Besuch bei der dementen Mutter. Von der Demenz der Mutter, die ihre Tochter nicht erkennt oder nicht erkennen will, geht für Iris eine tiefgreifende Verunsicherung aus. Gleichzeitig wird für die Mutter in ihrer Demenz ein Vergessen der Vergangenheit zuteil, die dennoch keine Zukunft verspricht. Iris' Wunsch, sich mit ihrer Mutter über Eitan zu unterhalten, schlägt auf ganzer Linie fehl. Die Mutter als Verbündete und Vertrauensperson gibt es nicht mehr. Die Mutter wird unheimlich, weil sich nicht mehr klar unterscheiden lässt, was sie im Delirium verwechselt oder erfindet und was sie mehr weiß als die Tochter. Die Demenz äußert sich nicht einfach als Vergessen, vielmehr stellt sie die Wahrnehmung und das Wissen der Tochter auf traumatische Weise auf die Probe. 

Es reicht Mama, bricht es aus ihr heraus, ich bin es, ich bin nicht umgekommen, ich war nur verletzt, und jetzt geht es mir gut, ich bin es, Iris, deine Tochter, erkenne mich endlich, und ihre Mutter, die immer vor jedem Gefühlsausbruch zurückweicht, schaut sie kühl an und sagt, genug! Warum regst du dich so auf, das beweist nur, dass du nicht meine Iris bist, so habe ich sie nicht erzogen.[10]

 

Es taucht am Horizont des Romans das mythologisch, platonische Ideal des Kugelmenschen auf. Der Kugelmensch ist eine ursprüngliche Ganzheitsphantasie. Sozusagen der Mensch als runde Sache. Doch der Mensch ist keine heile oder runde Sache. Vielmehr geht es immer um eine ursprüngliche Trennung, Spaltung oder Verwundung. Vielleicht ist der Mensch wie Iris am meisten sie selbst in ihren Verwundungen, die sinnlos nur ihr passiert sind und passieren konnten. Der Ehebruch mit der Jugendliebe Eitan führt nicht zur Heilung und Scheidung. Vielmehr wurde „die Vergangenheit (…) geöffnet“, was Iris als „Chance“ begreift, „die erstickende, süße und verfluchte Höhle der Vergangenheit zu öffnen und ihr Inneres mit der Sonne, dem Wind und den Stimmen der Gegenwart zu füllen“.[11] Das Literatursommer-Publikum in der Kieler Kunsthalle, war jedenfalls von den Leseausschnitten derart angeregt worden, dass Zeruya Shalev eifrig signieren musste. 

 

Torsten Flüh

  

Literatursommer 2018

in Schleswig-Holstein 

bis 25. August 2018 

 

Zeruya Shalev 

Schmerz 

Roman 

€ 10,- 

 

Zeruya Shalev

Schmerz

gelesen von Maria Schrader

€ 14,99

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[1] Zeruya Shalev: Schmerz. Berlin: Berlin Verlag, 2016, S. 7.

[2] Ebenda.

[3] Ebenda S. 38.

[4] Ebenda S. 39.

[5] Ebenda S. 45.

[6] Sigmund Freud: Traumatische Neurose und Kinderspiel als Wiederholung. In: ders.: Jenseits des Lustprinzips. (Dritte, durchgesehene Auflage) Leipzig: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1923, S. 9. (Archive.org)

[7] Ebenda S. 18.

[8] Zeruya Shalev: Schmerz [wie Anm. 1] S. 155.

[9] Ebenda S. 248.

[10] Ebenda S. 58.

[11] Ebenda S. 379.  

Dem Selfie verfallen - Autobiography von Wayne McGregor und Oh Louis... von Robyn Orlin hinterfragen Selbsttechniken bei Tanz im August

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Selfie – Algorithmus – Tanz 

 

Dem Selfie verfallen 

Autobiography von Wayne McGregor und Oh Louis… von Robyn Orlin hinterfragen Selbsttechniken bei Tanz im August 

 

Das Selfie ist immer dabei. Ob die Bildschirmfunktion des Smartphones als Spiegel zum überprüfen der eigenen Haartolle, zur Vergewisserung der Verliebtheit mit Freund oder Freundin, zur Repräsentation des eigenen Ansehens mit einem Promi oder wie in Oh Louis… von Robyn Orlin gleich mit einem rosa Plastikhandspiegel genutzt wird, seit Louis XIV. gehört das Selfie zur Vergewisserung des Selbstbildes. Ob gleich als Sonnenkönig und erstem Tänzer des Staates oder nur als Grinsekuchen, bleibt dahingestellt. Autobiography von und mit Wayne McGregor will vielleicht diese Selbsttechnik mit einem Algorithmus, der jede Aufführung einzigartig macht, durchbrechen. Tanz und Selfie sind eine Art Verhaltensdesign, Gesten, Bewegungen nach bestimmten Regeln.

 

In der Berlin-Premiere von Autobiography sitzt ein turtelndes, junges Paar in der Reihe 9 Mitte im Haus der Berliner Festspiele, das mit den beiden Smartphones um die Wette selfied und ganze Sequenzen der Aufführung filmt. Die Verliebtheit steigert sich zu einer störenden und verstörenden Filmraub-Konkurrenz. „Entschuldigung, haben Sie eine Drehgenehmigung?“ Denkt der Berichterstatter. Er denkt es nur. Selbst ein Akkreditierter wird nicht mit einer blöden, technisch aufgepeppten Smartphone-Kamera während einer Aufführung mit Publikum drehen. Sie und er sehen gar nicht mehr die einzigartige Aufführung auf der Bühne. Sie halten abwechselnd und gemeinsam die Kameras wie ein Schutzschild und zugleich als Machtdemonstration vor sich hin. Die durch einen Algorithmus für den Abend generierte Sequenzfolge – 1 avatar, 21 remember, 8 nurture, 15 instict, 4 knowing… - löst nach ca. 60 Minuten einen Begeisterungssturm aus.

 

Vivre Sutinen, künstlerische Leiterin von Tanz im August, ist nicht nur davon überzeugt, dass Berlin in den letzten 30 Jahren „zu einer der bedeutendsten Tanzhauptstädte“ geworden ist, sie spürt auch der Überschneidung von Tanz und Technologie mit den Choreographien und Performer*innen bei Tanz im August nach. „Künstliche Intelligenz“, wie sie statt der spröden „Digitalisierung“ wieder in aller Munde ist[1], wird auf unterschiedliche Arten und Weisen mit Choreographien verhandelt und kritisch befragt. Dafür sind Autobiography von Wayne McGregor und Oh Louis... von Robyn Orlin gleich zwei exzellente Beispiele. Der Berichterstatter ist wegen der zwar gemilderten, aber immer noch mehr als ausreichenden Hitze dieses Sommers verspätet in das wichtigste Tanz-Festival in Berlin eingestiegen, um gleich wieder überrascht zu sein von der hochkarätigen Qualität der eingeladenen Produktionen.

 

Beim Festival Tanz im August geht es gar nicht darum, ein Experte für Tanz zu sein. Zwar ist jedes Festival eine Art Szenetreffen, aber die internationalen Produktionen aus UK oder Paris oder Südafrika etc. sind in ihrer Aktualität jeder und jedem zugänglich. Das liegt u.a. an den zivilen Eintrittspreisen von 38,50 € beispielsweise für Autobiography oder ab 16,50 € für Oh Louis… ungeachtet diverser Ermäßigungsmöglichkeiten. Festivals sind zwar auch Expertentreffen. Kenner und Professionals, wie es heute selbst schon bei Kindern im Wedding heißt – „Sind sie ein Professional?“ – treffen aufeinander. Doch zu viel Vorwissen kann den Blick versperren. Während die Company Wayne McGregor – „The brainbox of British dance” (David Jays, The Guardian)[2]– durchaus aus dem Umfeld des Royal Ballet kommt und mit ihm zusammenarbeitet, war Benjamin Pech bis 2016 „Danseur étoile“, also Startänzer an der Pariser Oper, um nun als Louis für Robyn Orlin zu performen. Selbst Kinder und Jugendliche haben Spaß an Oh Louis…, wie Pech im Künstlergespräch sagt.


©Andrej Uspenski 

Es gibt 24.000 Permutationen für die Aufführung von Autobiography, aus denen für jede Vorstellung der Computer eine andere generiert. Für die Tänzer*innen ist es eine Herausforderung, dass sie nicht im Voraus wissen, was sie tun, aber dann daraus einen Sinn machen sollen, wie Wayne McGregor im Interview sagt. Dass am 17. August 2018 um 19:00 Uhr die Aufführung im Haus der Berliner Festspiele tatsächlich mit „1 Avatar“ beginnt, wenn es sich der Berichterstatter richtig notiert hat, ist vermutlich der Logik der Künstlichen Intelligenz zufolge ein Zufall, der als Solo durchaus Sinn macht, weil es wirklich um künstliche Stellvertreter im Internet geht. Nick Rothwell hat den „Autobiography Algorithmus“ geschrieben. Es geht hier nicht um Ausdruck. Vielmehr geht es um die Frage, wie und ob sich durch die unterschiedlichen Sequenzen von Solo, Pas de deux, Corps etc. mit Aplomb, À la seconde, Battement etc. Sinn erzeugen lässt.


©Andrej Uspenski 

Die minimalistische Bühnenkonstruktion und Projektion (Ben Cullen Williams) wie das Licht (Lucy Carter) für jede der 23 Sequenzen, die nach dem Algorithmus für jede Vorstellung anders ermittelt wird, schafft eine Art virtuellen Versuchsraum. Man muss es vielleicht so formulieren: Man sieht Tanz, doch eigentlich geht es darum, Daten und ihre Effekte sichtbar zu machen. Denn im Interview spricht Wayne McGregor darüber, wie er anhand seiner entschlüsselten DNA aus Daten Tanz bzw. Choreographien entwickelt hat. Der Avatar wird insofern zum Stellvertreter der DNA des einzigartig codierten Choreographen. Kunst nicht nur mit Daten, vielmehr Kunst aus Daten wäre dann das Verfahren der Choreographie. Der Choreograph verwandelt das wissenschaftliche Wissen der DNA als Entschlüsselung eines Lebenskörperplans in Tanz.


©Andrej Uspenski 

Wayne McGregor und seine Company arbeiten in London an der Schnittstelle von Wissenschaft, Technologie und Kunst. Einerseits knüpft er damit an Merce Cunningham (1919-2009) an, der schon 2016 in einer geheimnisvollen Patenschaft beim Festival präsent war.[3] Denn Merce Cunningham hat als Erster Software, mit einem anderen Begriff Künstliche Intelligenz oder einen Algorithmus genutzt, um „neues choreographisches Material zu entwickeln“. Andererseits befragt er damit das erzählerische Format der Autobiographie, der „Selbstlebensbeschreibung“, wie es in Navid Kermanis blogartigen Roman Dein Name heißt.[4] Auf seiner Website formuliert es Wayne McGregor so: 

Driven by an insatiable curiosity about movement and its creative potentials, his experiments have led him into collaborative dialogue with an array of artistic forms, scientific disciplines, and technological interventions. / Getrieben von einer unstillbaren Neugier auf Bewegung und seinen kreativen Potentialen, führten seine Experimente ihn in den kollaborativen Dialog mit einer Reihe von künstlerischen Formen, wissenschaftlichen Disziplinen und technologischen Interventionen.[5]  


©Richard Davies 

Aus der kreativen Kombination unterschiedlicher Wissensbereiche, zu denen nicht zuletzt das Wissen vom Tanz und der Choreographie gehört, generiert McGregor eine potentielle Autobiographie, die das Selbst nicht ausschließt. Vielmehr wird jenseits einer auktorialen Haltung ein Selbst generiert, das sich allein schon wegen der 24.000 Permutationen nicht fassen lässt. Es wird sich niemals als ein geschlossenes Selbst darstellen lassen, während es im Tanz tendenziell doch um eine Selbst-Darstellung nach den Regeln des Balletts geht. An dieser Stelle, nämlich der Selbst-Darstellung des Souveräns durch das Ballett bzw. eingeübte Schritte, betritt Ludwig XIV. das Parkett, worauf zurückzukommen sein wird. Die Verdatung des menschlichen Genoms als Lebens- und Körperbauplan des Menschen durch die Doppelhelix der Desoxyribonukleinsäure, kurz DNA, generiert (Tanz-)Schritte, die nach einer Lexik des Balletts bzw. dem Ballett-Glossar von „Ailes de Pigeon“ bis „Tombé“ – Französisch ist die Sprache des Balletts seit Louis XIV. – geregelt bzw. verdatet sind.

 

Autobiography von Wayne McGregor arbeitet mit Menschen an der Frage des Selbst. Rebecca Bassett-Graham, Jordan James Bridge, Travis Clausen-Knight, Louis McMiller, Daniela Neugebauer, Jacob O’Connell, James Pett, Fukiko Takase, Po-Lin Tung, Jessica Wright sind klassisch wie modern ausgebildete Tänzerinnen und Tänzer. Beispielsweise gehört Daniela Neugebauer, die ihre Ausbildung bei John Neumeier an der Schule des Hamburg Ballett begonnen hat, nach mehreren Zwischenstationen seit 2010 zur Company Wayne McGregor.[6] Klassische und moderne Elemente überschneiden sich in der Choreographie. Vor allem gibt es eine starke athletische Note. Die Geschlechterrollen werden durch die Tänzer*innen wie Daniela Neugebauer durchlässig. Anders als das X- und Y-Chromosom in der DNA bleibt das Geschlecht gestisch bei den Tänzer*innen ambivalent, nicht genau bestimm- oder wahrnehmbar. Das Geschlecht als Kategorie wird von Wayne McGregor durch die Choreographie durchaus fragwürdig.

 

McGregor hat die Musikerin Jlin mit der Musik seiner 23 Sequenzen beauftragt. Sie hat dafür eine ganze Bandbreite von Soundinstallationen bis hin zu verfremdeten Barockklängen eingespielt. Zwischen elektronischer Musik und barocken Anklängen entstehen immer wieder andere Sounds, die ebenso unwirklich wie hochsensibel ausfallen. Und vielleicht sind ja die barocken Elemente durchaus als Wink auf den Ursprung des Tanzes als Repräsentationstechnik des Souveräns wie Selbst am Hof Ludwig XIV. gedacht. Worin liegt aber die geheimnisvolle Verbindung? Vielleicht kann man es so formulieren: der Sonnenkönig tanzt in Versailles vor, und alle müssen ihm nach bestimmten Regeln nachtanzen. Die Choreographie der Ballette in Versailles setzt eine Mechanik der Macht ingang, an dessen Spitze Louis XIV. tanzt. Die geregelten Schritte entsprechen einer mathematischen Erfassung der Welt. In Oh Louis… wird er in einer Szene wie ein Automat pantomimisch mit einem Schlüssel aufgezogen.

 

Der Souverän der, wie man sagt, Staatsform des Absolutismus ist ein Automat. Er verwandelt die Welt und ihren Lauf in einen Automatismus, um die katholische Kirche in Frankreich zur Staatsreligion zu erklären und zugleich durch das Wissen der Mathematik zu entmachten. Dieses Wissen wird nicht zuletzt in der geometrischen Gartenarchitektur verkörpert oder – besser – materialisiert. Die Disziplinierung des menschlichen wie des staatlichen Körpers wird mit dem Tanz als Verdatung vollzogen. Deshalb lässt sich die Formulierung „L’état c’est moi“ als eine modellhafte, erstaunliche Berechenbarkeit des Selbst zur Staatsräson erklären. Es geht somit keinesfalls darum, das Selbst narzisstisch mit Spiegeln und Spiegeleffekten zum Souverän zu erklären. Es waltet kein narzisstisches Selbst im Absolutismus, vielmehr geht es um eine Ersetzung des religiösen Wissens durch die Mathematik als Selbsttechnik.

 

 

Robyn Orlin dreht mit ihrer Choreographie die Frage nach dem Souverän um. Sie fragt danach, wie Louis XIV. (technisch) zum absoluten, alleinigen Herrscher werden konnte. Wie hat er das gemacht? Die Herrschaftspraxis in Versailles generiert sich durch ein neuartiges Reglement aller Lebensbereiche. Man darf sich von dem Gold und dem übrigens technologisch besonders fortschrittlichen Spiegelsaal in Versailles nicht blenden lassen. Vielmehr muss man danach fragen, warum die Spiegel wichtig werden. Joseph Vogl hat 2015 in Der Souveränitätseffekt die Verknüpfung von Finanzkapitalismus und Markt im 17. Jahrhundert analysiert. Louis XIV. und seine Staats- wie Selbsttechniken als Souverän hat er dabei nicht ausführlicher berücksichtigt. Doch Robyn Orlin legt in ihrer Arbeit nahe, dass Louis XIV. direkt mit den Flüchtenden aus Afrika verknüpft ist. 

Wie ein großer Spiegel oder eine Sonne schwebt über der Bühne eine Leinwand, auf der simultan durch Kameras über der Bühne Louis/Benjamin noch einmal in seinem ganzen Gold zu sehen ist. Auf der Projektionsfläche erscheinen simultan die Selfie-Einstellungen, wenn Benjamin/Louis sich und seine Sitznachbarn filmt oder genüsslich eine Orange isst. Auf die Orange werde ich zurückkommen. Louis/Benjamin, der ehemalige Danseur étoile, bittet seine Sitznachbarin, auf die Bühne zugehen und mit einem Paar Schuhe nach seinen Anweisungen Schritte oder Stellungen auszuführen. Diese ganze Szenerie löst beispielsweise bei den Zuschauerinnen im Rücken des Berichterstatters Lachanfälle aus. Es ist alles so unglaublich lustig und peinlich zugleich, weil die Sitznachbarin sozusagen als Stellvertreterin des Publikums auf die Bühne geschickt wird. Das ist auch Comedy, wie man sie aus dem Fernsehen oder Livestream kennt. Zugleich gibt es einen Wink auf die „eigenen“ Verwicklungen in den Selfie-Kult, den übrigens Madame Pompadour zu einer gewissen Perfektion als Machtpolitik ausgebaut haben wird, wie Andrea Weisbrod gezeigt hat. 

 

 

Nun ist der Berichterstatter kein Experte für Louis XIV., vielmehr sind diese Formulierungen durch Robyn Orlins, Benjamin Pechs und Loris Barrucauds Oh Louis… angeregt. Wir wissen nicht, wer Louis XIV. (wirklich) war. Das ist von ihm selbst mit seinen Mémoires pour l’instruction du Dauphin als Autobiographie(!) erzählt worden. Doch es war Voltaire, der mit Le Siècle de Louis XIV. diesen als Aufklärer und Großen feierte. Die Größe Louis XIV. bei Voltaire wird in seiner Souveränität formuliert. Doch die Souveränität als seine Emanzipation von der Katholischen Kirche in Rom fällt ambivalent aus, weil sie ihn und sein Leben qua dem berühmten Hofzeremoniell, den Tanz, die Gartenarchitektur und wohl nicht zuletzt durchchoreographierten Festen in seinen (eigenen) Automaten verwandelt. Die Erfassung der Welt beispielsweise bis nach China und des Lebens durch Regeln und Berechnungen eines Systems nach dem Modell des Sonnensystems speist Mensch und Leben in einen Automatismus ein.

China kommt nicht ausdrücklich im Text von Oh Louis... vor. Es wird mehr ein Bezug zu Afrika hergestellt, indem Louis XIV. zu einer Art Protorassist erklärt wird. Doch China und Afrika korrespondieren auf geheimnisvolle Weise im neuen Weltbild Louis XIV. Was ist schon dabei, wenn Louis/Benjamin genüsslich, ja, wollüstig eine Orange verspeist? Und wenn es als Selfie auf der Projektionsfläche über der Bühne erscheint? Bei Benjamin Pech wird das Genießen der Orange zu Sex. Auf vielen Sitzplätzen liegt im HAU1 eine Orange. Und Louis/Benjamin lädt die Zuschauer*innen dazu ein, mit ihm die Orange zu genießen. Fast eine Orgie, Gruppensex. Einige tun es, andere nicht. Robyn Orlin und ihr Team treffen damit exakt die Funktion der Orange am Hof von Versailles. Beim Publikumsgespräch sagt ein Zuschauer, er habe sich an den Genuss eines Apfels auch als Sündenfall erinnert gefühlt. Die Orange ist – und das kann man gar nicht stark genug in Anschlag bringen – der Apfel der Verführung und des sexuellen Genusses, wie er sich in der deutschen Apfel-sine oder dem niederländischen Sinas-appel erhalten hat: der Apfel aus China. Die Orange kommt durch das Adelshaus Oranje im 17. Jahrhundert aus China nach Europa. Friedrich II. von Preußen, der Voltaires Louis XIV. als Manuskript zu lesen bekommen hatte, wird Mitte des 18. Jahrhunderts den Mythos von China im Chinesischen Haus materialisieren, wie es Cay Friemuth in Friedrich der Große und China herausgeschält hat 

 

Louis wird den Mechanismus seiner Selbsttechnik kaum durchschaut haben. Sie wird heute auch eher noch als bewunderungswürdig vermittelt und gelehrt. Warum ließ Donald Trump seine Wohnung im Trump Tower in einem trashigen Louis-quatorze-Stil einrichten? Warum rühmt er sich ständig, Frauen einfach zwischen die Beine fassen zu können? Trump führt die Leere des Souveräns unter gleichzeitiger Nutzung von Ich und Twitter im Übermaß auf. Es geht um eine auch widerwärtige Herrschaftspraxis, die dennoch mehr als genug Nachahmer und Bewunder*innen findet. Tendenziell wollen alle ein wenig sein wie Louis XIV., schlägt zumindest Robyn Orlin mit Benjamin Pech und Loris Barrucaud vor. Eine riesige Goldfolie ist von der Bühne bis über die ersten Zuschauerreihen ausgebreitet. Viel Gold. Flächendeckend wie in den kühnsten Träumen Louis XIV. und des Ballettpublikums.

Das Gold raschelt als Folie und wird zugleich als emergency oder safety blanket, als medizinische Rettungsdecke aus Polyester für Flüchtlinge im Mittelmeer verwendet. Die Rettungsdecke täuscht das Gold auch vor. Robyn Orlins Choreografie ist von einer derartigen Doppeldeutigkeiten auf der Bühne (Atelier Macieji Fiszer) durchzogen, dass vielleicht gerade noch ein hysterisches Comedy-Lachen hilft, um sie zu auszuhalten. Wollen wir nicht alle ein bisschen Louis sein? Verfangen wir uns nicht mit unserem Smartphone vor oder während der Vorstellung mit Posts auf Facebook oder WhatsApp in den Algorithmen? In KiTas und Schulen lernen Kinder und Jugendliche heute, wie man sich mit dem Smartphone und Tablet in sozialen Medien, auf Facebook über Instagram bis Snapchat oder Tinder der Konkurrenz der Bilder unterwirft. Sie und wir halten das für ebenso normal wie unvermeidbar. In Oh Louis... wird er effektvoll als Flüchtling aus Afrika vom Gold erschlagen. – Robyn Orlin aus Südafrika lebt übrigens in Kreuzberg.

 

Torsten Flüh     

 

Tanz im August 

bis 2. September 2018

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[1] Vgl. auch: Torsten Flüh:  Künstliche Intelligenz und Monstera deliciosa. Sabine Bendiek von Microsoft Deutschland lädt zum Parlamentarischen Abend über Künstliche Intelligenz. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Juli 2018 19:44.

[2] David Jays: 'The body is a living archive': Wayne McGregor on turning his DNA into dance’. In: The Gauardian Tue 3 Oct 2017 10.25 BST.

[3] Siehe auch: Torsten Flüh: Tanz aus dem Moment zwischen Lebensfreude und Schamanismus. Das Festival TANZ IM AUGUST eröffnet mit SUNNY und Valda & Gus sowie JUCK. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. August 2016 21:00.

[4] Siehe: Torsten Flüh: Ich beim Schreiben des Romans. Dein Name und die Kleist-Preis-Rede von Navid Kermani. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Dezember 2012 19:39.   

[6] Siehe: Wiebke Rolof: Physisches Denken. In: Tanz April 2018. Berlin: Theaterverlag, 2018, S. 12.   

Große Mythen anders und witzig durchtanzt - Zu Nick Power und Euripides Laskaridis/Osmosis bei Tanz im August

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Kampf – Titan – Mythos 

 

Große Mythen anders und witzig durchtanzt 

Zu Nick Powers Between Tiny Ciities und Euripides Laskaridis'/Osmosis' Titans bei Tanz im August

 

Sie haben gerade wieder ein Wochenende von Tanz im August verpasst. – Das ist natürlich keine gute Eröffnung für eine Besprechung, die auf internationale, außerordentliche Tanz-Ereignisse in Berlin aufmerksam machen möchte. Doch das Ereignis kann man nicht vorhersehen, weshalb das Erzählen immer der Nachträglichkeit unterliegt. Die 30. Ausgabe von Tanz im August erfordert die Bereitschaft und Offenheit für das Ereignis. Man kann die Ankündigungen im Programm lesen, vielleicht sogar einen Trailer anschauen, doch das verstellt vielleicht schon die Offenheit, damit das Ereignis eintreten kann. Der Berichterstatter überlässt sein persönliches Programm gern dem Zufall. Was zeitlich passt, schaut er sich an – und ist dann nach einem Wochenende mit 4 Aufführungen K.O.

 

Nach dem K.O. kommt das Erzählen. Choreograph*innen erzählen in sehr unterschiedlichen Modi, weshalb der Berichterstatter immer einen Moment braucht, um etwas nach der Aufführung darüber sagen zu können. Wenn er dann eine Besprechung z. B. zu Between Tiny Cities von Nick Power im großen Saal der Sophiensäle schreibt, geht es ihm nicht um ein blödes Ranking, das eine vermeintliche Vergleichbarkeit allererst herstellt. Vielmehr möchte er formulieren, was an der Choreographie einzigartig war. Between Tiny Cities und Titans von Euripides Laskaridis handeln von mythologischen Kämpfen. Kämpfe können brutal und verstörend oder klug und witzig sein. Power und Lsskaridis gehen in Between Tiny Cities und Titans mit Mythenmaterial ganz unterschiedlich um.

 

In Between Tiny Cities wird gekämpft. Die Zuschauer*innen bilden einen Kreis, in dem der Kampf stattfinden wird. Und in gewisser Weise geht es in dieser Choreographie ein wenig zu wie 2013 beim Kampf von Dalibor Music um die Internationale Deutsche Meisterschaft K1 in Dessau. Nur das Publikum ist ein anderes. Es verhält sich bis auf zwei Kleinkinder ruhiger. Es versucht nicht, in den Kampf einzugreifen. Die Kämpfer werden nicht durch Zurufe angefeuert. Doch ein kleiner Junge reagiert quasi mit Brabbeln, als einer der Tänzer rhythmisch Unverständliches spricht. Ein guter Moment, der überhaupt nicht stört. Vielmehr könnte er zeigen, worum es mit dem Sprechen immer auch geht: eine eigentümliche Kombination aus Kampf, Überbietung und Kommunikation.

  

Kommunikation ist immer auch Kampf durch Überbietung. Es geht darum, dass sich die Gegner herausfordern, reizen, den Körper ausspielen und einsetzen. Schnelligkeit und Geschmeidigkeit zählen mehr als die Schlagkraft der Faust oder Füße. Im Ballett wird nicht zugeschlagen. Doch Nick Powers Choreographie situiert sich an der Schnittstelle von Kickboxen, Elementen des Khmer-Tanzes und Hip-Hop, schon deshalb weil Erak Mith aus Pnom Penh und Aaron Lim aus Darwin sich in der australischen B-Boy-Szene begegnet sind. Die Kommunikation unter B-Boys findet mehr als Kampf bzw. battle, wie es im Jargon heißt, statt.

 

B-Boys tragen ihre Battles auf der Straße aus. Sie tragen Straßenkleidung und entwickeln individuelle Bewegungsabläufe, mit denen sie ihren Gegner durch Artistik, Gestik und Körperpräsenz beeindrucken wollen. Nick Power ist/war ebenfalls B-Boy. Er hat sich in Australien und über ein australisches Tanzstipendium für Paris quasi in die internationale Tanzszene hochgearbeitet. Denn Breakdance als Tanzgenre mit street credibility spielt aktuell für Choreographen eine immer größere Rolle wie auch die umjubelte Deutschlandpremiere von Pixel der Compagnie Käfig von Mourad Merzouki am Centre Choréographique National de Créteil im Großraum Paris deutlich machte.

 

In den Eigen-Choreographien der B-Boys geht es um Wettbewerb, Männlichkeit und Freundschaft. Das Eigene wird durch Stile, Bewegungskombinationen und Posen entwickelt. Es gibt Gesten und Posen bei den B-Boys. Mit Gesten wird gekämpft. Die Pose zeigt, wie man als B-Boy gesehen werden möchte. Die Pose ist der Wunsch oder das Begehren, gesehen zu werden. Die Geste wird im Kampf eingesetzt, wie es Jacques Lacan einmal in seinem Seminar in Bezug auf eine Peking-Oper Aufführung in Paris formuliert hat. Sie ist bereits eine Verletzung oder Unterbrechung und kann als Aggression verstanden werden. Darin besteht die Herausforderung der Geste, die zugleich das Eigene anschlägt.  

 

Wenn Between Tiny Cities als eine Erzählung der Freundschaft zwischen den B-Boys Erak Mith und Aaron Lim gelesen wird, wie es Nick Power im Interview mit Thomas Hahn vorschlägt, dann geht es auch um sprachliche Prozesse durch Tanz.[1] Nick Power erzählt davon, wie er als Jugendlicher in einer kleinen, um nicht zu sagen, tiny (winzigen) Stadt namens Toowoomba in Queensland, 107 Kilometer von Brisbane aufwuchs, durch Hip-Hop Breakdance zum ersten Mal im Video sah und sich selbst als einzigem in der Stadt Breakdance beibrachte. Es gibt immerhin eine regionale Universität für Southern Queensland, wie man heute mühelos aus dem Internet erfahren kann. Doch tendenziell hört sich Toowoomba eher nach Koala und Känguru statt B-Boy an. Die Coolness, um die es auch geht, hat seltsame Ursprünge.

 

Autobiographisches überschneidet sich für den B-Boy mit dem Tanz als eine Art Selbstfindung oder Erfindung des eigenen Stils, was denkbar unbewusst stattfindet, wenn Nick Power etwa James Reddick von der Phnom Penh Post erzählt, dass Aaron Lim einen technischen, geradlinigen Stil entwickelt habe, während Erak Mith nicht einmal wisse, was er tue.[2] Der Körper des B-Boys weiß insofern möglicherweise mehr als er von sich selbst. Man könnte vielleicht sogar sagen, dass das Selbst des B-Boys aus der Differenz entsteht, das sich nicht wissen lässt und das schwierig ist, genau zu wiederholen. 

Aaron has this linear progression that he follows, whereas Erak’s style is just – he doesn’t know what he’s going to do. He does this amazing thing and I’m like ‘oh man, can you do that again?’ And he’s like ‘I don’t even know what I did.’[3]

 

Wenn man am Rande des Kreises während der Deutschlandpremiere von Between Tiny Cities steht, dann ist es auch, als werde ein Mythos von Boyishness, Männlichkeit und Freundschaft zur Wertschätzung aufgeführt. Die Choreographie dauert zwar nur 40 Minuten, doch sie erweist sich als außerordentlich vielschichtig bis zu Erak Miths rhythmischen Versen auf Khmer, in die der kleine Junge wie von selbst einstimmt. Aaron Lim spricht nicht bzw. ausschließlich durch seinen Körper. So unbewusst Erak Mith seine Choreographie auch entwickeln mag, in der immer wieder Gesten aus dem Tai-Chi Chuan aufblitzen, so sehr sind sie doch kulturell durchdrungen.

 

Breakdance und Tai-Chi Chuan oder das aggressivere Kickboxen durchdringen einander. Im Tai-Chi Chuan wird mit einem Repertoire an Gesten gekämpft, um eine Persönlichkeit zu finden. Sie ist weniger eine Ausdruckspraxis als eine Praxis der sich verändernden Bildung. Und Breakdance ist in gewisser Weise ein Protest gegen die Regeln des Tanzes als Ballett, wie es bei Oh Louis … von Robyn Orlin mit Louis XIV. als erstem Tänzer des Staates und damit auch als Verkörperung des Staates vorgeführt wurde. Die Rebellion gegen den Staat und die Ordnung wird durch die Straßenkunst Breakdance in artistischen, gleichwohl kaum oder gar nicht geregelten Gesten aufgeführt. Battle statt Ballett, könnte man sagen. Dem wird auch der aggressive bis zärtliche Sound von Jack Prest gerecht.

 

Der Titel Titans von Euripides Laskaridis‘ Choreographie appelliert unversehens an den Kampf der Halbgötter in der griechischen Mythologie gegen die Götter des Olymps. Es ist nicht nur ein europäischer Mythos, sondern seit Johann Joachim Winckelmann und seinem Bild der Männlichkeit in der Moderne der männliche Mythos von Europa.[4] Zwar wird Europa durch eine gleichnamige Frau als Geliebte, Entführte und wohl durchaus Missbrauchte verkörpert, aber das Bild des Mannes und Menschen in der europäischen Moderne ist der titanische, durch Sport und Diäten gleichwohl sexualisierte Körper des Mannes, wie ihn Johann Joachim Winckelmann in seinen Briefen der Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werk in der Malerey und Bildhauerkunst (1756) formuliert hat.[5] Zwar wird Euripides Laskaridis für das „Kathartische() Gelächter“[6], das seine Kreatur auszulösen vermag, gelobt, doch seine Dekonstruktion des Mythos Europa ist folgenreicher und schmerzhafter.


© Elina Giounanli

„Bedecke Deinen Himmel Zeus“ beginnt der Titan Prometheus bei Johann Wolfgang Goethe 1771 seine Selbsterzählung als Hymnus. Denn Prometheus will bei Goethe ein neues, modernes „Geschlecht“ schaffen: „(n)ach meinem Bilde,/Ein Geschlecht das mir gleich sei,/Zu leiden, zu weinen,/Zu genießen und zu freuen sich/Und dein nicht zu achten,/Wie ich!“[7] Das göttliche Geschlecht der Titanen gerät mit dem Gesetz und der Macht des Zeus‘ ständig in Konflikt. Die Söhne des Titanen Iapetus, vor allem Atlas und Prometheus, werden in der Moderne zu Vorbildern für ein emanzipiertes, europäisches Menschengeschlecht. Prometheus, in etwa der Vorausdenkende, wird zum Inbegriff eines neuen Menschen- und Männerbildes.[8] Die antiken Quellen der Titanen Mythen mögen sich unterscheiden. Doch der Mythos Europa wird in der Moderne mit den männlichen Titanen, die übermenschliches leisten, verknüpft.

 


© Elina Giounanli

 

Das kurze Gedicht Prometheus von Goethe wird in der Literaturgeschichte als eine Art Frühwerk eher marginalisiert. Doch es markiert einen Bruch, an dem sich ein Ich sein eigenes, narzisstisches Spiegelbild als Geschlecht schafft – „Wie ich!“. Die Überschneidung von griechischer Mythologie und Imagination generiert ein rebellisches wie überhebliches Menschenbild als Spiegelung des titanischen Mannes. Der Titan als Geschlecht hat keine Ängste mehr vor der Autorität. Er ist nicht lächerlicher, sondern ein kämpferischer Schöpfer oder Kreator. Euripides Laskaridis' Kreatur gibt sich dagegen ebenso kreativ wie ängstlich. Sie lernt gar die Anbetung einer höheren Macht, einer Göttin oder eines Gottes. Sie entspricht nicht dem Menschenbild der antiken Plastik, wie Winckelmann sie in Perioden hierarchisiert hat.

Euripides Laskaridis Titan/in, er spricht von „creature“ beim Toast an‘ Talk in der Bücherei im August, der Tanz-Bibliothek im Festivalzentrum am HAU2, ist keinesfalls nur lächerlich. Sie ist ein veritabler Skandal des Europa-Mythos'. Geschlechtlich lässt sich sein Titan ebenso wenig wie die eher assistierende Kreatur von Dimitris Matsoukas einordnen. Unter dem fleischfarbenen Anzug mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen lugen die Brusthaare des Performers hervor. Sie hat einen Bauch wie eine Schwangere. Die Kreatur hat eine stark ausgebildete Stirn, mit der sich entweder sehr gut oder sehr schlecht denken lässt. Das lässt sich nicht genau sagen, weil die Aktionen, die sie auf der Bühne ausführt entweder als sehr geheimnisvoll, mythisch oder als kompletter Unsinn wahrgenommen werden können. Auf jeden Fall greift die Kreatur das titanische Bild von Europa.


© Julia Mommert

Zu den Titanen gehören auch die Urverkörperungen von Kronos als Zeit, Ozeanos oder Hyperion als Sohn der Höhe. Laskaridis‘ Titanen lassen sich allerdings nicht namentlich bestimmen. So können die Aktionen auf der Bühne beispielsweise beim Knabbern von Styroporplatten ebenso gut Kronos wie Mnemosyne in Erinnerung rufen. Mit dem Geschlecht der Titanen beginnt quasi eine Benennung und Einteilung der Welt. Die Theogonie des Hesiod schafft eine Genealogie und Ordnung der Welt, in der in jedem Wink ein Gott vermutet wird. Doch diese Anreicherung von Welt mit eigensinnigen Göttern scheitert letztlich auch immer in seiner Komplexität. Gleichwohl gibt es ein Versprechen von Sinn und Kategorien, das indessen nicht identifiziert werden kann. Im Gespräch lehnt Euripides Laskarides Kategorien als Festlegung für seine Performance beherzt ab.

 

Ist das Lachen noch erlaubt? Oder bleibt es schon im Halse stecken? Gelacht wurde herzhaft und etwas eingeübt. War das alles schon Komödie oder noch Tragödie? Ist es überhaupt eine Tragödie Europas, weil sich für Euripides Laskarides nach und mit der Finanzkrise als Grieche der Mythos Europa kaum noch erzählen lässt? Finanzen und Europa erodierten. Griechenland verschluckt in Schulden und heimgesucht vom Braindrain. Natürlich gibt es auch eine gute Portion von Camp und Queerness in Titans. Die Bühne (Euripides Laskarides) ist zwischen Chaos und Drama gut durchkomponiert. Die Originalmusik und der Sound von Giorgos Paulios wechseln zwischen Schöpfungs- und Zertrümmerungsmythos. Alles ist nichts und ganz viel mehr zugleich. Vielleicht gibt es deshalb einen Begeisterungssturm im Publikum am Schluss.

 

Torsten Flüh 

 

Tanz im August 

noch bis 2. September 2018

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[1] Thomas Hahn: Breakin’ the borders. Bei Tanz im August bringen sich B-Boys aus vier Kontinenten in Stellung. In: Tanz im August. Magazin 2018. 31. Juli 2018, S. 63.

[2] James Reddick: Contemporary dance project tells a tale of two B-boys. In: The Phnom Penh Post 31 March 2017 | 07:16 ICT.

[3] Ebenda

[4] Vgl. dazu: Torsten Flüh: Die Geburt der Muckibude aus dem Altertum. 300 Jahre Johann Joachim Winckelmann mit Winckelmann – Das göttliche Geschlecht im Schwulen Museum*. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Juli 2017 22:24.

[5] Vgl. dazu: Torsten Flüh: Zur Verfertigung der Wissenschaft mit Briefen. Die Weimarer Ausstellung und der Katalog Winckelmann. Moderne Antike und die aktuelle Winckelmann-Forschung. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. Juli 2017 19:29.

[6] Florian Gaité: Katharthisches Gelächter. Der umtriebige Performer, Schauspieler und Regisseur Euripides Laskaridis gilt als Neuentdeckung der griechischen Kunstszene. In: Tanz … [wie Anm. 1] S. 28-31.

[7] Johann Wolfgang Goethe: Prometheus. (um 1771) Kaliope

[8] Vgl. auch: Torsten Flüh: Lieber gefesselt und gestochen, als von Angst regiert. Jossi Wielers Prometheus, gefesselt in der Schaubühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. November 2009 20:13.

Mit Künstlicher Intelligenz zur Subversion - Compagnie Käfig mit Pixel und Constanza Macras mit Chatsworth bei Tanz im August

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Hightech – Selbst – Geschichte 

 

Mit Künstlicher Intelligenz zur Subversion 

Compagnie Käfig mit Pixel und Constanza Macras mit Chatsworth bei Tanz im August

 

Künstliche Intelligenz als Digitale Kreation und Geschichten erzählen, Breakdance und Kathak können Grenzen durchlässig machen. Tanz im August rückt mit Pixel von Mourad Merzouki und seiner Compagnie Käfig ebenso wie mit Chatsworth von Constanza Macras/DorkyPark die gesellschaftliche Dimension von Tanz ins Interesse. Marokko und Indien sind in Berlin näher als Chemnitz und Sachsen. Chemnitzer in Berlin können nämlich gar nicht erst auf die Idee kommen, dass sie mehr Berliner seien oder mehr Rechte hätten als Inder, die z.B. in und an der Hasenheide ihren Sri Ganesha Hindu Tempel in aufopfernder Detailarbeit bauen. Berlin ist auch Indien wie Constanza Macras schon mit ihren Tänzer*innen wie dem Kathak-Star Manesh Maharaj aus Chatsworth bei Durban in Südafrika vorschlägt.

 

Tanzen kann als Widerstand praktiziert werden. Mourad Merzouki hat seine Hightech-Choreographie Pixel als ausgegrenzter Pariser im Banlieue mit Breakdance, Hiphop und New Circus entwickelt. Manesh Maharaj positioniert sich in Chatsworth mit dem klassischen Kathak als spirituellem Tanz- und narrativem Erzählstil gegen die Konsumversprechen von Bollywood in Indien und gegen die Ghettoisierung der Inder während der Apartheid in Chatsworth. Es geht bei aller Faszination von Technik und Technologie in beiden Choreographien um Widerstand gegen gesellschaftliche Ausgrenzungen und die Widerstandsfähigkeit des Selbst. Wer allerdings am letzten Samstag Pixel im Haus der Berliner Festspiele und die Uraufführung von Chatsworth im HAU1 hintereinander sah, konnte sich kaum den Standing Ovations und dem Jubel entziehen.


©Laurent Philippe 
 

Welche Geschichten lassen sich heute mit dem Tanz erzählen? Die Création numérique/Digitale Produktion von Adrien Mondot und Claire Bardainne für Pixel ist erst einmal überwältigend. Tausende weißer Punkte werden zu beweglichen Pixeln, die sich auf Schirmen und auf dem Boden der Bühne mittels Projektion von einem einengenden Raster in Schneestürme oder Regengestöber undsoweiter verwandeln. Die zwei- und dreidimensionalen Effekte in Relation zum Sound von Armand Amar wirken atemberaubend. Nichts scheint unmöglich. Indem technisch und tänzerisch die Grenzen des Möglichen gesprengt werden, verwandelt sich Pixel auch in das Versprechen, dass für das Individuum nichts unmöglich sei. Die technischen Möglichkeiten bekommen einen Zug von gesellschaftlicher Selbstermächtigung.


©Agathe Poupeney 

Gegen Ende nimmt der Berichterstatter als optische Täuschung wahr, dass die Tänzer/Performer auf der Bühne viel größer und näher wirken, als er es sonst gewohnt ist. Er weiß wie groß der Abstand zur Bühne aus Reihe 17 ist. Das Centre Choréographique National de Créteil unter der Leitung von Mourad Merzouki als staatliche Einrichtung gehört möglicherweise zu den innovativsten seiner Art an der Schnittstelle von Straßenkunst und Hip-Hop, Breakdance und Bildender Kunst, visueller Technologie als Künstliche Intelligenz und Utopie. Doch das ist noch keine Geschichte. Thomas Hahn erzählt die Geschichte von Mourad Merzouki und seiner Compagnie Käfig als eine Mediengeschichte im TV zwischen Ausgrenzung und Selbstermächtigung. 

Ihnen (Merzouki und Kader Attou aus dem Banlieu, T.F.) wird klar, dass sie in einer geteilten Gesellschaft leben und sie beschließen, sich mithilfe des Breakdance auszudrücken. 1989 gründen Merzouki, Attou und Freunde ihre erste Hip-Hop-Kompanie, Accrorap. Doch erst als sie während des Kriegs in Bosnien für Kinder in einem Flüchtlingscamp tanzen, begreifen sie, welches Potenzial in ihrem Tanz steckt, wieviel positive Energie sich über Hip-Hop weitergeben lässt. 1996 verlässt Merzouki Accrorap und gründet sein eigenes Ensemble:  Compagnie Käfig.[1] 


©Laurent Philippe 

Pixel verändert die individuelle Wahrnehmung. Es entstehen immersive Effekte, wie sie in der Ausstellung Welt ohne Außen – Immersive Räume seit den 60er Jahren vor kurzem im Gropius Bau zu erleben waren. Vielleicht tragen diese Effekte dazu bei, dass das Publikum derart euphorisch die Tänzer, Skater, Kontorsionistin feiert. Die Bühne wird zur Datenbrille, in der B-Boys mit ihren artistischen Körperbewegungen die Pixel verändern können. Die Körper beginnen irgendwann, die Pixel zu beherrschen. Oder ist es umgekehrt? Beherrschen die programmierten Pixel die Körper? Faszination und Schrecken lassen sich nicht genau von einander trennen. Wenn die Tänzer – Kader Belmoktar, Antonin ‚Tonbee‘ Cattaruzza, Elodie Chan, Aurélien Chareyon, Yvener Guillaume, Ludovic Lacroix etc. – die Pixel dirigieren, dann sind das Gesten von Boyishness und Widerstand gegen gesellschaftliche Systeme.


©Patrick Berger 

Die Boyishness, die sich schon in Nick Powers Between Tiny Cities für das Genre als typisch erwiesen hatte, erhält bei Pixel eine noch subtilere Form. Es gibt mit der Kontorsionistin Elodie Chan nur eine Frau im Cast. Auf diese Weise wird Pixel ungewöhnlich stark geschlechtet. Computerpixel und Breakdance funktionieren offenbar ausgesprochen über eine rebellische Boyishness. Setzen sich B-Boys häufiger die Datenbrille aus? Mourad Merzouki formuliert das Projekt der Kombination von interaktivem Video durch Künstliche Intelligenz und Tanz als ein Abenteuer:   

Dieses erste Experiment zwischen Tanz und interaktivem Video war schwindelerregend für die am Projekt beteiligten Künstler. Mit der gleichen Neugier und Offenheit, die mich belebt, konfrontierte ich mich für dieses neue Abenteuer mit diesem unfaßbaren Universum, das die Projektion von Licht ist, das von der Firma Adrien M / Claire B entwickelt wurde. Die Herausforderung, einen Dialog zwischen diesen beiden Welten zu führen, ebenso wie die, die subtile Balance zwischen den beiden Praktiken zu finden, so dass Tanz und immaterielle Repräsentationen sich gegenseitig beantworten, ohne dass einer den anderen übernimmt, destabilisierten mich erneut auf meine Weise, die Geste zu begreifen.[2]

 

Gerade weil sich schwer in Worte fassen lässt, was die Kombination von avancierter Künstlicher Intelligenz und Tanz als Choreographie generieren, entstehen Poesie und poetische Momente und Übergänge. Warum fahren beispielsweise immer wieder ferngesteuerte, kleine Lokomotiven (?) mit einem offenen Licht über die Bühne? Sollen sie an die Maschine erinnern, in der wir uns bereits befinden? Geht es nicht letztlich um eine Grundfrage der Moderne, nämlich der nach den Gefahren der Berechenbarkeit als Verhältnis von Mensch und Maschine? Aus farbigen Pixeln sind eigentlich alle digitalen Fotos zusammengesetzt, was gewöhnlich vergessen wird, damit wir ein Bild sehen können. Wir sehen die Bilder, indem wir gelernt haben, die Pixel zu übersehen, könnte man sagen. Das Verhältnis des Sichtbaren zu seiner technischen Genese wird mit den Projektionen in Pixel verkehrt. In gewisser Weise wird die Maschine von Innen nach Außen gekehrt. In den kleinen Lokomotiven als Urmaschinen wird die unsichtbare Welt der Rechenprozesse als Maschine und Künstliche Intelligenz gleichsam materialisiert sichtbar. Was wir nicht als Maschine sehen, materialisiert sich auch verfehlend in den kleinen Lichtern. Diese Operation wird äußerst verräterisch, weil sich das Ich plötzlich in einer Täuschung sehen sieht.

 

Doch es ist nicht nur der Tanz, sondern auch die alte Körperkunst des Zirkus‘, die Mourad Merzouki mit der digitalen Welt und dem Pixel-Kino kombiniert. Er war in seiner Kindheit als Junge aus dem Maghreb quasi vom Zirkus ausgeschlossen worden. Merzouki spricht von „représentations immatérielles/immateriellen Repräsentationen“, die er in seiner Choreographie besonders beachtet habe. Das erinnert an die verhinderte Repräsentation des kleinen Mourad und an Jacques Rancières elfte „Szene“ aus Aisthesis, Die Maschine und ihr Schatten, in der er von der „ambivalenten Stellung der Figur Chaplin“ schreibt.[3]„Die neue Kunst der visuellen bewegten Formen steht im Gegensatz zur Kunst der Repräsentation, das heißt der Kunst, die auf die passive Reproduktion einer vorher existierenden Gegebenheit gründet“, schreibt Rancière.[4] Insofern als die Projektionen von Pixel ebenfalls „visuelle() bewegte() Formen“ sind, die interaktiv mit den Tänzer-Performern generiert werden, wird Pixel zu einer Kombination aus neuem Kino und neuem Zirkus, in dem der Körper durch die Kontorsion fast fließend wie die Pixel-Wellen werden. Denn der Zirkus handelt nach Rancière mit den Hanon Lee als Akrobaten vom „Unmöglichen“.[5] 

Die Hanon Lees stellen diese Virtuosität in den Dienst von Schauspielen, die die Wohlgeordnetheit der Handlungen und den Sinn der gesellschaftlichen Werte auflösen.[6] 

 

Man kann Pixel als Hightech-Show sehen und sich nach der Praxis der Immersion einfach mitreißen lassen. Oder man kann die vielfältigen gesellschaftlichen Anspielungen von Hip-Hop, Breakdance, Zirkus und Maschine mitlesen. Hinter der ausgefeilten Show schimmern immer die Straßenkunst und der nomadische Zirkus durch. Sind die Kombinationen des Breakdance mit der Künstlichen Intelligenz die Zukunft des Tanzes? Große kommerzielle Show und Darstellung des tendenziell undarstellbaren Digitalen als Versprechen und Schrecken? Pixel tourte seit 2014 durch 166 Städte und 19 Länder. Pixel ist als Show offenbar sehr erfolgreich. Die Aufführung im technisch sehr gut ausgestatteten Haus der Berliner Festspiele war restlos ausverkauft, der Jubel groß.


©Thomas Aurin 

Constanza Macras erzählt mir ihrer Compagnie DorkyPark anders. Sie erzählt und dekonstruiert mit Chatsworth die Tanzszene und den Rassismus, indem sie an dem südafrikanischen ehemaligen Ghetto oder Township die Mechanismen der Selektion, Umsiedlung, Zentralisierung und Ausgrenzung wort- und videoreich vermittelt. Die ambivalente Geschichte von Chatsworth lässt sich offenbar collageartig erzählen. Ausgerechnet in Chatsworth kann ein klassischer Künstler und spiritueller Kathakar wie Manesh Maharaj existieren, während in Indien Bollywood regiert und die Wahrnehmung prägt. In Constanza Macras Choreographie existiert Bollywood neben Kathar und das Ensemble besteht mit Emil Bordás, Avishka Chewpersad, Sivani Chinappan, Fernanda Farah, Manesh Maharaj, Thulani Mgidi, Kamara Naidoo, Priyen Naidoo, Miki Shoji, Vária Linnéa Sjöström, Fana Tshabalala, Yuya Fujinami keineswegs nur aus Inder*innen oder indischstämmigen Performern.


©Thomas Aurin 

Was soll man heute noch erzählen und tanzen? Constanza Macras spielt die Frage z.B. mit einer Szene aus Leonard Bernsteins West Side Story zumindest an. Miki Shoji wird dabei zur Puerto Ricanerin. Geht das 2018 überhaupt noch, „I like to be in America“ mit starkem Puerto Ricanischen Akzent zu singen, während Trump Millionen „Dreamer“ zurückschicken will? Welche Rechte haben „Dreamer“ in Amerika? Und wäre Leonard Bernsteins Akzentsong heute nicht eher diskriminierend, während er 1957 noch als großes Versprechen der Freiheit wahrgenommen werden konnte? Oder war da schon eine gute Portion Satire drin? West Side Story und der America-Song gehen als Ohrwurm und Pop durchaus noch, wenn man die prekären Versprechen und Leonard Bernsteins homosexuellen Identitätskonflikte wie in A Quiet Place (1983/2013)[7] oder als bitterböse Satire schon in Candide (1956)[8]– „Glitter and be gay, That's the part I play;“ – nicht bedenkt.


©Thomas Aurin 

Chatsworth verknüpft durchaus am Puls der Zeit Bollywood mit Kathak, Identitätskritik mit Emanzipation und Tanz mit Politik. Bollywood als Tanztheater. Es ist ja nicht so, dass die indische Diaspora-Gesellschaft von Chatsworth schwule Söhne nicht diskriminieren würde, wie ein Tänzer, Priyen Naidoo, übrigens umwerfend charmant erzählt. Es wird überhaupt viel erzählt wie im  Tanztheater. Erzählt, gesungen – z.B. mit mehreren finnischen, niederländischen oder afrikans Songs Vária Linnéa Sjöström –, getanzt wird auf die unterschiedlichsten Weisen. Miki Shoji, die schon seit 2009 mit Constanza Macras zusammenarbeitet, erinnert an ganz großes Tanztheater von Pina Bausch weniger als Ausdruck, denn als Suche nach Ausdruck. Es geht um ein diasporisches Selbst, wie es Macras knapp formuliert: 

Through the lens of Bollywood, the performers immerse in a universe of assimilation, transformation and resilience: the diasporic self.[9]


©Thomas Aurin 

Das „diasporic self“ kann vielleicht zweierlei heißen: das Selbst in der Diaspora und das Selbst als Diaspora. Denn es geht mit der indischen Gemeinschaft in Südafrika durchaus um eine verstreute Minderheit. Andererseits kann das Selbst eben durchaus verstreut sein durch die Prozesse von Assimilation, Transformation und psychische Widerstandsfähigkeit/Resilienz. Die Charaktere, könnte man sagen, jedes Ensemblemitglied ein Charakter, der eben noch die indische Trommel spielt – Musik: Almut Lustig, Vishen Kemraj –, um sich sogleich auf der Bühne in eine Szene verwickelt zu finden. Jede/r schlüpft in verschiedene Rollen. Und die Gesangseinlagen von Vária Linnéa Sjöström, die sich wegen der Sprachen nicht verstehen lassen, vom Felsen (Bühne: Irene Pätzug) fallen immer ganz poetisch aus, als wenn ein Kind zu seiner Beruhigung träumt und vor sich selbst hinsinkt. Das könnte man auch als eine Übung der Resilienz verstehen. Das Selbst und das Lied auf einem Felsen, der die Rettung bedeuten könnte und irgendwie umkämpft ist, weil es das Selbst nicht so einfach gibt.

  

All das ist ein großer, künstlerisch anspruchsvoller Mummenschanz mit wechselnden Kostümen, vielen Kostümen, Masken, Bedeutungen und Spielen um das Glück in einer Welt, in der sich alles verwandeln kann, in der die viel zu kleinen, ghettoisierenden Häuser für Inder aus den 1950er Jahren sich plötzlich in bunte Miniaturpaläste mit Garage verwandeln können. Die fast schon hinduistische Seelenwanderung als Verwandlung des Selbst. Und schließlich verwandelt dich der Fels, der Rettung versprach, in eine Dusche, indem er vom Schnürboden hochgezogen wird. Fana Tshabalala tanzt schließlich unter dem riesigen Duschkopf und schlägt mit den Händen auf den Boden. Das Wasser wird weiß, als ginge es um ein Whitewashing. Die Aktionen können immer mehrere Bedeutungen zugleich bekommen.

 

Mit Chatsworth hat Constanza Macras ein wirklich hochwertiges, dekonstruktivistisches Bollywood-Musical geschaffen. Alles präsentiert sich wie Bollywood nicht zuletzt wegen der originalen Bollywood-Choreographien von Shampa Gopikrishna. Respektvoll wechseln die Choreographien zwischen Kathak, Bollywood und Tanztheater. Vielleicht gibt es noch ein paar Längen. Die videogestützten Erzählungen wechseln mit mythologischen Erzählungen von indischen Diamantenhändlern, die ins hinduistische Kloster gehen, um sich die Haare einzeln auszureißen und das Selbst in einer religiösen Praxis auszulöschen. Koloniale Besitznahme wird pantomimisch vorgeführt, um als identitätsstiftend verworfen zu werden.

 

 

Das Selbst in Chatsworth und in einer Welt zwischen Indien und Berlin muss sich zugleich ständig anpassen und widerstandsfähig bleiben. Man kann Constanza Macras eine Hohe Priesterin der Diversität nennen. Bereits im Januar 2005 hatte sie an der Schaubühne Big in Bombay herausgebracht und war damit um die Welt getourt. Chatsworth ist ungleich subtiler und vielschichtiger. Die Zeiten haben sich durchaus krass verändert, so dass das Selbst gerade im Tanz auf ganz andere Arten befragt werden kann und angesichts eines sich perpetuierenden wie sich steigernden Rassismus werden muss. – Am 1. September um 20:00 Uhr führt Manesh Maharaj Avahan in der Klosterstraße 44 in Berlin-Mitte auf.

 

Torsten 

 

Tanz im August 

Noch bis 2. September 2018 

 

Contanza Macras/DorkyPark 

Chatsworth 

 

Manesh Maharaj 

AVAHAN 
1. September 2018, 20:00 Uhr 

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[1] Thomas Hahn: Breakin’ the borders. Bei Tanz im August bringen sich B-Boys aus vier Kontinenten in Stellung. In: Tanz im August. Magazin 2018. 31. Juli 2018, S. 57.

[2] Mourad Merzouki: Pixel. (2014). (Übersetzung T.F.) CCN Créteil 2014.

[3] Jacques Rancière: Aisthesis. Vierzehn Szenen. Wien: Passagen Verlag, 2013, S. 244.

[4] Ebenda.

[5] Ebenda 5. Die Akrobaten des Unmöglichen. S. 99

[6] Ebenda S. 111.

[7] Vgl. auch: Torsten Flüh: Familientreffen amerikanisch. Zur Uraufführung von Leonard Bernsteins A Quiet Place im Konzerthaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. November 2013 22:02.

[8] Vgl. auch: Torsten Flüh: Böse, bunt, berauschend – Bernstein. Leonard Bernsteins Candide an der Staatsoper im Schiller Theater. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Juni 2011 22:21.

[9] Siehe Constanza Macras Dorkypark: World Premiere: Chatsworth. 05/08/2018. 


Verspätete Ankunft der Moderne - Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin, dem Rotterdam Philharmonic Orchestra und Horos Meteoros von Jakob Ullmann

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Moderne – Musik – Publikum 

 

Verspätete Ankunft der Moderne 

Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin, dem Rotterdam Philharmonic Orchestra und Horos Meteoros von Jakob Ullmann 

 

Es ist ein Blogger-Dilemma: soll man kurz und mehr oder weniger belanglos über die Musik der Moderne bloggen, während in Berlin nicht nur exzellente Konzerte und Musikereignisse sich im 24-Stunden-Takt jagen, damit sich dann die Aufmerksamkeit versendet in den Weiten des Internets? Oder soll man mehrere Ereignisse thematisch bündeln und ausführlicher bedenken? Kurz und knapp und weg? Oder länger, durchdacht und vielleicht nachhaltiger? Mehr als 2 Minuten Lesedauer sind im Twitter-Universum zu viel. Gepostet und retweetet wird im Sekundentakt. Lesedauer ist Aufmerksamkeitsinvestment oder alles rauscht sowieso vorbei. Durchdenken und durcharbeiten fallen schon lange ins Loch der Blogosphäre. Trotzdem und gerade deshalb lohnt es sich, einmal drei aktuelle Musikereignisse zu besprechen.

  

Zu einer Sternstunde des Musikfestes Berlin wurde am Samstag das Eröffnungskonzert mit Daniel Barenboim und der Staatskapelle Berlin nicht so sehr wegen dem durchaus melodisch ausgearbeiteten Le Sacre du Printemps von Igor Strawinsky, sondern weil der Maestro das Konzert mit einem Konventionsbruch begann. Daniel Barenboim, der große Dirigent, Pianist und Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden, wandte sich mit dem Mikrophon an das Publikum, um in Rituel in memoriam Bruno Maderna seines Freundes und Lehrers Pierre Boulez einzuführen. Am zweiten Abend des Musikfestes erwies sich Yannick Nézet-Séguin mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra als ebenso präziser wie inspirierter Dirigent mit Sinfonien von Bernd Alois Zimmermann und Anton Bruckner. Zuvor hatte der Berichterstatter gar Jakob Ullmanns faszinierende Horos Meteoros mit dem ensemble mosaik im Kulturquartier silent green gelauscht.    

 

Die aktuelle Musikszene in Berlin ist außerordentlich lebhaft. Ständig werden neue Kombinationen und crossovers ausprobiert und aufgeführt. Mikromusik des DAAD hat der Berichterstatter in diesem Jahr wegen der Hitzewelle Mitte August schlechthin ausfallen lassen. Warum macht man aktuelle Musik? Diese Frage hat zwei Ursprünge: erstens wundern sich Freunde darüber, dass befreundete Künstler aktuelle Musik und Uraufführungen spielen, obwohl die Konzerte dann nicht ausverkauft oder gar nur dünn besucht sind; zweitens kennt der Berichterstatter kaum einen spannenderen Bereich als die aktuelle Musik in Berlin, die ständig neue Anstöße gibt. Sie wird auf höchstem technischen und intellektuellen Niveau, wenn man so will Weltniveau aufgeführt.

 

Es gibt in Berlin derzeit unterschiedlichste Akteure in der aktuellen Musik vom Weltstar Daniel Barenboim bis zu PHØENIX16 um Timo Kreuser. Das Berliner Künstlerprogramm des DAAD mischt mit seinen Künstlern in Festivals wie ultraschall oder MaerzMusik mit. Ein Kenner der internationalen Musikszene sagte auf dem Empfang nach dem Eröffnungskonzert, dass es in Berlin anders als in New York oder Paris überhaupt ein ungewöhnlich großes Publikum für Klassische Moderne, Zeitgenössischer oder Aktuelle Musik gebe. Es ist ja keinesfalls so, dass es die Moderne gegeben hat und jetzt könnte man weiterhin Musik nach den Regeln und Schemata der Vormoderne. Es gibt eine Geschichtlichkeit der Musik, in die jede/r Komponist/in und jede/r Interpret/in eingebettet ist. Weil Musik nicht ohne Geschichte gemacht und wahrgenommen wird, transformiert sie sich auch ständig.

 

Daniel Barenboim ist nicht nur ein außerordentlicher Bruckner-, Wagner- und Opern-Dirigent, vielmehr sollte er stärker als leidenschaftlicher Anstifter und Lehrer gewürdigt werden. Wem der Begriff des Lehrers zu stark ist, kann ihn in Richtung Vermittler verschieben. Mit allergrößter Selbstverständlichkeit nimmt er das Mikrophon und erklärt für das Publikum, dass Pierre Boulez seit den späten 80er Jahren Rituel nicht mehr als Orchester auf dem Podium, sondern möglichst in 8 Gruppen im Saal verteilt, aufführen lassen wollte. Wenige Konzertsäle eignen sich dafür besser als die Philharmonie von Hans Sharoun. Es geht um einen Klangraum und „Raumklang“[1] anstelle des Orchesterapparates auf dem Podium. Was passiert mit dem Klang, wenn er sich nicht mehr auf dem Podium zentralisieren lässt? Was verändert sich in der Wahrnehmung, wenn man nicht mehr die einzelnen Stimmen und Gruppen im Orchester sehen kann? – Ich werde mit Jakob Ullmanns Horos Meteoros, das diese Fragen noch radikaler verarbeitet, darauf zurückkommen.


© Kai Bienert

Engagiert führt Barenboim am Pult mit den riesigen Seiten der Partitur vor, wie immer wieder derselbe „Akkord in seiner Komplexität“ von den 8 Gruppen variiert wird. Es geht, wie Barenboim – nach Erinnerung – erklärt, darum dass der Akkord am Ende genauso klingt, wie beim ersten Mal, „wenn es gelingt“, wie er hinzufügte. Was Barenboim vorführte, unterscheidet sich noch einmal von dem Essay, Musikalische Rituale: Inhalt und Form, den Martin Wilkening für das Programmheft geschrieben hat. Barenboim erklärt mit Beispielen vorab, wie er praktisch mit dem Orchester das Stück eingeübt hat. Statt Geschichte und Theorie kann der Dirigent ganz praktisch das Musikmachen erklären und vorführen.


© Kai Bienert

Gleichzeitig muss man sagen, dass die Funktion des Dirigenten in Rituel denkbar stark zurückgenommen wird. Er gibt für die jeweilige Kombination der 8 Gruppen nur den Einsatz, damit sich dann der Akkord in den Gruppen aus Schlagzeug und Bläsern sowie Streichern in Gruppe 6 ausdehnen kann. Er gibt den Einsatz zu einer jeweils neuen Variation mit dem erhobenen rechten Daumen, als drücke er einen Knopf oder Schalter, woraufhin der Akkord im Gong einsetzt und wiederholt wird. Boulez selbst hat darin die Einzigartigkeit der Musik von Bruno Maderna, seinem Lehrer, gesehen und formuliert. 

Die besten Aspekte, die großartigsten Momente seiner eigenen Musik, entspringen diesem unmittelbaren, irrationalen Gespür für Musik und aus diesem Grund sind seine erfolgreichsten Stücke diejenigen, die den Musikern die größte Eigeninitiative zugestehen. Am Schluss seines letzten Werks, eines Oboenkonzerts, schrieb er: „Ich hoffe, dass ich genügend Material für den Solisten, den Dirigenten und das Orchester bereitgestellt habe, um sie mit dem, was ich geschrieben habe, zurechtkommen und sich daran erfreuen zu lassen.“[2]

  

Die Aufführungspraxis wird höchst irritierend, weil der große Dirigent Daniel Barenboim quasi nicht dirigiert, wie es die Konvention ist. Vielmehr knüpft er Boulez‘ „Porträtskizze“ an. All jene Gesten und Mienen entfallen, die das Publikum häufig als Emotionen wahrnimmt, um danach den Dirigenten zu beurteilen, bis zu dem Punkt, dass Julia Spinola aus der Saisoneröffnung der Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko eine „vorgezogene Hochzeitsnacht“ à la Hedwig Courts-Mahler macht.[3] Das ist auch Geschichte. Aber auf welchem Niveau?! Gerade dadurch, dass die Gruppen im Raum verteilt sind, müssen sich die Hörer*innen auf das Hören und nicht das Sehen verlassen. Niemand wird alle Gruppen zugleich sehen können, um – und man bedenke den Effekt – die Musik im Klang zu verstehen. Das Publikum muss sich auf das Hören der Musik verlassen und fühlt sich besonders herausgefordert.

 

Nun ist es in der Philharmonie so, dass keineswegs nur Berliner oder deutschsprachige Menschen das Publikum bilden. Die Philharmonie ist international und mehrsprachig. Das wird gewiss auch der Fall in der Staatsoper sein. Doch mit einer gewissen Unbefangenheit und Selbstverständlichkeit sprach Daniel Barenboim deutsch, was auch sehr charmant war. Immerhin konnte ich meiner irritierten, wahrscheinlich spanischen Sitznachbarin auf Englisch vermitteln, dass Barenboim ein Schüler und Freund und also ein hervorragender Kenner dessen Komposition und einer angemessenen Aufführungspraxis sei, um ihr im Programmheft nach der Pause das Foto des jungen, faszinierten Daniel Barenboim mit Pierre Boulez, der offenbar im Tonstudio eine Partitur erklärt, zu zeigen. Vielleicht gibt es einen gespaltenen Dirigenten Barenboim, den Virtuosen und den Vermittler. Als Freund und Schüler hat er den Pierre Boulez Saal initiiert und für ein anderes Hören geöffnet. So heißt denn auch die „Leitidee“ für „sein“ Pierre Boulez Saal-Programm „Musik für das denkende Ohr“.

 

Worum es mit der „Musik für das denkende Ohr“ und Musik überhaupt geht, führte Daniel Barenboim, der ebenso geschickt Placido Domingo und Anna Netrebko in die Staatsoper für Verdis Macbeth zu holen weiß, mit Rituel vor. Natürlich muss ein Dirigent nicht dirigieren, wenn eine Gruppe einen Akkord hält bzw. mit „Eigeninitiative“ durchspielt. Barenboim blätterte dann gleich einige Seiten weiter in der Partitur, was während eines Konzertes witzig wirken kann. Doch zugleich regt es dazu an, über die Funktion des Dirigenten nachzudenken. Im Unterschied zum Esssay von Martin Wilkening, der durchaus musikhistorisch ausgerichtet ist – „Maderna war Venezianer, und man kann die gewissermaßen mehrchörige Anlage von Rituel mit seinen acht Klanggruppen nebenbei als eine Hommage an die Musikgeschichte dieser Stadt verstehen, die untrennbar mit der Entwicklung der Mehrchörigkeit verbunden ist.“[4]–, gab Daniel Barenboim einen unschätzbaren Einblick in das Musikmachen mit Rituel in memoriam Bruno Maderna.


© Kai Bienert

Am 9. Juni 2017 hatte Sir Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern Igor Strawinskys Le Sacre du printemps in einer schonungslosen Radikalität aufgeführt, was durchaus Unmut beim Publikum hervorrief. Das eröffnende Fagottsolo spielte weniger eine Melodie, als dass es dem ersten Teil, des 3. Aktes von Rattles Tristan mit den Berliner Philharmonikern 2016 glich.[5] Das Melodische bietet einen Halt nicht zuletzt in Le Sacre du printemps. Schon beim Fagottsolo, denkt der Berichterstatter, ah, beim Barenboim gibt es Melodie. Wahrscheinlich gibt es, streng gesehen, nur zwei Interpretationsmöglichkeiten für Le Sacre. Entweder man lässt sich Melodie und das Melodische als Versprechen oder Hoffnung im Stück zu oder man lässt sie weg. Es dreht sich viel um das Melodische als das Liedhafte, während Strawinsky doch vor allem auf das Rhythmische, Archaische und vielleicht gar Grausame im Frühlingsopfer setzte. Auf faszinierende Weise ließ sich so mit dem Eröffnungskonzert, fast möchte man sagen, der doppelte oder auch gespaltene Barenboim erleben.    


© Kai Bienert

An dieser Stelle wird nun eine kurze Besprechung von Horos Meteoros von Jakob Ullmann in der Kuppelhalle des ehemaligen Krematoriums Wedding und Kulturquartiers silent green eingeschoben. In der achteckigen Kuppelhalle sind die Stuhlreihen auf den schwarzen Vorhang ausgerichtet. In der Mitte des Raumes ein Mikrophon. Die Seiten sind mit den schwarzen Vorhängen aus der Zeit des Raumes als Trauerhalle verhängt. Es ist nichts zu sehen, außer die teilweise leider leeren Stuhlreihen. Kein Orchester wird auftreten. Keine Musiker werden zum Musizieren Platz nehmen. Im Publikum der Komponist Jakob Ullmann. Das Konzert mit dem kryptischen Titel wird exakt 55 Minuten und 3 Sekunden dauern. Tatsächlich wird es in Ullmanns Stück um das Hören, um das Schauen, auch das Wegschauen und die „Reaktion des Publikums“ gehen. Denn er knüpft an Ἱκέτιδες/Hiketides, Die Schutzflehenden, von Euripides an. 

Horos Meteoros ist Jakob Ullmanns radikale Oper …, in der er dem Publikum jegliches szenische Geschehen, jegliche Entwicklung und sogar das Schauen verweigert, vielmehr die Situation herumdreht und die Reaktion und Situation des Publikums zum eigentlichen Ursprung des Dramas erklärt.[6]

  

Das Publikum wird zum Mitwirkenden in Horos Meteoros. Das Stück wurde am 19. Juni 2017 in Athen im Rahmen der Documenta14 aufgeführt. Am 28. August führten es PHØNIX16 und das ensemble mosaik auf. Fast nie liest der Berichterstatter, das Programmheft vorher. Dann könnte er ja auch kaum noch reagieren. An der Grenze des Hörbaren werden in unterschiedlichen Intensitäten Atem- und/oder Windgeräusche aus der Stille vernehmbar. Es lässt sich nicht sagen, von wo sie kommen oder mit welchem Instrument, gar der Stimme sie gemacht sind. Der Ursprung des Hörbaren lässt sich nicht verifizieren, wobei sich strukturell an Pierre Boulez‘ Rituel erinnern lässt, dass der Berichterstatter erst nachträglich gehört haben wird. Wir wissen nicht, ob für Jakob Ullmann beim Komponieren Boulez und Rituel eine Rolle gespielt haben. Es lassen sich Verknüpfungen herstellen. Obwohl das Bildmaterial auf NIGHT OUT @ BERLIN konzeptuell in unterschiedlichen Weisen eingesetzt wird, stellt Horos Meteoros den Blogger auch vor die Schwierigkeit, wie er schreiben soll, um nicht nur eine „Blogwurst“[7] also einen heruntergeschriebenen und dadurch erschwert zu lesenden Text zu schreiben. Welche „Reaktion“ des Publikums gab es denn? Nun, erzählt werden kann, dass der Berichterstatter sich zu orientieren versuchte und seine Konzentration aufwendete, um das kaum Hörbare erst einmal ohne die Rahmung durch Euripides‘ Hiketides zu hören. Es gab aber auch eine „Reaktion“ im Publikum, dass ein jüngerer Mann leicht gelangweilt auf seinem Smartphone herumwischte. Während sich eine Melodie genießen lässt und sie vielleicht durch die Wiederholung eng mit dem Genuss verknüpft werden kann, unterläuft Ullmanns Komposition ohne Melodie auch das Genießen. Wenn man einen Kopfhörer aufsetzt und ein Konzert hört, dann sieht man das Musikmachen auch nicht. Aber in einem Konzert kommt doch, obwohl es um das Hören geht, immer irgendwie das Sehen als Vermittlungsebene der Musik hinzu. „Horos Meteoros ist verbannte Musik und verbannte Musiker, ist Musik ohne Musiker und Musiker ohne Musik. Oper ohne Drama und Drama ohne Oper. Horos Meteoros ist eingesperrte Musik mit eingesperrtem Publikum“, heißt es salopp auf dem Programmzettel. Die Türen gehen zu und die schweren, schwarzen Vorhänge werden zugezogen. Es wird gelauscht, wann und ob die Musik einsetzt und endet. Vielleicht macht das Lauschen allererst die Musik. Wer nicht lauschen kann oder will, hört in der „verbannte(n) Musik“ gar keine. Bei 55 Minuten und 3 Sekunden kann man die Musik langsam angehen lassen. Jakob Ullmann lässt in Horos Meteoros das Hören und Wissen von der Musik komplett in der Schwebe. Da gibt es Bezüge zu Pierre Boulez und die radikale Frage danach, was Musik ist, womit sie einsetzt und was das mit dem Hörer-Ich macht. Was wird man noch alles über Horos Meteoros erzählen können, wenn es insbesondere ein Ohne? – Ich breche hier ab. – Doch die Tonaufnahme, der die Wiederaufnahme „aus Mitteln des Wiederaufnahmefonds“ galt, wird trotz aller digitaler Raffinesse (k)ein Konzert sein und schon gar nicht wie in der Kuppelhalle.

 

Yannick Nézet-Séguin sorgte mit der Aufführung von Bernd Alois Zimmermanns Sinfonie in einem Satz in der Fassung mit Orgel von 1951 durch das Rotterdam Philharmonic Orchestra für einigen Furor. Anlässlich des 100. Geburtstages setzt das Musikfest einen Schwerpunkt mit Stücken von Bernd Alois Zimmermann, die kaum im Repertoire gespielt werden. Die Sinfonie in einem Satz ist schon vom Titel her, eine das Regelwerk einer Sinfonie in Frage stellende. Denn eine Sinfonie hat wie die Symphonie Nr. 4 in Es-Dur von Anton Bruckner, die das Orchester als zweiten Teil des Konzertes spielte, üblicherweise 4 Sätze. Aus der Sinfonie in einem Satz klingt bei Zimmermann die Gewalt der Zerstörung des 2. Weltkrieges. Sie beginnt wie eine Detonation im Orchester. Zimmermann, der sich in seiner musikalischen Eigensinnigkeit keiner Schule zurechnen lässt, macht mit seiner Sinfonie in einem Satz auch ein Ende der Sinfonie. Denn sie blieb seine einzige. Während die Großform der Sinfonie seit der Klassik sozusagen die Königsdisziplin des Komponierens in seiner Komplexität ausmachte, beginnt und endet sie bei Zimmermann mit einem gewaltigen einzigen Satz.

 

Furtwängler und Karajan beispielsweise werden mit der Sinfonie in einem Satz wenig angefangen haben können. Denn es war ja auch keine Sinfonie. Haben die Berliner Philharmoniker sie einstudiert? Am 13. Februar 2009 hat Sir Simon Rattle sie in einem Schumann-Programm (!) in der 2. Fassung von 1953 mit den Philharmonikern aufgeführt.  Uraufgeführt wurde die erste Fassung am 3. März 1952 in Köln durch das Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester unter Leitung von Hans Rosbaud. Zu den Eigenarten von Bernd Alois Zimmermann gehören ziemlich kryptische, durchaus mit einer positiven Geste versehene Beschreibungen seiner Werke. So auch 1952 zur Sinfonie in einem Satz als könnten noch weitere ähnliche Werke folgen. Die Katastrophe und ihre Folgen werden auf für 1952 vielleicht typische Weise nicht angesprochen. Das Trauma ist noch frisch. 

Die Sinfonie in einem Satz ist 1951 entstanden. Es handelt sich bei diesem Werk nicht um eine Auseinanderreihung mehrerer Sätze, die ohne Pause, unter Einschaltung von verbindenden Zwischengliedern, durchgespielt werden, sondern um ein musikalisches Gefüge, welches aus einer einheitlichen Grundsubstanz, einer Grundgestalt, entwickelt wird und von dort seine Form erhält.[8]  

 

Eine Auseinanderreihung ist eine durchaus eigensinnige Auffassung der Satzform einer Sinfonie. Zimmermann verneint sie, um anstelle dessen „ein musikalisches Gefüge, welches aus einer einheitlichen Grundsubstanz, einer Grundgestalt,“ zu „entwickel(n)“. Beobachten lässt sich, dass Zimmermann um 1950 womöglich all jene überkommenen Formen wie bei den Rheinischen Kirmestänzen 1950 aufgreift, um sie umzuschreiben. Eine „einheitliche Grundsubstanz“ wird dort formuliert, wo eine Detonation stattfindet? Und welche Rolle spielt dann das religiös so überaus stark besetzte Instrument der Orgel? In dem Klanggewitter lässt sich das Kircheninstrument der Orgel kaum vernehmen, wenn das Rotterdam Philharmonic Orchestra sie in der Philharmonie mit der geradezu legendären Schuke-Konzertorgel einsetzt. Kein Gloria, kein Triumph, kein Trost durch die Orgel. Yannick Nézet-Séguin und das Rotterdam Philharmonic Orchestra entfalten die durchaus verstörende Kraft der Sinfonie in einem Satz.

 

Einen größeren Kontrast als Anton Bruckners Symphony Nr. 4 in Es-Dur kann es kaum zur Sinfonie in einem Satz geben. Bei Bruckner ist zumindest mit Yannick Nézet-Séguin alles heil und gut. Statt „Auseinanderreihung“ funktioniert das Regelwerk der sinfonischen Musik und Sinfonie mit Themen, Seitenthemen und einem „Bild“ wie am Schnürchen. Die „Romantische“ ist bei Bruckner und Nézet-Séguin nicht einen Moment zerrissen oder zweifelnd. Während der Dirigent Zimmermanns Sinfonie vom Blatt dirigiert hatte, führte er das Orchester nun quasi auswendig durch alle gleichwohl harmonischen Steigerungen des Stücks. Die Romantik ist bei Bruckner eher Spitzweg als Caspar David Friedrich. 

Der Komponist fand hierfür das Bild der Morgendämmerung in einer mittelalterlichen Stadt – zeitloser erscheint seine Idee der Klangformung aus dem Nichts mit Entwicklung großer Bögen, deren innerer Zusammenhang bis zum Finale aufrechterhalten wird. Das vogelrufartige „Zizibe“-Seitenthema lässt die Natur antworten, deren Stimmen sich zu einem mächtigen Unisono-Strom vereinen.[9] 

 

Die Romantische wird 1874 komponiert, umkomponiert und 1881 von Hans Richter mit den Wiener Philharmonikern uraufgeführt. Für Romantik und Naturromantik ist es nach einer „schweren Börsenkrise von 1873“[10] und auch in der aufstrebenden Industriemetropole Wien eigentlich schon ziemlich spät. Obwohl Bruckner an seinen Symphonie-Partituren viel gezweifelt haben soll, lassen sich so gut wie keine Zweifel in der Form wahrnehmen. Vielmehr entspricht Anton Bruckners Musik dem Modell des Perfektionisten, der durch Überbietung keine Zweifel aufkommen lassen will oder darf. Die ständigen Überarbeitungen und Verfeinerungen versetzen das Werk gerade auch bei der Vierten in eine gewisse Unruhe, die von „der Bruckner-Philologie“[11] indessen beruhigt werden muss. Anders gesagt: in dem Maße wie die Perfektion vorangetrieben wird, verdeckt sie den Zweifel. Vereinfachung der Stimmführung und Vereinheitlichung des Periodenbaus sieht Olaf Wilhelmer denn auch als Strategien der Überarbeitungen.

 

Yannick Nézet-Séguin interessiert sich vermutlich weniger für die Widersprüchlichkeit des Brucknerschen Kompositionspraxis. Er bringt die 4. Symphonie zum Strahlen und Strahlen. Nach der Katastrophe bei Zimmermann ist nun alles wieder gut. Und wahrscheinlich ist es genau das, was das Publikum zu hören wünscht. Die musikalische Exzellenz der Aufführung ist ganz und gar unbestreitbar. Das Publikum ist begeistert. Der Dirigent ist dabei ganz und gar ungekünstelt und versteht sich ganz offenbar mit dem Orchester, das er quasi groß gemacht hat. An diesem Abend trägt er sogar nur ein modisches, schwarzes Hemd statt eines Fracks, mehr Unkompliziertheit und Nähe geht eigentlich gar nicht. Er ist längst ein technisch perfekter Stardirigent. Und das Rotterdam Symphonie Orchestra ist womöglich einen Tick populärer als das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam. 

 

Torsten Flüh 

 

Musikfest Berlin 

bis 18. September 2018 

 

PHØNIX16 

diverse Konzerttermine   

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[1] Vgl. zum Raumklang der Philharmonie das Festkonzert 2013: Torsten Flüh: Die hohe Schule des Hörens. Zum Festkonzert der Berliner Philharmoniker für 50 Jahre Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. Oktober 2013 22:12.

[2] Pierre Boulez: Bruno Maderna – Eine Porträtskizze. In: Musikfest Berlin: Eröffnungskonzert Staatskapelle Berlin Daniel Barenboim. Berlin, 2018, S. 9.

[3] Julia Spinola: Besessen um die eigene Zukunft gespielt. In: Süddeutsche Zeitung 26. August 2018, 18:35 Uhr Klassik.

[4] Martin Wilkening: Musikalische Rituale: Inhalt und Form. In: Musikfest … [wie Anm. 2] S. 11.

[5] Vgl. Torsten Flüh: Nicht fürs Wohnzimmer. Sir Simon Rattle dirigiert Tristan und Isolde konzertant mit den Berliner Philharmonikern sensationell radikal. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. April 2016 22:38.

[6] Siehe: HOROS METEOROS. PHØNIX16.

[7] Vgl. auch: Torsten Flüh: Wurst, Wulst, Blogwurst. Odysseen im Universum der Blogger. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. August 2010 21:31.

[8] Bernd Alois Zimmermann zitiert nach: Musikfest Berlin: Rotterdam Philharmonic Orchestra Yannick Nézet-Séguin. Berlin, 2018, S. 8.

[9] Olaf Wilhelmer: Fassung bewahren. Symphonische Selbstbehauptung bei Anton Bruckner und Bernd Alois Zimmermann. In: ebenda S. 11-12.

[10] Ebenda S. 11.

[11] Ebenda. 

Dem Unerhörten der Miniatur nachgelauscht - Enno Poppe rückt mit dem Programm passage/paysage die Miniatur und das Spielerische der Kunst in die Aufmerksamkeit

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Miniatur – Musik – Spiel 

 

Dem Unerhörten der Miniatur nachgelauscht 

Enno Poppe rückt mit dem Programm passage/paysage die Miniatur und das Spielerische der Kunst in die Aufmerksamkeit 

 

Das experimentierfreudige Ensemble Modern arbeitet gelegentlich mit dem Komponisten und Dirigenten Enno Poppe zusammen. Im Rahmen des Musikfestes Berlin kombinierten sie nun in dem Programm passage/paysage mehrere kurze Stücke von Anton Webern mit der gleichnamigen Komposition für großes Orchester von Mathias Spahlinger. Während mit Anton Weberns Stücken die kurze bzw. kleine Form als Miniatur in der Musik besondere Beachtung findet, ist es bei der Passage wie Landschaft von Spahlinger vor allem eine spielerische Kombinatorik, die Musik anders erklingen lässt. Für ein derartig avanciertes, fast musikforschendes Programmexperiment bietet das Ensemble Modern zum Orchester erweitert die besten künstlerischen Voraussetzungen.

  

Die Miniatur als kleine oder in der Musik zeitlich kurze Form wie sie von Anton Webern als Kompositionsweise angewendet worden ist, stellt durchaus Anforderungen an das Hören. Der Programmteil mit Stücken von Anton Webern umfasste sieben Werke mit vierundzwanzig Sätzen in gut vierzig Minuten. Gustav Mahler kommt mit seiner 6. Sinfonie (1905) auf eine Spieldauer von ca. 85 Minuten als entgegengesetzte Großform. Auch Mahlers Lied von der Erde aus dem Jahr 1908, an das Anton Webern mit Vier Lieder für Sopran und Orchester in der Weltkriegszeit 1914/1918 anknüpft, erfordert eine Aufführungszeit von ungefähr 60 Minuten. Die Miniatur, in der sich keine langen Bögen, Themen und Melodien ausarbeiten lassen, kann nicht nur als eine Verkleinerung und deshalb leichter (be)greifbare Form aufgefasst werden. Sie wird vielmehr zu einer einzigartigen Herausforderung für Solisten, Ensemble wie Publikum.

 

Anton Webern hat die Miniatur selbst im Unterschied zu Arnold Schönberg weniger kommentiert als praktiziert. Der Miniatur kann gerade im Konzertsaal in Erwartung eines abendfüllenden Programms der Verdacht des Unfertigen, Abgebrochenen oder Nebensächlichen anhaften. Deshalb war das von Enno Poppe mit dem Ensemble Modern ausgearbeitet Programm erstens eine Ausnahme für den großen Konzertsaal wie der Philharmonie und zweitens eine besondere Gelegenheit das Seltenaufgeführte in einer neuen Abfolge gleichsam vergrößert zu hören. 2015 hatte das Emerson Quartett mit Barbara Hannigan im kleineren Kammermusiksaal Drei Stück für Streichquartett und Stimme von Anton Webern in ebenfalls kurzer Form mit Stücken von Beethoven, Schönberg und Alban Berg aufgeführt.[1] Die sieben Werke wurden nun ohne Zwischenapplaus kontextualisiert und gespielt. – Dafür gab es stürmischen Applaus zur Pause.


© Kai Bienert 

Ist die Miniatur im Konzertsaal ein Unvermögen? Man muss diese Frage so offen formulieren, weil die großen Philharmonien auch als Tempel der längeren und langen Musikstücke als Kunst genutzt werden. Die Größe des Orchesterapparates beispielsweise bei Buckner mit möglichst sechs oder gar acht Kontrabässen und die Länge der Sätze stehen gewiss der heute üblichen Aufmerksamkeitsspanne entgegen, um dem Publikum dennoch Respekt abzuverlangen. Das Konzertpodium wird mit Musiker*innen voll besetzt. Dagegen verschwinden fast Sopran, Flöte (auch Piccolo), Klarinette, Bassklarinette, Horn, Trompete, Posaune, Glockenspiel, Harfe, Celesta, Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass auf dem Podium, und sind dennoch sehr genau durchdacht in der Instrumentierung der Vier Lieder für Sopran und Orchester op. 13. Statt Apparat ein solistisches Ensemble, in dem es auf jeden einzelnen Ton ankommt. Statt eines verdächtigen Unvermögens geht es eher um eine Verdichtung und Konzentration in der Miniatur.

 

Die Miniatur als Form des Kleinen erfordert in gewisser Weise eine Umkehrung der eingeübten Wahrnehmung im Konzertsaal. In der Miniatur wird die Musik gewissermaßen mikroskopisch oder molekular. Das vierte Stück der Fünf Stücke für Orchester op. 10, aufgeführt mit einem umfangreichen Schlagwerk von 4 Spieler*innen, ist für seine molekulare Musik in sechs Takten innerhalb von 30 Sekunden als „das kürzeste überhaupt Ausdrückbare“[2] berühmt geworden. Die Miniatur berührt als Verkleinerung und das Kleine die Frage des Ausdrucks und des Wissens, worauf Marianne Schuller und Gunnar Schmidt in Mikrologien aufmerksam gemacht haben. 

Die Figur des Kleinen hat viele Gesichter. Das Kleinliche, das Nebensächliche, Triviale und Haarspalterische verbinden sich damit ebenso wie die großartige Vorstellung, dass im Kleinen eine ganze Welt beschlossen liege. […] Wie der mikroskopische Blick als Verfahren von den Wissenschaften der Natur in die Geisteswissenschaften übergeht und die Lektüre symbolischer Gebilde steuert, so stellt sich auch hier die Frage: Erschöpft sich dieser Blick in Haarspalterei, die sich an ihrem Eifer erfreut, oder erschließt er etwas, das abgründig, heimlich und unheimlich in den Dingen keimt, wimmelt, monaden- oder atomhaft haust?[3]   

 

Die Miniatur provoziert bei Anton Webern gleichzeitig den Zweifel und das Versprechen. Zweifel sät die Miniatur, weil sie als Verkleinerung des Großen dieses auch in Frage stellt. Das Material des Großen erweist sich als Verschwendung, weil es sich auf ungeahnte Weise verknappen und aufsparen lässt. Als Versprechen funktioniert die Miniatur, weil sie mit einem Kommentar von Helmut Lachenmann zum vierten der Fünf Stücke anderes enthält, als was die „Klangwolke“ bei Gustav Mahler[4] auftürmt, „eine Serenade im Mondschein des Flageolett-Klangs, mit herübergewehten Tönen von dort, wo die schönen Trompeten blasen und die todkündende Posaune antwortet, bis die Militärtrommel zum Zapfenstreich ruft, die Idylle zerstört und sich der Liebhaber, die Mandoline unterm Arm weiterzirpend, davon macht, während die Angebetete ihm mit einer Geigenfigur nachwinkt“.[5] Lachenmann hört die sechs Takte als eine konzeptuell poetologisch widersprüchliche Musikgeschichte.[6]

 

Wenn man von „Materiellen Miniaturen“ spricht, wie es gerade Gertrud Lehnert und Maria Weilandt in einer Einladung zu einem Forschungsband tun, dann wird fast schon das Material auf ein haptisch-visuelles Verständnis heruntergebrochen.[7] Lehnert und Weilandt sehen „Miniaturen … in den unterschiedlichsten, oft unerwarteten Formen und Varianten (als) allgegenwärtig und kulturell bedeutsam“. Sie knüpfen an Gaston Bachelards Poetik des Raumes (1958) an, nach der „(d)ie Miniatur (…) Träume“ hervorbringe und die „Befreiung von allen Verpflichtungen der Dimensionen“ als „das charakteristische Merkmal der Phantasietätigkeit“ verspreche. Dabei wird das Material und seine Funktion in der Musik übersehen. Die Miniatur in der Musik als Kompositionspraxis stellt eine besondere Herausforderung dar. Das kann einerseits daran liegen, dass die Miniatur mit dem „mikroskopischen Blick“ (Schuller/Schmidt) und einer zeitlich ausgedehnten Lust am Schauen, andererseits einer Freude an „Träume(n)“ und der „Phantasietätigkeit“ (Bachelard) verknüpft wird. Damit ginge es um unterschiedliche visuell-sprachliche Produktionen, die in der Dauer von sechs Takten in der Musik auch unterlaufen wird.

 

In den Vier Liedern für Sopran und Orchester Op. 13, mit der wunderbaren Sopranistin Caroline Melzer aufgeführt, geht es nicht zuletzt um das Verhältnis von Musik und Poesie. Dies gilt umso mehr als Anton Webern nicht nur ein Gedicht von Karl Kraus, Wiese im Park (1920), und eines von Georg Trakl, Ein Winterabend (1915), sondern zwei aus Hans Bethges Die chinesische Flöte. Nachdichtungen chinesischer Lyrik. (1907) zu einem Liederzyklus komponiert. Die Zeit der Komposition wird mit dem Februar 1914 und 1922 vom Ersten Weltkrieg und den ersten vier Nachkriegsjahren historisch gerahmt. Zwischen Februar 1914 und 1922 liegt nicht nur der Untergang der k. und k. Monarchie Österreich-Ungarn, sondern nach anfänglicher Euphorie selbst Anton Weberns die kriegstechnische, kulturelle und humanitäre Katastrophe des Ersten Weltkrieges. Der Untergang einer ganzen Kultur wird denn auch mit dem eröffnenden Lied Wiese im Park als nachhaltiger Verlust formuliert. 

Nicht weiter will ich. Eitler Fuß, mach Halt! 

Vor diesem Wunder ende deinen Lauf. 

Ein toter Tag schlägt seine Augen auf. 

Und alles bleibt so alt.[8]    

 

Das Drama der Vier Lieder für Sopran und Orchester kann nicht überschätzt werden. Denn die beiden chinesischen Gedichte von Hans Bethge – Die Einsame und In der Fremde– geben einen Wink auf Weberns Anknüpfung an Gustav Mahlers Lied von der Erde, das sich als Requiem für einen Atheisten formulieren lässt. Anton Webern, der sich selbst als Lyriker mit kurzen und kürzesten Gedichten wie Leise Düfte … und O sanftes Glühn der Berge… in Drei Orchesterlieder op. posth. oder Schmerz immer …artikuliert hat, knüpft wie Mahler an einen Dichter der Jahrhundertwende an, der wiederholt das Genre nicht der Übersetzung aus dem Chinesischen, Japanischen, Arabischen, Türkischen oder Indischen, sondern der „Nachdichtung“ praktiziert hat. In der Nachdichtung vermischen sich die Ebenen der Ausgangs- und der Zielsprache zu einer eigensinnigen Poetik. In den Vier Liedern werden diese Nachdichtungen nun gerahmt von Karl Kraus und Georg Trakl.


© Kai Bienert 

Die einzigartige Miniatur der Vier Lieder gibt insofern einen Wink auf Das Lied von der Erde,als dessen Modus bereits dem Alten und der Vergangenheit, dem Untergegangenen als wi(e)dergängerischer „toter Tag“ angehört. Mit Jacques Rancière lässt sich sagen, dass Bethges Nachdichtungen einer „Verherrlichung des Werks als Tempel“[9] angehören, wie sie bei Mahler praktiziert wird und bei Webern nachklingt. „Die soziale Kunst ist nicht die Kunst fürs Volk, sondern die Kunst im Dienst von Zwecken, die von der Gesellschaft bestimmt werden“[10], schreibt Rancière zur Kunst von Émile Gallé, der Bethge mit seinen Nachdichtungen und seinen Verbindungen nach Worpswede nahesteht. Das Werk wird zum Tempel des Lebens, weil es das Leben besser machen soll. „Das Leben ist der Gott, der von neuem den verlassenen Tempel bewohnen und die Erneuerung der Kunst befehligen soll.“[11] In diesem Feld lassen sich Die Einsame und In der Fremde als chinesische Nachdichtungen mit einer universalistischen Geste denken, die sich allerdings 1922 nur noch als Wi(e)dergänger hören lassen kann.

 

Bethges Gedichte werden 1922 wieder zu hören gegeben und wenden sich wider das Versprechen des Lebens, das sich im Ersten Weltkrieg auf brutale Weise nicht realisieren ließ. Statt einer Feier des Lebens verkehrte sich der Krieg in einen massenhaften Tod durch Gas, Feuerwalzen und Riesenbomben. Gerade Anton Webern, der an seinen Kollegen Alban Berg 1914 schrieb, „Ich muss in den Krieg. Ich muss. Ich halte es nicht mehr aus“, verspürte einen ungeheuren Drang oder Trieb, in den Krieg zu ziehen als Wahrnehmung des Lebens. Der Krieg versprach das Leben, indem er zur Phantasie einer Befreiung wurde. Welche traumatischen Kriegserfahrungen Webern bis 1917 machte, als er aus dem freiwilligen Kriegsdienst entlassen wurde, ist offenbar nicht überliefert. Machte er keine? Fehlten ihm die Worte dafür? Unterdessen wird eine Wandlung zum „Pazifisten“ vermerkt.[12] In der Dokumentation Musik in Zeiten des Großen Krieges von Andreas Morell, die gerade auf ARTE wiederholt wurde und noch bis 8. Oktober in der Mediathek zur Verfügung gestellt wird, ist Anton Webern kein Hauptprotagonist. Doch der Krieg ließ ihn offenbar an seinem katholischen Glauben zweifeln, weshalb der Schluss der Vier Lieder bedenkenswert wird. 

 

Die Rätsel der poetischen Miniatur, in denen eine ganze Welt oder geradezu die Transformation der unbändigen Kriegsbegeisterung in Glaubenszweifel und den Pazifismus ebenso wie Abgründe hausen können, lassen sich mit Anton Weberns Vier Lieder für Sopran und Orchester nicht lösen. Sie bleiben widersprüchlich. Auf paradoxe Weise kommt mit Georg Trackls Ein Winterabend ein übermächtiger „Schmerz“ zur Sprache, der sich schlagartig – vielleicht zu schnell – in das christliche Bild vom Abendmahl als Feier des Lebens im Angesicht des Todes wendet. Es könnte durchaus ein überkommenes Bild des Alten oder das Aufblitzen einer Hoffnung durch Pazifismus sein. Man kann es aus der Komposition und ihrer Aufführung heraus nicht wissen. 

Wanderer tritt still herein; 

Schmerz versteinerte die Schwelle. 

Da erglänzt in reiner Helle 

auf dem Tische Brot und Wein.[13]  


© Kai Bienert 

Enno Poppe, Caroline Melzer und das Ensemble Modern boten eine überaus engagierte Komposition der häufig unterschätzten Miniaturen von Anton Webern, was vielleicht weniger mit ihm als mit seinem analytisch-poetischen Verfahren in der Musik zu tun hat. Die Musik soll derart verdichtet werden, dass sie an der Grenze des Verstehens eine maximale Intensität erhält. Man kann, wenn man daran festhalten möchte, die Intensität der Musik auch Ausdruck nennen. Doch bei Webern hat sich das Verhältnis von Sensibilität und Repräsentation gerade durch die musikalische Kürze bereits umgekehrt. Der heftige Ausdruck wird eher zu einem Ausbruch aus Notwendigkeit.

 

Es war im Webern-Spahlinger-Programm des Ensemble Modern Orchestras wohl gerade der Krieg in der Musik, der beide Teile kontextualisierte. Mathias Spahlinger fordert nun statt des kleinen das große Orchester: passage/paysage für großes Orchester (1988-1990). Während bei Anton Webern ein konkreter Weltkrieg vielleicht gar in seinen Ursprüngen durchschimmert, hat Mathias Spahlinger in selbstredend zahlreiche Zitate von offenbar ausschließlich männlichen Autoren zu einem satzzeichenlosen, langen Fließtext als „Reflexion … auf das im selben Jahr fertiggestellte Orchesterwerk pasage/paysage“ für das Programmheft verfasst.[14]   

              im krieg sind alle väter soldat gerade vor sonnenuntergang arbeitete ich mich mühsam durch das immergrüne gestrüpp nach der hütte meines freundes hin den ich schon seit etlichen wochen nicht besucht hatte ich wohnte damals in charleston das neun meilen von der insel entfernt liegt und die gelegenheiten zur hin und rückfahrt standen weit hinter den heutigen zurück als ich die hütte erreicht hatte klopfte ich an wie es meine gewohnheit war und als niemand antwortete suchte ich den schlüssel dort wo ich ihn versteckt wußte schloß die tür auf und trat ein un her brannte ein helles feuer das war eine überraschung doch kam es mir keineswegs unererwünscht herrnreitter jeder einen platz suchen gilberte komm auf der stelle her was machst du denn da rief die energisch befehlende stimme …[15]    

 

Enno Poppe ist als Dirigent ein Kenner und Freund des Komponisten Spahlinger. Er hat in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Großen Kunstpreises Berlin 2014 an Mathias Spahlinger pointiert das landläufige Wissen vom Künstler in Frage gestellt. Was kann man vom Künstler und seinem Werk wissen, wenn „(n)iemand (…) je zu Hegel gesagt (hat), dass die Phänomenologie des Geistes ein ganz tolles Buch sei, das man mit heißen Ohren gelesen habe“.[16] Poppe räumt gar ein, dass er das Werk „missverstanden habe“. Doch es geht ihm vor allem um ein Recht auf das „Spielerische der Kunst“ von Mathias Spahlinger, das die „Dinge in Frage“ stellt, „die man als Kunstbenutzer nicht gern in Frage gestellt sieht“. Denn es lässt sich durchaus ein Bogen schlagen zu selbstredend ohne Punkt und Komma, Klein- und Großschreibung, ohne Autorschaft und Zitierangaben.


© Kai Bienert 

In der Literatur wie in der Musikliteratur sind es all jene Zeichensysteme, die entschieden an der Produktion von Sinn mitwirken oder ihn gar allererst generieren. Was in der Ausarbeitung von Regeln z.B. in der Literatur oder der Partitur erlaubt ist oder nicht, betrifft die Musik als Gehörte. Nirgends sind die Manuskriptrichtlinien allerdings strenger als bei wissenschaftlichen Publikationen, weil sie in der Generierung und Unterscheidung von Wissen entscheidend wirken. Und man kann sich darauf verlassen, dass fast jede wissenschaftliche Publikationsreihe ihre mehr oder weniger eigenen Manuskriptrichtlinien, an die es sich als Autor zu halten gilt, generiert. Anders gesagt: wie Mathias Spahlinger mit selbstredend sein Stück passage/paysage reflektiert, hat in der Praxis viel mit der Musik zu tun. Für Enno Poppe und jüngere Komponisten ist passage/paysage„ein Jahrhundertwerk“. 

Wir hatten mit diesem Stück unseren Sacre du printemps, das Stück, das die bisherigen Gesetze außer Kraft setzte und durch etwas ersetzte, was wir noch nicht verstehen konnten. Wie sollte es danach weitergehen?[17]

 

Vielleicht ist es gar der Beruf des Schriftsetzers, den Mathias Spahlinger erlernt hat, der eine besondere Sensibilität für das Schreiben von Musik geweckt hat. War der Ausbildungsberuf des Schriftsetzers oder Setzers doch einer, der allerhöchste Disziplin und Kenntnis der Interpunktion und Rechtschreibung erforderte. Zwar erhielt der Schriftsetzer vorgefertigte Texte, die er auf Platten für die Zeitungs- oder Buchseite zu setzen hatte. Doch wenn er einen Fehler machte, war dieser von einer langen Nachhaltigkeit. Der Schriftsetzer hatte sich an das Gesetz zu halten und materialisierte es zugleich. Die gesamte Literaturproduktion war auf das Engste mit dem Setzer verknüpft, was beispielsweise in dem Verhältnis von Manuskript und Buch bei Franz Kafkas Der Prozess die allergrößte Rolle für den Roman als Textgattung spielen konnte, worauf mit der Ausstellung des Manuskriptes im Martin Gropius Bau 2017 aufmerksam gemacht wurde.[18] Das Mikrologische des Schriftsetzens konnte den ganzen Großroman wie bei Marcel Prousts À la recherche du temps perdu verändern oder allererst als Werk generieren.[19] 

 

Sensibilisiert für derartige, gesetzmäßige Voraussetzungen in der Musikliteratur wird passage/paysage 1990 zum Erlebnis einer ungemeinen, musikalischen Intensität, ohne dass sie Sinn oder Erzählung produzierte. Am Schluss gibt Enno Poppe fast mechanisch immer wieder den Takt für eine quasi endlose Stelle in der Musik. Nichts wiederholt sich. Nichts findet zusammen. Es ist, als sei die Musik für zehn, fünfzehn Minuten, einer gefühlten Ewigkeit angehalten, ohne dass die Zeit stillsteht. Alle Streicher – 16 Violinen I, 14 Violinen II, 11 Violen, 9 Violoncelli, 8 Kontrabässe – man bedenke, dass sie in den großen Symphonien den Klang, das Volumen und die Grundierung, Gefühl, Stimmung ausmachten –, zupfen mit äußerster Grobheit und voller Lautstärke ein H, das immer ein wenig verwackelt ist, so dass immer deutlicher wird, dass sich die Instrumente verstimmen und die Musik immer falscher wird. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass der den Klangkörper stiftende Kammerton a‘ im H negiert, ausradiert wird, bis passage/payage abbricht. 

 

Torsten Flüh 

 

Musikfest Berlin 2018 

bis 18.09.2018 

 

ARTE

Musik in Zeiten von Krieg und Revolution (1/3)
Musik in Zeiten des Großen Krieges

Andreas Morell, Deutschland 2016
bis 8.10.2018

_______________________  



[1] Vgl. Torsten Flüh: Texturen in der Musik. Das Sonderkonzert der Deutschen Oper und das Emerson String Quartet mit Barbara Hannigan beim Musikfest 2015. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. September 2015 20:52.

[2] Olaf Wilhelmer: Vierundzwanzig Verwandlungen. Über die Musik Anton Weberns. In: Musikfest: passage/paysage Ensemble Modern Orchestra Enno Poppe. 3.9.2018. Berlin 2018, 12.

[3] Marianne Schuller, Gunnar Schmidt: Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen. Bielefeld: transcript, 2003, S. 7.

[4] Vgl. Torsten Flüh: Das Versprechen der Klangwolke. Berliner Philharmoniker spielen unter Sir Simon Rattle die 8. Symphonie von Gustav Mahler. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2011 19:44.  

[5] Helmut Lachenmann zitiert nach: Olaf Wilhelmer: Vierundzwanzig … [wie Anm. 2] S. 12.

[6] Vgl. dazu auch Torsten Flüh: Entstehen und Enden der Musik. Das furiose Lachenmann-Mahler-Programm der Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. November 2011 22:49.

[7] Einladung zum Sammelband in der Reihe Mikrographien / Mikrokosmen. Kultur-, literatur- und medienwissenschaftliche Studien von Prof. Dr. Gertrud Lehnert und Maria Weilandt, Universität Potsdam, Institut für Künste und Medien, als Herausgeberinnen vom 8. September 2018.

[8] Karl Kraus: Wiese im Park (Schloß Janowitz). Zitiert nach: Musikfest: passage/paysage … [wie Anm. 2] S. 26.

[9] Jacques Rancière: 8. Die angewandte Kunst als soziale Kunst: der Tempel, das Haus, die Fabrik. In: ders.: Aisthesis. Vierzehn Szenen. Wien: Passagen Verlag, 2013, S. 175.

[10] Ebenda S. 177.

[11] Ebenda S. 179.

[12] Vgl. Klaus Gehrke: Musiker an der Front. In: DW Musik 11.08.2014.

[13] Georg Trakl: Ein Winterabend. (1915) Zitiert nach: Musikfest: passage/paysage … [wie Anm. 2] S. 26.

[14] Anmerkung der Redaktion. In: Musikfest: passage/paysage … [wie Anm. 2] S. 21.

[15] Mathias Spahlinger: selbstredend. In: Ebenda S. 18.

[16] Enno Poppe: Mathias Spahlinger. In: Ebenda S. 14.

[17] Ebenda S. 15.

[18] Siehe: Torsten Flüh: Ausstellung des Unsichtbaren. Zur Ausstellung Franz Kafka Der ganze Prozess im Martin-Gropius-Bau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. August 2017 21:36.

[19] Vgl. dazu auch: Torsten Flüh: Das Versprechen der Geschichte. Barbara Naumann und Peter Geimer zum Semesterthema non finito … der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. November 2017 22:18.

Aufgespürte Stimmungen - Zu Verklärte Nacht von Arnold Schönberg und Into the Little Hill von George Benjamin beim Musikfest

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Stimmung – Gesellschaft – Lyrik

 

 

 

Aufgespürte Stimmungen

 

Zu Verklärte Nacht von Arnold Schönberg und Into the Little Hill von George Benjamin beim Musikfest

 

 

 

Wahrscheinlich tragen viele Faktoren dazu bei, wie ein Festival-Programm zustande kommt. Es sollte wohl eine gewisse Elastizität aufweisen, wie Winrich Hopp, der Künstlerische Leiter des Musikfestes Berlin, und Thomas Oberender als Intendant der Berliner Festspiele sie mit Rituale, Zeremonien, Aktionen und Symphonien in diesem Jahr formuliert haben. „Rituelle und zeremonielle Formen, Aktionen und Szenen“ sprechen durchaus gesellschaftliche und politische Formen in der Musik an. Wurde das Musikfest mit Pierre Boulez‘ Rituel in memoriam Bruno Materna von Daniel Barenboim mit der Staatskapelle Berlin mit Anspruch an das Publikum eröffnet, so mündete am letzten Mittwochabend der Spaziergang eines Paares mit Verklärte Nacht in eine kammermusikalisch mikropolitische Aktion, während Into the Little Hill von 2006 sich mit einer bedenkenswert politischen Aktualität hören lässt.

 

 

 

„Kill them they bite/kill them they steal/kill them they take bread take rice/take – bite – steal – foul and infect - …” stoßen Susanna Andersson (Sopran) und Kristina Szabó (Alt) in schrillen, aggressiven Tönen als „The Crowd” hervor. Pure Aggression. Into the Little Hill von Martin Crimps Text für diese neuartige Form eines politisch-poetologischen Melodrams von Sir George Benjamin lässt keine Zweifel an der Aggressivität der „Menge“, wie es fast schon euphemistisch in der deutschen Übersetzung heißt. „Die Menge“ will die Ratten loswerden. Crimps und Benjamin katapultieren das mittelalterliche Märchen des geheimnisvollen Rattenfängers von Hameln in die Gegenwart. Die Bürger der märchenhaft mittelalterlichen Stadt Hameln werden die Ratten los und verlieren ihre Kinder gleich mit. Es sind politische Stimmungen, die mit diesem Festival-Konzertprogramm aufgespürt werden.

 

 

 

2015 hatte Daniel Barenboim das Musikfest mit Verklärte Nacht in der Fassung für Streichorchester von 1917 eröffnet. Selbst nach 18 Jahren und einigen musiktheoretischen Umbrüchen hielt Arnold Schönberg an der Stimmung von Verklärte Nacht fest. Das Verhältnis von Text und Musik bzw. Tondichtung war hier ausführlich besprochen worden.[1] Nun kam das Stück in der früheren, ja, intimeren Fassung als Streichsextett mit der Berliner Starviolinistin Isabelle Faust & Friends zur Aufführung. Als Streichsextett kommt es natürlich ganz anders als im großen Streichorchester auf jede der solistischen Musiker*innen an. Die Struktur der Komposition, die Phrasierungen lassen sich deutlicher als im Orchester heraushören. Isabelle Faust und Anne Katharina Schreiber, Violine, Antoine Tamestit und Danusha Waskiewicz, Viola, und Jean-Guihen Queyras und Christian Potéra, Violoncello, musizieren mit größter Leidenschaft und Präzision, um ihren Streichinstrumenten Töne und Stimmungen zu entlocken, die sich kaum erwarten lassen.

 

 

 

Verklärte Nacht, so berückend schön das geradezu skandalöse Geständnis und entsagende Verständnis in Musik transformiert sein mag, stieß bei der Uraufführung auf heftige Ablehnung und Unverständnis. Das gleichnamige Gedicht von Richard Dehmel, dessen Formulierungen Arnold Schönberg als Vierundzwanzigjähriger in geradezu tristansche Verschmelzungsmusik umformuliert, enthält mit dem Kind eines anderen Mannes, das die Geliebte, wie man sagt, unterm Herzen trägt, in gewissen Kulturkreisen auch heute noch oder wieder den ultimativen Konfliktstoff. Im Mondenschein gesteht die Frau dem Mann, dass sie ein Kind aus einer früheren Beziehung erwartet. Und er sagt: „o sieh, wie klar das Weltall schimmert!“ Also „Weltall“ ist da für die meisten Männer auch heute erst einmal gar nicht. Aber bei Schönberg, Isabelle Faust & Friends schimmert das „Weltall“ ganz unüberhörbar. Was ist da passiert? Und woran hält Schönberg da noch 1917 im letzten katastrophalen Jahr des Ersten Weltkriegs fest?

 

 

 

Knallharte Politik und die Frage der Moral-, Besitz- und Treueansprüche blitzt aus dem sehr schönen, einschmeichelnden – „Sehr lang – Breiter – Schwer betont – Sehr breit und langsam – Sehr ruhig“ – Streichsextett hervor. Selbst oder gerade im Krieg und seinen Wirren kann vieles nicht gesagt werden. Vorehelicher Geschlechtsverkehr, Vergewaltigung, Ehebruch usw. haben mit dem Ersten Weltkrieg nicht ab-, sondern zugenommen. Und das „Weltall“ kommt so gut wie nie zum Zuge. Eher schon die Apokalypse. Arnold Schönberg hält sozusagen am „Weltall“ fest, als strafrechtlich und sexualwissenschaftlich beispielsweise von Magnus Hirschfeld[2] für die Abschaffung des § 218 Strafgesetzbuch eintritt. Darüber wird wirklich heftig und in so manchem Land nicht zuletzt den Vereinigten Staaten von Amerika mit der Wahl des ultrakonservativen, katholischen Brett Kavanaugh zu einem der obersten Richter der Vereinigten Staaten auf Lebenszeit wieder heftig gestritten. Mit „Weltall“ wäre ganz gewiss nichts bei Brett geworden. Der wäre gar nicht auf „Weltall“ gekommen!

 

Die wird das fremde Kind verklären,

 

du wirst es mir, von mir gebären;

 

du hast den Glanz in mich gebracht,

 

du hast mich selbst zum Kind gemacht.[3]   

 

 

 

Weib und Welt von Richard Dehmel von 1896 hat in Zeiten von #MeToo eher keine Chance mehr. Die Verwandlung des Fremden zum Eigenen klingt im Reimschema doch etwas befremdlich. Für den Schulunterricht und selbst fürs Literaturstudium ist Dehmels Weltdichtung ein wenig sperrig geworden. Doch die Krise führt bei ihm nicht zum Krieg, sondern eher zu einer vernunftgeleiteten Vereinigungsphantasie bei maskuliner Dominanz: „Er fasst sie um die Hüften./Ihr Atem küsst sich in den Lüften./Zwei Menschen gehen durch hohe, helle Nacht.“ Zwar entsprechen die 5 Teilsätze von Schönbergs Komposition den 5 Strophen des Gedichts, wenn nicht gar dessen Semantik, doch die Musik verhaftet nicht in der schwierigen Wortwahl. Es geht um eine fundamentale Konfliktlösung, die unter anderen Verhältnissen ebenso mit dem Messer in der Brust der Geliebten hätte enden können. Auf diese Weise wird Verklärte Nacht dann zu einer, soll man sagen, humanistischen, politischen Haltung.

 

 

 

Indem Arnold Schönberg als noch junger Komponist fast unerschrocken an den Liebestod in Richard Wagners Musikdrama Tristan und Isolde anknüpft, wird aus der Lebensverneinung im Namen des „wonnigen Schwall,/in dem tönenden All,/in des Welt-Atems wehendem All“ eine Lebensbejahung durch ein eben nicht genealogisch gemeinsames Kind. Das hat insofern revolutionäres Potential als die Genealogie, die Ab- und Herkunft vom gleichen Geschlecht um 1900 noch ganz und gar das politische Geschehen durch die Adelshäuser bestimmt. Der Erste Weltkrieg ist zu einem gewissen Teil auch die unglückliche Familiengeschichte in den Herrscherhäusern Europas, ganz besonders Kaiser Wilhelm II. Arnold Schönberg komponiert insofern mit Verklärte Nacht eine durchaus reformistische Tondichtung. Isabelle Faust & Friends spielen das Stück als hätten sie es in dieser Weise durchdacht. Es klingt nicht einfach nur facettenreich und schön, vielmehr wird das Streichsextett als ein respektvolles Musizieren vorgeführt.

 

 

 

Into the Little Hill wird weniger als eine weitentrückte Märchenstunde, denn als Melodram der Gesellschaft von Martin Crimps und George Benjamin ausgearbeitet. Was passiert, wenn eine Gesellschaft, eine Menge, wohl gar ein selbsternanntes „Volk“ den „Minister“ derart unter Druck setzt, dass er einen mysteriösen „Fremden“ mit der „Vernichtung“ der Ratten beauftragt? Das Kindermärchen vom Rattenfänger verkehrt sich in eine Politparabel. Die Aggression der Menge in einer Art Diskant verletzt und macht Angst, indem sie den Minister unter Druck setzt. Die Menge ist vielleicht weniger eine verifizierbare politische Gruppierung als eine Art Stimmungskörper. Sie spricht nicht mit einer Stimme, vielmehr singen immer Sopran (Susanna Andersson) und Alt (Kristina Szabó) mehr oder weniger durcheinander.

 

 

 

Die Menge/Crowd, könnte man sagen, ist bei George Benjamin keine homogene Gesellschaft, vielmehr artikuliert sie sich allererst durch die Ausschließung der vermeintlich parasitären Ratten. Dennoch wird von der „Crowd“ ein durchaus imaginäres Eigentum oder ein Besitz – „property“ –, den sie durch die parasitären Ratten gefährdet sieht, als politische Forderung proklamiert. Das Eigentum der Menge wird indessen nicht als kollektives, sondern höchst partikulares formuliert. Diese bedenkenswerten Besitzverhältnisse machen den Besitz des Einzelnen in der Menge zu einem kollektiven Anliegen, obwohl dem Einzelnen nie in den Sinn kommen würde, ihn mit der Menge teilen zu wollen. Crimp und Benjamin formulieren diese Besitzverhältnisse sehr genau als Klage und Anklage gegen die Ratten.

 

[damage our property

 

burrow under our property

 

rattle and rattle the black sacks.

 

We want the rats dead.][4]

 

 

 

Dass sich „rattle and rattle“ alterierend auf „rats“ reimt, ist sehr wahrscheinlich dem Kalkül des Librettisten zu verdanken. Es setzt in der Aggression der Menge eine gewisse Verselbständigung der Sprache ein. Die Menge wird in sich widersprüchlich. Doch in der Wiederholung ihrer vereinfachenden wie vereinfachten Forderung nach der Vernichtung der Ratten (ver-)fällt sie in einen sprachlichen Automatismus. Ein derartiger sprachlicher Automatismus gibt auch einen Wink auf die rechtsradikalen Szenarien von Chemnitz und Köthen. Er lässt sich geradezu rauschhaft genießen. Währenddessen versucht der Minister noch zu argumentieren, dass sein „own child is in her element/feeding her black rat and cutting ist claws“.[5] Die Menge lässt sich von Argumenten, selbst wenn ein Baby sein Leben „womöglich dem Experiment mit einer Ratte“ verdankt, nicht umstimmen. Allein eine Stimme (Alt) fordert als puren Zynismus nun, dass die Tiere nicht leiden mögen und die eigenen Kinder das Grauen nicht sehen dürften.

 

But no animal – not one animal – must suffer

 

neither must our children

 

         brave and intelligent

 

         with bright clear eyes

 

ever see blood[6]   

 

 

 

Das stimmungsgeladene Melodram verweist mit seiner Rattenparabel nicht zuletzt auf die Shoa. Es wird nicht nur eine gewisse Hoffnung in die Kinder durch die Eltern gesetzt, sondern Crimp/Benjamin setzen ihre Hoffnung in ein Kindkonzept des 19. Jahrhunderts, nach welchem die Kinder sich eher mit den Ratten identifizieren könnten. Sind die Kinder gut? Deutlich muss daran erinnert werden, dass heutzutage Videos im Netz kursieren, die zeigen, wie Kinder in Afrika oder in Syrien durch den IS darauf trainiert werden, Menschen zu töten. Ein Kind sieht im „Zwischenspiel“ das ambig Menschliche der vermeintlichen Ratten. Die Szene der Deportation der Juden wird parabolisch als Gespräch zwischen einem fragenden Kind und einer antwortenden Mutter derart inszeniert, dass das Kind Zeuge eines unmenschlichen Verhaltens der Verfolgten wird.

 

                  

 

S        Warum haen wir das weggesperrt, Mammi?

 

A        Weil wir so hart dafür gearbeitet haben.

 

S        Haben die Ratten nicht gearbeitet?

 

A        Eine Ratte stiehlt nur – eine Ratte ist nicht menschlich.

 

S        Aber die hier haben Kleider an.

 

A        Ratten haben keine Kleider an.

 

S        Die da trägt einen Koffer.

 

A        Nein.

 

S        Die da trägt ein Baby.

 

A        Nein – nur Ratten im Märchen haben Hüte und Mäntel an und tragen Babys.

 

S        Sie hat es fallen gelassen.

 

A        Nein.

 

S        Und die anderen – schau – zertrampeln das Gesicht des Babys.

 

A        Komm weg vom Fenster.

 

S        Sie schreit, Mammi, sie schreit –

 

         die anderen Ratten halten nicht an!

 

[7]

 

 

 

Das Libretto als Textbuch weist einige Besonderheiten auf. Der Wechsel zwischen wörtlicher Rede und narrativen Passagen ist fließend. Auch verkörpern die Stimmen Alt und Sopran keine Charaktere oder Rollen. Vielmehr werden sie situativ für den Text verwendet. Dadurch stellt sich eine besondere Wahrnehmung ein. Anders als im Format Oper mit Rollen entsteht ein fast surreales Gleiten, wenn ein Fremder am Bett der Tochter des Ministers zu sprechen beginnt. Die Figur des sogenannten Rattenfängers wird ebenso geheimnisvoll wie zauberisch oder verhext. Er tritt gleichsam als eine Verkörperung der Musik „ohne Augen, ohne Nase, ohne Ohren“ auf.

 

I charmed my way in

 

says the man with no eyes, no nose, no ears

 

and with music I will charm my way out again -[8]

 

 

 

Im zweiten Teil der „lyrischen Erzählung“ ist der Minister wiedergewählt worden, weil er die Ratten ausgerottet hat. Doch sein Herz meldet sich nun als „Klang“. Es kommt zu einem Disput zwischen dem mysteriösen Fremden und dem Minister über die haushaltspolitische Verteilung des Geldes. Das Surreale verweist auf die Realpolitik. Denn das Geld wurde für alles nur nicht die Musik ausgegeben. Sie wird zur Nebensächlichkeit erklärt, woraufhin der Fremde die Kinder „Inside the Little Hill“ zaubert. Die Mütter sind nun von ihren Kindern verlassen worden, um gleich Ratten in der Erde zu graben. Die Musik erweist sich als verführerisch. Denn die Kinder graben sich in den Hügel, weil sie die Musik suchen. Ratten und Kinder folgen einer namenlos verführerischen Musik als Lehre auf eine Gesellschaft, die sich über ein Reinheitsphantasma gegen die Ratten herausgebildet hatte.

 

Dies ist unser Heim. Unser Heim ist unter der Erde.

 

Mit dem Engel unter der Erde.

 

Und je tiefer wir graben, desto heller brennt seine Musik.

 

         Can‘t you see?

 

         Can‘t you see?

 

         Can‘t you see?[9]

 

 

 

Der Schluss endet in einer merkwürdigen Vertauschung der Sinne. Die Sinnlichkeit einer Musik, die „heller brennt“ je tiefer die Kinder in den Erdhügel graben, funktioniert nach anderen als den landläufigen Gesetzen, um eine lyrische Mehrdeutigkeit zu ermöglichen. Verrätselt wird auf diese Weise das Wissen über die Musik, die sich ganz offenbar von den Kindern, nicht aber von den Müttern gesehen werden kann. George Benjamin und Martin Crimp haben mit Into the Little Hill ein „lyrisches Theater“ ausgearbeitet und komponiert, das sich als ein hochpolitische Parabel auf Prozesse und Zwänge in der Tagespolitik hören lässt. Das Lyrische verhindert eine Festlegungen und bringt die Erzählung ins Gleiten, das gleichsam in einer Art Workshop entstanden ist:

 

Wir haben alle von Anfang an sehr eng zusammengearbeitet. Noch bevor die erste Note der Partitur geschrieben wurde, stand fest, wer die Aufführung singen, spielen und inszenieren würde – und alle Künstler*innen waren rege an der Arbeit beteiligt.[10]  

 

 

 

George Bejamin legt vor allem wert auf den künstlerischen Prozess, der das „lyrische Theater“ generiert. Vage knüpft er damit an das epische Theater von Bertold Brecht an. In der konzertanten Aufführung tritt das Theatrale eher zurück. Es gibt auch keine Lehrformeln des Stückes, was das Lyrische als literarisch-kompositorisches Verfahren gleichsam ermöglicht wie hervorbringt. Die kammermusikalische Besetzung des nomadischen Mahler Chamber Orchestra erlaubte es George Bejamin als Dirigenten die komplexe und vielschichtige Partitur im Kammermusiksaal heraus zu arbeiten. Melodram und lyrisches Theater werden auf andere Weise als bei Brecht politisch. Es belehrt weniger, als dass es poetologisch politische Prozesse wie in „The Crowd“ aufzudecken vermag. Die hochkarätige Aufführung wurde vom Publikum gefeiert. Am Dienstag endet das Musikfest Berlin 2018 mit der Aufführung von Karlheinz Stockhausens „Anbetungen für zwei Tänzerinnen und großes Orchester INORI.

 

 

 

Torsten Flüh

 

 

 

Musikfest Berlin

 

bis 18. September 2018

 

__________________________

 



[1] Ausführlichere Überlegungen zum Verhältnis von Musik und Text bzw. Gedicht Verklärte Nacht von Richard Dehmel und Arnold Schönberg unter: Torsten Flüh: Durchschimmern der Medien. Zur Eröffnung des Musikfestes 2015 mit Kompositionen von John Adams, Steve Reich und Arnold Schönberg. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. September 2015 21:12.

[2] Zu Magnus Hirschfeld vgl. Torsten Flüh: Ehre und Erotik verdinglicht. Zur Sonderbriefmarke 150. Geburtstag Magnus Hirschfeld und der Ausstellung Erotik der Dinge. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. Juli 2018 17:41.

[3] Richard Dehmel: Verklärte Nacht. In: ders.: Weib und Welt. Berlin 1896. S. 60-62.

[4] Martin Crimp: Into the Little Hill. text for music. In: Musikfest Berlin: Isabelle Faust & Friends. Mahler Chamber Orchestra. Sir George Benjamin. 12.9.2018. Berlin 2018, 12.

[5] Ebenda.

[6] Ebenda.

[7] Zwischenspiel. Ebenda S. 15.

[8] Ebenda S. 13.

[9] Ebenda S. 18.

[10] George Benjamin, ebenda S. 19.

 

Flash des Krieges in Trauma-Bildern und -Musik - Zur neuen Musik und zu den alten Bildern von Abel Gance' Meisterwerk J'accuse beim Musikfest

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Krieg – Musik – Trauma 

 

Flash des Krieges in Trauma-Bildern und -Musik 

Zur neuen Musik und den alten Bildern von Abel Gance‘ Meisterwerk J‘accuse beim Musikfest 

 

Der Pariser Komponist Philippe Schoeller hat zur Uraufführung der rekonstruierten Fassung von Abel Gance‘ WeltkriegseposJ’accuse (Ich klage an) aus dem Jahr 1918/1919 am 11. November 2014 eine streckenweise verstörende, verletzende Trauma-Musik geschrieben, die ihresgleichen sucht. Hans, mein Großvater, der im Ersten Weltkrieg war, hat nie über den Krieg gesprochen. Er hat offenbar auch seinen Söhnen Hans-Peter und Günter nicht davon erzählen können. Wenn etwas nicht erzählt werden kann, hat es entweder keine Bedeutung oder es war eine derart traumatische Erfahrung, dass es dafür keine Worte gab. Hans war immerhin nicht verwundet worden, sondern in den 20er Jahren ein großer Turner am Reck und am Barren sowie Leiter der Frauenriege im Kieler Turnverein, KTV. Die zwanziger Jahre müssen für Hans als Bäckermeister sportlich und gesellschaftlich erfolgreich gewesen sein, schließlich heiratete er Erika.

  

Abel Gance hat nicht nichts erzählt. Vielmehr waren für ihn seine Kriegserlebnisse so schmerzhaft, dass er sie nach seiner Entlassung aus dem Kriegsdienst wegen einer Erkrankung bearbeiten musste. Weil er zuvor in der Pariser Filmindustrie tätig gewesen war, hatte er offenbar Praktiken entwickelt, genau hinzuschauen. Er hatte Kriegshandlungen als Kameramann mitten aus dem Geschehen gefilmt und/oder fotografiert. Nach seiner Entlassung bemühte er sich sogleich um eine Drehgenehmigung für J’accuse, das eine Dreiecksgeschichte zwischen zwei Männern und einer Frau im Krieg in Szene setzt. Fiktion und Dokumentation überschneiden sich in seinem Film. J’accuse reißt nicht zuletzt mit der Musik von Philippe Schoeller Wunden auf. Der 1. Weltkrieg war keinesfalls das eher harmlose Vorspiel des Zweiten, wie es uns der Geschichtsunterricht vermitteln wollte. Es war ein industrialisierter Krieg mit Massenvernichtungswaffen wie Gas, Feuer, der Dicken Berta und dem Eisenbahngeschütz Langer Max.


© Adam Janisch

Die Uraufführung dirigierte Frank Strobel als führender Dirigent im Genre der Stummfilmmusik mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France in Paris. In der Deutschen Erstaufführung leitete er nun das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Immer dann, wenn man in den letzten Jahren denken konnte, dass ein Stummfilm nicht mehr rekonstruiert werden könnte, engagieren sich ZDF und ARTE für eine ultimative Rekonstruktion. So war es 2016 bei Ivan Grozny von Eisenstein und Prokofjew zum Musikfest[1] oder schon 2012 bei Oktjabar von Eisenstein mit der Musik von Eduard Meisel zur Berlinale.[2] Die Stummfilm-Premieren mit Live-Musik für großes Orchester sind einmalige Festival-Ereignisse, die eigentlich restlos ausverkauft sein müssten. Später kann man sie noch geschrumpft auf DVD oder im Stream erleben. Doch i. d. R. nie wieder live und groß, obwohl insbesondere J’accuse viel öfter gezeigt werden müsste.


Abel Gance: J'accuse (Trailer, Screenshot, T.F.) 

ARTE ist überhaupt der einzige Fernsehsender, der Stummfilme als festen Programmteil zeigt. Der Sender hat eine eigene Redaktion dafür, die besagte Rekonstruktionen und Vertonungen durch spezifische Stummfilmmusik in Auftrag gibt. Der heranrückende Jahrestag als Sendeformat hat nun 2014 zur Rekonstruktion von Abel Gance‘ J’accuse geführt, der in mehreren, die ursprüngliche Fassung nach den Gesetzen des Filmmarkts schon vor der Uraufführung verstümmelten Kürzungen in Paris erhalten geblieben war. Derartige Rekonstruktionen eines Director‘s Cut werden um so aufwendiger, je weiter die Produktion zurückliegt.[3] Meine hoch informierten französischen Freunde in Berlin zeigten sich äußerst erstaunt, dass Abel Gance überhaupt einen Film mit dem Titel J’accuse gedreht haben soll. Émil Zolas gleichnamiger öffentlicher Brief zur Dreyfus-Affaire ist ein Begriff, der Film nicht. Die nie beendete Arbeit an Napoléon (1927) war ihnen bekannt. Von J’accuse hatten sie nichts gehört. Dabei wäre J’accuse für den Unterricht z.B. am Lycée Français de Berlin, das es seit 1689 gibt, und sonst auch für das nationale Abitur geeignet.


Abel Gance: J'accuse (Trailer, Screenshot, T.F.) 

Der Film wurde nun in einer Schnittfassung von 166 Minuten gezeigt, wobei man sogleich sagen muss, dass die Schnitte für einen Stummfilm ziemlich schnell sind. Abel Gance nutzte alle ihm zur Verfügung stehenden Film- und Bildtechniken zwischen Dokumentar-, Trick- und Spielfilm mit zum Teil viragierten Sequenzen, um seine Kriegserzählung hervorzubringen. Wenigstens in der frühen Fassung werden Film- und Bildtechniken bis an ihre Grenzen neu kombiniert. Es überschneiden sich nicht nur Tricksequenzen eines mittelalterlichen Totentanzes in Überblendungen und Doppelbelichtungen beispielsweise mit dem berühmten Renaissance- und Humanismus-Gemälde Frühling aus Sandro Botticellis Jahreszeiten, vielmehr werden Spielfilmsequenzen und Kriegserzählungen oft hart auf Dokumentaraufnahmen z.B. vom riesigen Eisenbahngeschütz Langer Max im Einsatz geschnitten.


Abel Gance: J'accuse (Trailer, Screenshot, T.F.) 

Die harten Schnitte generieren Kontraste, Widersprüche und eine Haltung gegen den Krieg durch Bilder und Bildwissen. Wenn der trickreiche Totentanz über den Frühling von Botticelli geblendet wird, dann wird das Lebensversprechen der Renaissance von der Gegenwart des Totentanzes zum Verschwinden gebracht. Die Kombinationen und Transformationen von Bildungswissen, das beispielsweise mit dem Frühling aufgerufen wird, generieren eine Auslöschung eben dieser Bildung durch den Krieg. Man könnte meinen, dass die Bilder durch Kombinationsverfahren für sich sprechen, wie es insbesondere um 1930 bei Eisenstein wie bei Gance bis zu Hirschfeld formuliert wird. Für Abel Gance war die „Zeit des Bildes … angebrochen“[4]: „Le temps de l’image est venu!“ hatte er 1927 in L’ Art cinématographique[5] proklamiert. 


Abel Gance: J'accuse (Trailer, Screenshot, T.F.) 

Der emphatische Anbruch einer „Zeit des Bildes“ als ultimativen Sinnes-, Erkenntnis- und Wissensträger wird von Gance erst nachträglich und insbesondere hinsichtlich der Premiere seines Films NAPOLEON, in dessen „Mahlstrom“ er „keine Zeit (hatte), (s)eine entstehenden Gedanken wirklich zu ordnen“[6], kommentiert. Ob erst bei NAPOLEON oder doch schon bei J’accuse: der Film entspringt mehr oder weniger ungeordneten „Gedanken“ oder Träumen. Gleichwohl generieren Bilder und der Film sehr ähnlich wie in Magnus Hirschfelds Bilderatlas (1930)[7] und dem Stummfilm Anders als die Andern (1919) eine besondere Form des Wissens, das eben auch traumatischen Ursprungs sein kann. Hinsichtlich des neuartigen Mediums Film spricht Gance von einer „Musik des Lichts“. 

Il y a deux sortes des musique : la musique des sons et la musique de la lumière qui n’est autre que le cinema ; et celle-ci est plus haute dans l’échelle des vibrations que celle-là./Es gibt zwei Arten von Musik: die Musik der Töne und die Musik des Lichts, die nichts anderes ist als das Kino; und diese ist stärker an Schwingungen als jene.[8]


Abel Gance: J'accuse (Trailer, Screenshot, T.F.) 

Dem Kino bzw. Medium Film als „Musik des Lichts“ sind, laut Gance, stärkere Schwingungen eigen als der „Musik der Töne“. D. h. zweierlei, Wellen und Schwingungen als physikalische Wissenskonzepte visueller wie auditiver Wahrnehmung können ein neuartiges Wissen übertragen. Um 1823 war von Joseph von Fraunhofer u.a. eine Wellentheorie des Lichts mit dem Kurze(n) Bericht von den Resultaten neuerer Versuche über die Gesetze des Lichtes, und die Theorie derselben[9] formuliert worden. Heinrich Hertz konnte z.B. 1888 mit Ueber electrodynamische Wellen im Luftraume und deren Reflexion[10] elektromagnetische Wellen oder Radiowellen nachweisen. Er gebraucht Wellen und Schwingungen synonym in seinen Schriften.[11] Doch Vibrationen oder Schwingungen sind elastischer als Wellen, wenngleich Gance im Original von einer Skala der Schwingungen, „l’échelle des vibrations“, spricht.


Abel Gance: J'accuse (Trailer, Screenshot, T.F.) 

Mit der Skala werden eine Messbarkeit und Vergleichbarkeit der Schwingungen über die unterschiedlichen, physikalischen Bereiche hinaus poetologisch formuliert. Streng genommen kann eine Skala nämlich nur innerhalb des Lichts oder der Töne angesetzt werden. Die Schwingungen, Vibrationen betreffen insofern stärker den Bereich der Wahrnehmung, der sich schlecht messen lässt, als den der Physik und verknüpfen beide Wissensfelder im alchimistischen Kino. Das Kino als Bereich der Wahrnehmung wird von Abel Gance mit einem „Evangelium von morgen“ als einem prophetischen Wissen verknüpft. Doch anders als bei NAPOLEON war 1919 der Krieg für J’accuse noch keine vergangene Epoche, sondern ziemlich präsent. 

     Ein großer Film? Das Evangelium von morgen. Eine Brücke des Traums, geschlagen von einer Epoche zu einer anderen; alchimistische Kunst, das große Werk für die Augen. 

     Die Zeit des Bildes ist angebrochen![12]


Abel Gance: J'accuse (Trailer, Screenshot, T.F.) 

Die Titelformulierung J’accuse wird im Film mehrfach als Schriftbild wiederholt. Nackte, gefesselte Frauenkörper bilden „J’ACCUSE“ in Majuskeln. Der Dichter Jean Diaz (Roumald Joubé) zermartert sich den Kopf über den Krieg und die Beziehung zu seiner Geliebten Edith Laurin (Maryse Dauvray), während „J’ACCUSE“ als Lettern über seinem Kopf erscheint. Diaz schreibt mit Angèle (Angèle Guys) auf die Einfassung des Kamins mit Kreide „J’accuse“. Als Jean Diaz ebenso wahnsinnig wie hellsichtig aus dem Krieg zurückkehrt, führt Angèle seine Hand um „J’accuse“über den Kamin mit Kreide zu schreiben. Das „Ich klage an“ ist nicht nur abstrakt mit den Bildern vom Krieg und der Dreiecksgeschichte von Jean, Edith und François Laurin (Séverin-Mars) verknüpft, vielmehr taucht die Anklage konkret im Kontext mit Angèle auf. Denn Edith war von deutschen Soldaten im Elsass vergewaltigt worden und kehrt mit dem Kind des Feindes aus der Gefangenschaft in das Haus ihres Schwiegervaters Maria Laurin (Maxime Desjardins) zurück.


Abel Gance: J'accuse (Trailer, Screenshot, T.F.) 

Der Inhalt oder die Zusammenfassung wird in der Regel bislang falsch kolportiert. Die „Musik des Lichts“ generiert durchaus eine andere Erzählung als die, dass François Ediths Tochter Angèle getötet hätte, weil er darin einen Ehebruch mit Diaz gesehen hätte. Der größte Makel Angèles ist vielmehr, dass sie das Kind des Weltkriegsfeindes ist, das Edith nicht bei der Geburt umgebracht, sondern mit Fürsorge und Liebe in Gefangenschaft aufgezogen hat. Edith hat nicht moralisch oder nationalistisch, sondern humanistisch gehandelt. Darin liegt der zentrale dramatische Konflikt des Films. Dieser Konflikt ist so groß, dass sich ihr Schwiegervater Maria Laurin lieber umbringt, als den Makel im Dorf zu ertragen. Diaz macht Angèle, das in Gefangenschaft bei den Deutschen aufgewachsene Kind, zu einer Französin, um als erste Lektion „J’accuse“ an den Kamin als Ort des Heimes zu schreiben. Schließlich erweist sich Angèle als derart gelehrig, dass sie Diaz die Hand führt.


Abel Gance: J'accuse (Trailer, Screenshot, T.F.) 

Die Frauenkörper, die „J’ACCUSE“ bilden, sind nicht nur eine dem Jugendstil verwandte Bildfindung, vielmehr bilden die missbrauchten Frauenkörper wirklich die Anklage. Doch diese „Musik des Lichts“ ließ und lässt sich womöglich immer noch zugunsten des Titels übersehen. Denn die Anklage der Frauenkörper generiert sich erst, wenn man die „Musik des Lichts“ nicht nur in ihrer Stärke hört, sondern liest. „Die Musik des Lichts“ lässt sich nicht nur genießend hören/sehen, sie kann und muss auch gelesen werden. Und wie bei NAPOLEON wird Abel Gance weniger aus einem geordneten Konzept als vielmehr nach der Stärke oder Intensität von Schwingungen an der Grenze zum Traum seinen Film gedreht, montiert und geschnitten haben. Denn das Reale der Dokumentarfilmsequenzen wird geradezu surreal, weil der Film nach anderen Modi des Erzählens funktioniert.


Abel Gance: J'accuse (Trailer, Screenshot, T.F.) 

Abel Gance wird filmhistorisch als Autor des Drehbuchs und Regisseur ausgewiesen, als hätte ein durchkomponiertes Drehbuch vor Drehbeginn existiert. Der „Mahlstrom“ der Filmproduktion im Krieg und kurz danach wird schwerlich ein ausgearbeitetes Drehbuch erlaubt haben. Vielmehr entsteht der Film an der Grenze des Planbaren, einer bewussten Ordnung. Offenbar gab es auch für die Dreiecksgeschichte zwischen Jean, Edith und François keinen Theatertext. Hinweise, dass J’accuse das Theaterstück Miracle à Verdun von Hans Chlumberg zugrunde liegen könnte, dürften sich chronologisch als vollkommen falsch erweisen.[13] Die rekonstruierte Schnittfassung und die konzeptuellen Ausführungen zur „Musik des Lichts“ geben einen Wink auf die kaum dokumentierte Produktionspraxis aus dem Krieg und Kriegserlebnis heraus. Es gab vermutlich sehr ähnlich wie bei Wim Wenders Himmel über Berlinkein Drehbuch.[14]


Abel Gance: J'accuse (Trailer, Screenshot, T.F.) 

Was sich als Handlung lesen lässt, stellt sich als nachträgliche Konzeption heraus. Das Trauma wird als Drei- bzw. Vierecksgeschichte verarbeitet, die den Kriegsgegner gerade nicht verurteilt, sondern an Angèle eine fast rousseausche Pädagogik vorführt. Angèle ist durchaus eine Schwester von Rousseaus Émile. Die Volten in der Handlung von J’accuse sind zahlreich und überraschend. Dass es hier allein um die Inszenierung des Pazifismus als politische Haltung gegen den Krieg gehen sollte, lässt sich kaum denken. Mit der Liebesgeschichte von Jean und Edith werden indessen zahlreiche Neben- und Seitenstränge verknüpft. François schickt Edith zu ihren Eltern, damit sie keinen Kontakt mehr zu Jean haben kann. Er übt quasi ein patriarchales Eherecht gegenüber seiner Frau aus. Doch genau dieses tradierte Eherecht führt dazu, dass Edith von den deutschen Kriegsgegnern vergewaltigt und gefangen genommen wird. Der Krieg sprengt nicht zuletzt tradierte Rechtskonstruktionen, worauf durchaus so mancher junge Mann 1914 seine Hoffnung gesetzt hatte. Doch diese Situation verkehrt sich in einen unvorstellbaren Schrecken.


Abel Gance: J'accuse (Trailer, Screenshot, T.F.) 

Geben die Volten einen Wink? Die erzählerischen Volten generieren einen tendenziell viel zu langen Film. 166 Minuten oder der nicht enden wollende NAPOLEON mit einem ersten Teil von sechs Stunden geben einen Wink auf einen tendenziell endlosen Film als „Musik des Lichts“. Die Volten funktionieren also schon in J’accuse als eine Verlängerung des Films und Filmemachens in die Unendlichkeit. Mit Mühe und Not lassen sich Steigerungen konstruieren und Jean wird am Schluss zu einem ebenso prophetischen wie verrückten Erzähler von der Auferstehung der Toten vom Schlachtfeld und ihrer Heimsuchung der Angehörigen. Jean, der Dichter wird zum Propheten im Medium Film, der trickreich erzählen und zeigen kann, wie die Toten nahen. Nina Goslar hat daran erinnert, dass „die Auferstehung der Toten, (...) im französischen Süden im September 1918 (entstand)“ .

Dort waren Soldaten in großen Camps untergebracht und hatten eine Woche Fronturlaub, bevor sie wieder nach Verdun zurück mussten. Mit 2000 Soldaten drehte Gance Jeans Vision von der Wiederauferstehung der Toten und ihrem Marsch durchs Dorf. Diese Soldaten wussten, dass sie bei ihrer Rückkehr von den Dreharbeiten die Holle des Krieges wahrscheinlich nicht überleben würden, ...[15]


Abel Gance: J'accuse (Trailer, Screenshot, T.F.)

 

Die Kunst und Wissenschaft der Alchemie vermag, Tote zum Leben zu erwecken. Und der Schrecken der Bilder tritt erst ein, wenn man bedenkt, dass die auferstandenen Toten dem Tod geweiht sind. Abel Gance provoziert mit seinem Film eine Grenze des Todes und macht das Medium zu einer Totenkunst. Mit jedem Film werden nach einer gewissen Zeit Tote zum Leben erweckt. Und Todgeweihte können wissen, dass sie durch die „Musik des Lichts“ überleben werden. Die „alchimistische Kunst“ des Films lässt die Toten real mit Dokumentarszenen aus dem Krieg auferstehen. Das neu Evangelium des Films knüpft bei Abel Gance an Hesekiel 37.10 aus dem Alten Testament materiell an. Die Toten haben sich durch Belichtung auf dem Zelluloid eingeschrieben, um jederzeit wiederzukehren.      

 

Motivisch werden Filmsequenzen in J’accuse wiederholt, sie kehren wieder. Die Wiederholung von Motiven als klassische Kompositionspraxis gibt auch hier einen Wink auf das Kino als eine neuartige Musik, die kaum enden will. Der Film- und Kinomarkt verlangte und verlangt allerdings keine Wiederholungen und zeitlich aufwendigen Filme, sondern stringente, zeitlich abgemessene Erzählungen, nach deren Gesetze J’accuse verstümmelt werden muss. Es geht weniger um das Epos als Großerzählung vom Krieg, als vielmehr um Erinnerungsschleifen, die das Trauma traumartig ständig wiederkehren lassen. Darin liegt Abel Gance`Praxis des Kino. Selbst in der rekonstruierten Fassung lässt sich nicht der „ganze“ Film sehen. Der Lange Max wird in rot viragiert und kehrt feuernd als Trauma mehrfach wieder. Das geschieht weniger, um die Deutschen anzuklagen, als vielmehr die Wunde dieser Massenvernichtungswaffe – und gewiss Wunderwaffe – nicht in Daten und Technikfaszination aufgehen, sondern als Schrecken wiederkehren zu lassen.

 

Philippe Schoellers Live-Musik für großes Orchester und virtuellen Chor lässt einerseits die Szenen in Tönen wiederkehren wie z.B. bei Tanzszenen. Anderseits hinterlassen die akustischen Detonationen einen besonders nachhaltigen Eindruck. Es pfeifft und braust und donnert unter der Leinwand auf dem Podium im Konzerthaus. Bereits in Händels Dettinger Te Deum gibt es Kanonendonner und Detonationen. Doch sie dienen zur Danksagung an Gott für Sieg in der Schlacht von Dettingen am 27. Juni 1743. Wie die Filmbilder keine Schlacht verherrlichen, so ist es bei Philippe Schoeller auch die nackte, fast schrille Detonation, die sich ins Gehör und die Erinnerung scheidet. Frank Strobel führte diese Musik mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin ebenso sensibel wie präzise aus. Offene wie konzentrierte Augen und Ohren waren für die Vibrationen gefragt, doch wer sie zuließ, wurde auf beeindruckende Weise geflasht.

  

Torsten Flüh

  

Siehe zu Sendeterminen und Stream 

ARTE  

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[1] Vgl. Torsten Flüh: Vom Schrecken der Macht des Einen. Zur Welturaufführung beider Teile von Eisensteins und Prokofjews Ivan Grozny beim Musikfest. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. September 2016 22:07.

[2] Siehe Torsten Flüh: Revolutionäre Zeiten. Les Adieux À La Reine und Oktjabr auf der Berlinale 2012. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Februar 2012 22:44.

[3] Vgl. auch: Stummfilme auf ARTE fünf Fragen an die Redaktion. In: Musikfest Berlin: 14.9.2018 Film & Live Musik Abel Gance: J’accuse Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Frank Strobel. Berlin: Berliner Festspiel, 2018, S. 17.

[4] Abel Gance: Die Zeit des Bildes ist angebrochen. (Übersetzung von Margrit Tröhler und Jörg Schweinitz) In: Ebenda S. 18.

[5] Abel Gance: «Le temps de l’image est venu!», in: L’ Art cinématographique, Bd. II. Hg. v. Leon Pierre Quint, Germaine Dulac, Lionel Landry und Abel Gance. Paris: Alcan 1927, S. 83-102. Siehe auch: Züricher Filmstudien: Französische Originaltexte. Seminar für Filmwissenschaft. (Texte zum Downloaden)

[6] Abel Gance: Die … [wie Anm. 4] S. 18.

[7] Siehe u. a. Torsten Flüh: Gefeierte Enden der Sexualwissenschaft. Zum Festakt für Magnus Hirschfelds 150. Geburtstag im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Mai 2018 16:46. 

[8] Abel Gance: Le temps … [wie Anm. 5] S. 83/Abel Gance: Die Zeit … [wie Anm. 4] S. 18.

[9] Joseph von Fraunhofer: Kurzer Bericht von den Resultaten neuerer Versuche über die Gesetze des Lichtes, und die Theorie derselben. München 1823. (BSB digital)

[10] Heinrich Friedrich Hertz: Ueber electrodynamische Wellen im Luftraume und deren Reflexion. In: Annalen der Physik und Chemie. Band 270, Joh. Ambr. Barth, Leipzig 1888, S. 609–623.

[11] Vgl. Heinrich Hertz: Beiträge in den Annalen der Physik (Wikisource)

[12] Abel Gance: Die Zeit … [wie Anm. 4] S. 25.

[13] Vgl. „Ich klage an“ auf Wikipedia.

[14] Vgl. zum Filmdrehen ohne Drehbuch: Torsten Flüh: Kühlendes Kino in der Hitzewelle. Zum Freiluftkino und der restaurierten Fassung von Der Himmel über Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. August 2018 16:31.

[15] Nina Goslar: Entstehung des Films. In: Musikfest Berlin: 14.09.2018 ... [wie Anm, 3] S. 9.

 

 

Spiritualität und elektronische Geisterkunst - Zum Stockhausen-Zyklus mit Telemusik, Mantra und Inori beim Musikfest

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Ton – Religion – Elektronik 

 

Spiritualität und elektronische Geisterkunst 

Zum Stockhausen-Zyklus mit Telemusik, Mantra und Inori beim Musikfest 

 

Das faszinierende Musikfest 2018 unter der Leitung von Winrich Hopp klingt nach. Es endete mit einer Aufführung von Inori(1973/74) unter der Leitung von Peter Eötvös einem Schüler, Mitarbeiter und langjährigen Vertrauten von Karlheinz Stockhausen. Gleichsam als testamentarische Formulierung sagte Stockhausen am 25. September 2007: „Mein Leben ist extrem einseitig: die Werke als Partituren, Schallplatten, Filme, Bücher zählen. Das ist mein in Musik geformter Geist und ein Universum von Momenten meiner Seele in Klang.“ Am 5. Dezember 2007 verstarb er im neunundsiebzigsten Lebensjahr. Seit den 50er Jahren spielte die Elektronik mit dem Studio für Elektronische Musik in Köln in das Musikmachen bei Stockhausen hinein. Zugleich diente sie dem Pionier dieser musikalischen Erweiterung, um beispielsweise in Mantra (1970) akustische Effekte zu erzeugen, die die Spiritualität stärken sollten.

 

Tendiert die Elektronik in der Musik Karlheinz Stockhausens bereits zur Künstlichen Intelligenz? Wie bedingen Elektronik oder Künstliche Intelligenz und Spiritualität einander? Seine Musik als „geformter Geist und ein(em) Universum von Momenten (s)einer Seele in Klang“ hält an den Begriffen „Geist“ und „Seele“ fest, während er auf Elektronik und einem höchst analytischen Einsatz von Tönen, Lautstärke und seriellem Komponieren setzte. Ist das nicht ein Widerspruch? Inori– nicht zuletzt – könnte als Komposition einer neuen oder gar neuartigen transkonfessionellen Religion interpretiert werden. 13 Gebetsgesten aus verschiedenen Religionen werden unter Einsatz von Klangregie zu einer Transreligion des „Hu“ kombiniert. Technizität und Religionen generieren eine neuartige Religion? Oder fragen sie, was Spiritualität und Religion sein könnten?  

 

Kein anderer Komponist des 20. und beginnenden 21. Jahrhundert hat mit der Technizität der Musik diese selbst so stark beeinflusst wie Stockhausen. Gleichzeitig hat kein anderer Komponist mit religiöser oder geistiger Musik so intensiv experimentiert und mit Äußerungen zu Religionen derartige Kontroversen ausgelöst. Die Teilnahme an Stockhausen-Konzerten wie INORI Anbetung für zwei Tänzermimen und großes Orchester, aber auch schon bei der Telemusik Elektronische Musik (1966) bekommt leicht einen Bekenntnischarakter. In der Aufführung von INORI sitzt ein in buddhistisches Gelb gewandeter Mann in der Philharmonie, der vielleicht kein Mönch ist und doch sein gelbes Gewand als religiöses Bekenntnis trägt, während gerade der einst vertraute Peter Eötvös den „religiösen Aspekt“ ablehnt, um das „Ritual“ zu betonen. 

Ein Ritual. INORI ist das Ergebnis einer Religiosität, die ich als Teil der Menschheits-Kultur akzeptiere. Alle Weltreligionen gehören für mich zur menschlichen Kultur, ohne dass ich selbst an ihnen teilhaben möchte. Aber alles Rituelle ist für mich von höchstem Wert.[1]

 

Rituale, Zeremonien, Aktionen und Symphonien bildeten den roten Faden durch das Festival. Insofern war die Aufführung von INORI als Ritual auch ein programmatischer Schlusspunkt. Lässt sich ein Ritual oder eine Zeremonie ohne Spiritualität denken? Oder generieren die auf Wiederholung angelegten Rituale nicht tendenziell Spiritualität? Die sequenzielle Wiederholbarkeit des Rituals führt zu sinnlichen Sinnstiftungen, könnte man sagen. Häufig entwickeln Paare Rituale z.B. im Jahresrhythmus, um sich von anderen Paaren und z.B. religiösen Zeremonien zu unterscheiden. Der Besuch der Bären im Tierpark Hagenbeck in Hamburg am Vormittag des 31. Dezember wird alljährlich als Ritual wiederholt und fast schon als Versicherung der Paarbeziehung gefeiert. Rituale lassen sich in einer Art Mikrokosmos sozial ausbilden, tragen zur bestätigenden Erinnerung bei und manifestieren gleichsam einen Wunsch nach Kontinuität.  

 

Das Ritual wird im Werk Stockhausens mit der Elektronik verknüpft. Für Telemusik kombiniert er mehrere analoge Techniken wie 8-Spur- und 2-Spur-Magnettonbändern, Mischpult und Klangregie zur Elektronischen Musik. Man kann diese Komposition wohl eine Schnittstelle zur Künstlichen Intelligenz in der Musik nennen, obwohl analoge Techniken eingesetzt werden. Der Komponist hat seine Arbeit in ihrer Genese ausführlich zur Uraufführung am 21. März 1966 kommentiert und den Kommentar 1969 noch einmal ergänzt hat. Vor allem in der Ergänzung wird eine Überwindung der „Collage“ versprochen, obwohl oder gerade weil Stockhausen mit den Aufnahmen von den Tonbändern Klänge der „Gagaku-Spieler, von der glücklichen Insel Bali, aus der südlichen Sahara, von einem spanischen Dorffest, aus Ungarn, von den Shipibos des Amazonas“ etc. mischte um seine Telemusik entstehen zu lassen. Der universalistische Traum „nicht ,meine‘ Musik zu schreiben, sondern eine Musik der ganzen Erde, aller Länder und Rassen“ soll in dieser Musik realisiert werden.[2] 

 

Telemusik wurde am 15. September im Großen Sendesaal des Funkhauses fast rituell aufgeführt. Das Licht geht aus. Der Scheinwerfer zeichnet sich als Lichtkreis über dem Konzertpodium ab. Telemusik erklingt vom Band. Nach der ersten Irritation wird klar, dass das Stück in allerbester Tontechnik mit Lautsprechern, wie sie sich Stockhausen nur erträumt haben mag, erklingt. Vielleicht ist die Klangregie von Marco Stroppa noch letzte Spur eines Live-Konzertes. Einerseits lässt sich kaum noch die Aufnahme einer ursprünglichen Musik wahrnehmen. Vielleicht bräuchte man ein maximales Klanggedächtnis, um die „Shipibos des Amazonas“ wahrnehmen zu können. Andererseits wollte Stockhausen die „Collage“ überwinden. 

TELEMUSIK (ist) zum Anfang einer neuen Entwicklung geworden (…), in der die Situation der ,Collage‘ der ersten Jahrhundert-Hälfte allmählich überwunden wird: TELEMUSIK ist keine Collage mehr. Vielmehr wird – durch Intermodulationen zwischen altem, ,gefundenen‘ Objekten und neuen, von mir mit modernen elektronischen Mitteln geschaffenen Klangereignissen – eine höhere Einheit erreicht: Eine Universalität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von weit voneinander entfernten Ländern und ,Räumen‘: TELEMUSIK.[3]

 

Telemusik generiert aus wesentlich rituellem Klangmaterial unterschiedlicher regionaler wie kultureller Herkunft eine vorerst relativ kurze, aber damals sehr lange Elektronische Musik von ca. 18 Minuten.[4] Das Klangmaterial wird allerdings nicht nur vom Tonband ausgeschnitten oder kopiert und anders – beim Magnettonband noch im wahrsten Sinne des Wortes mit Klebstoff – zusammengeklebt, was durchaus hörbar war. Vielmehr wird das Klangmaterial von Stockhausen im Studio für Elektronische Musik des Japanischen Rundfunks Nippon Hoso Kyokai in Tokyo bereits selbst durch die elektronische Mischung und Stauchung verändert, so dass sich die einzelnen Ausschnitte kaum mehr unterscheiden lassen. Aufnahmetechnisch verändert sich damit durchaus das Verfahren der Collage, bei dem die Ausschnitte allein neukombiniert werden, um wie in den Collagen von Herta Müller neue Texte zu generieren.[5]

 

Das Fragmentarische und Diverse der Collage wird von Karlheinz Stockhausen nicht nur verworfen – „TELEMUSIK ist keine Collage mehr.“ –, vielmehr soll es durch „eine höhere Einheit“ ersetzt werden. Visualisiert macht es einen Unterschied, ob man einen puristischen Lichtkreis über ein Konzertpodium für TELEMUSIK projiziert, der auch an die japanische Nationalfahne erinnern könnte, oder eine Art Klangfilm mit „Audacity, Sonic Visualizer and vokoscreen“ digital generiert, wie es Sebastian H. M. Murdock gemacht hat. Bei Murdock wird das collageartige sichtbar.[6] Bereits mit TELEMUSIK schreibt Stockhausen einen ebenso poetischen wie chiffrierenden Kommentar, der die technisch-elektronische „Klangereignisse“ (Stockhausen!) mit dem Versprechen auf „eine höhere Einheit“ und „Universalität“ auflädt. Der technische Neuanfang der Musik als Leer-, Bruch- oder Schnittstelle wird sogleich in ein geistesgeschichtliches Sinnversprechen verwandelt.

 

Stockhausens Kompositionskommentare entwickeln eine eigene, fast widersprüchliche Logik zu seiner Praxis des Musikmachens. Nachdem Stockhausen Refrain (1959), Zyklus (1959) und Kontakte für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug (1958-1960) komponiert hatte, die im Konzert erst nach TELEMUSIK von Pierre-Laurent Aimard (Klavier/Celesta), Dirk Rothbrust (Schlagzeug), Benjamin Kobler (Klavier) und Marco Stroppa (Klangregie) aufgeführt wurden, formuliert er mit einer gewissen Verzögerung von drei Jahren eine programmatische „höhere Einheit“ und „Universalität“. Stockhausen hat für seine Texte zur Musik (1971) die nachträgliche Vereinheitlichung als „Einschub 1969“ im Text kenntlich gemacht.[7] Diese Nachträglichkeit eines Anspruchs auf eine „Universalität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von weit voneinander entfernten Ländern und ,Räumen‘“ wird von ihm zugleich lesbar gemacht und proklamiert. Einerseits analysiert und dekonstruiert er die Musik und das Musikmachen bis in die feinsten Strukturen, andererseits muss von ihm die Musik als Kunst, Einheit und Universalität zu schaffen, versprochen werden. Das gibt auch einen Wink auf mythologische Figur des Künstlers als Schöpfer.

 

Das Paradox von Technik und Spiritualität bei Karlheinz Stockhausen wird ebenfalls auf beeindruckende Weise mit Mantra für zwei Klaviere und Ringmodulation (1970) praktiziert. Auf eindrucksvolle Weise lässt sich dies in der Lecture über Mantra am Imperial College in London vom 19. Juli 1973 verfolgen, die in drei Videos auf YouTube zugänglich ist.[8] Stockhausen erklärt hochmusikalisch mit der komplexen Partitur an der Wandtafel, wie er zufällig aus einer Melodie, die ihm 1969 während einer Autofahrt mit drei weiteren Leuten von Madison Connecticut nach Boston in den Sinn kam, Schritt für Schritt zwischen dem 1. Mai und dem 20. Juni 1970 während der Weltausstellung in Osaka komponierte, um im zweiten Teil nach ca. 115 Minuten zu erklären, wie er auf den Titel gekommen ist.[9] Der relativ unspezifische Begriff des Mantra wird nun von Satprems (Bernard Enginger) Biographie Sri Aurobindo, or the Adventure of Conciousness (1964) hergeleitet.

 

Was hat Stockhausen gelesen, als er die Biographie des Gurus Sri Aurobindo als Bewusstseinslehre las? Zunächst gilt das Buch als eine der populärsten Einführungen ins integrale Yoga. Die (rituelle) Wiederholung von 13 Tönen öffnet nach einer von Stockhausen vorgelesenen Definition sozusagen das Bewusstsein. Hatte er zuvor die Modulationen der Melodie durch 13 Tönen und als Ausgangspunkt der vielfältigen Kombinationen in Mantra erklärt, so lässt sich im Video der Lecture beobachten, wie er das Zitat in Englisch abliest, um dann an die Tafel zu blicken und bei 56:04 erfreut in die Hörerschaft zu blicken. Denn die 13 Klänge oder Töne seien exakt das gewesen, was er mit seinem Stück komponiert habe. Mantra sei eine Technik, das Abenteuer des Bewusstseins zu erleben. Doch was gibt es noch in Sri Aurobindo oder das Abenteuer des Bewusstseins zu lesen?

 

Sri Aurobindo oder das Abenteuer des Bewusstseins bestätigt erst nachträglich Mantra als Komposition. Mantra ist zugleich eine Technik als Konzentrationspraxis und eine Sinnstiftung. Die hohe Technizität der Musik und Ringmodulation, die allererst mantrisch Soundeffekte generiert, macht die Komposition wenigstens tendenziell beliebig oft reproduzierbar, als sei ein Kompositionscode geknackt worden. Mantra ließe sich zumindest nach der dreiteiligen Lecture womöglich durch ein Computerprogramm digital generieren. Durch Kombinationen und Modulationen wird „aus einer 13-tönigen Formel“ (Stockhausen) ein Konzert für zwei Klaviere generiert.[10] In London führte Stockhausen die „13-tönige() Formel“ enthusiastisch vor, um bei Sri Aurobindo anzukommen, denn im Vorwort schreibt Satprem am 27. Januar 1970 im Ashram im indischen Pondicherry: 

Das Zeitalter der Abenteuer ist vorbei. Selbst wenn wir die siebte Galaxie erreichen, werden wir behelmt und mechanisiert dorthin gehen, und das wird nichts für uns verändern; wir werden uns genauso finden, wie wir jetzt sind: hilflose Kinder angesichts des Todes, Lebewesen, die nicht sicher sind, wie sie leben, warum sie am Leben sind oder wohin sie gehen. Wie wir wissen, sind auf der Erde die Zeiten von Cortez und Pizarro vorbei; ein und derselbe durchdringende Mechanismus erstickt uns: die Falle schließt sich unerbittlich. Aber wie immer stellt sich heraus, dass unsere trostlosesten Widrigkeiten auch unsere vielversprechendsten Gelegenheiten sind und dass die dunkle Passage nur eine Passage ist, die zu einem größeren Licht führt. Mit dem Rücken zur Wand stehen wir also vor dem letzten Territorium, das wir noch erforschen müssen, dem ultimativen Abenteuer: uns selbst.[11] 

 

Satprem formuliert 1970 vor allem gegen den „behelmt(en) und mechanisiert(en)“ Menschen wie „ein und derselbe durchdringende Mechanismus“ gegen die Zukunftsversprechen der 50er und 60er Jahre, in denen die Raumfahrt als Zukunft zur Staatsraison gehört, ein, sagen wir, alternatives „letzte(s) Territorium“. Dem Zukunftsversprechen der Technik und Galaxien, das sich zumindest mit den Sojus- und Apollo-Kapseln erfüllt zu haben scheint, wird ein „ultimatives Abenteuer“ der Reise zum Selbst und seinen Vorfahren entgegengesetzt. Mantra wird, so könnte man sagen, an der Schnittstelle von Artificial Intelligence und Adventure of the Conciousness als Freiheitsversprechen komponiert bzw. nachträglich verortet. Während einer Einführung zu Mantra mit Pierre-Laurent Aimard, Tamara Stefanovich und Marco Stroppa als Klangregisseur im Kammermusiksaal am 17. September vermittelte Winrich Hopp seine Faszination durch Mantra mit der perfekten Aussteuerung und individuellen Klangreglern, indem er davon sprach, dass es klinge, „als wenn die Musik aus dem Weltraum kommt“.

 

Mantraübt heute auf jeden Fall eine starke Faszination aus, was insbesondere der technisch ausgefeilten Ringmodulation durch Marco Stroppa im Kammermusiksaal zu verdanken war. Erst dadurch kommt, sagen wir, der mantrische Hall für die Zuhörer zustande, der das Hören von einzelnen Anschlägen auf den einhüllenden Nachhall verschiebt. Oder mit Stockhausen: „Dadurch spürt man ein ständiges harmonisches ‚Atmen‘ von konsonanten zu dissonanten zu Konsonanten Modularklängen durch die genau abgestimmten Verhältnisse zwischen den modulierenden Sinustönen und modulierten Klaviertönen.“[12] Durch das Hören wird mantrisch das Hörer*innenbewusstsein verändert, könnte man sagen. Denn in der „musikalische(n) Miniatur der einheitlichen Makro-Struktur des Kosmos“ und der „Vergrößerung ins akustische Zeitfeld der einheitlichen Mikro-Struktur der harmonischen Schwingungen im Ton selber“ kommen wiederum Einheit und Universalität zum Zuge.   

 

Mit dem Vortrag Über HU schaltet Karlheinz Stockhausen unmittelbar nach der Komposition von INORI (1973/74) diesem Stück eine Einleitung voraus, die nun das Verhältnis von Technik und Spiritualität umkehrt. Im Rahmen des Festivals wurde der Vortrag als Film von Suzanne Stephens (1998) mit Kathinka Pasveer als Solistin vom 5. April 1998 in deutscher Sprache am Nachmittag vorgeführt. Im Internet gibt den Vortrag mit Kathinka Pasveer in englischer Fassung von 2003. Stockhausen hat diesen Vortrag als Einführung zur Aufführung quasi als Ritual konzipiert. Der Vortrag wird eröffnet mit der klanglichen Analogie von HU in vielen Sprachen und Religionen, womit ein spirituelles Klangerlebnis quasi vorbereitet wird. Die Komposition, nun für großes Orchester und zwei Tänzermimen mit 16 Rin bwz. Klangschalen, 14 Klangplatten, Cymbales antiques und Indischem Schellenkranz erweitert, setzt klanglich und visuell als 13 Gebetsgesten wiederum eine Art 13-töniger Formel in Szene.

 

Anders als in Mantra wird nun der westliche Orchesterapparat um östliche Instrumente erweitert. Elektronik findet keinen vergleichbaren Einsatz. Die Orchesteraufstellung wird genau vorgeschrieben. Formelartigkeit und Formalisierungen strukturieren die rituelle „Anbetung“ eines Gottes. Im Vortrag Über HU wird programmatisch mit dem HU auf (einen) Gott Bezug genommen. Einheit und Universalität als Anspruch werden mit INORI konzeptuell von vornherein komponiert. Was sich so vorzüglich im Stockhausen Zyklus des Musikfestes vorzüglich beobachten ließ, war wie die technisch-elektronisch-experimentellen Komposition zu einer konzeptuellen Umkehrung des Verhältnisses von Technik und Spiritualität führen. Die Konzeptualisierung der Komposition als geistige wie religiöse geht nunmehr dem Komponieren unter Anwendungen ähnlicher Techniken voraus, als müsste die Spiritualität von vornherein abgesichert werden.

 

Die Anforderungen an das Orchester und die Tänzermimen Winnie Huang und Diego Vásquez sind extrem hoch. Man muss die 13 Gebetsgesten und die Geste für Stille und Echo nicht vorher vermittelt bekommen haben, um sie wahrnehmen zu können. Doch der mit der Musik absolut synchronisierte Wechsel der Gesten fordert gleichermaßen vom Publikum Konzentration. Der Ablauf der Gebetsgesten ist genauestens mit der Musik synchronisiert und vorgeschrieben. Die Tänzermimen haben quasi keine Möglichkeit zu einer Art persönlichen Ausdruck, da sie absolut auf den Synchronizität mit der Musik konzentrieren müssen. Das ist ebenso faszinierend, verstörend, weil durch die Abfolge der Vereinenden Gesten sich eine Erzählung oder Geschichte nicht einstellen will. Das Ritual wird unter höchsten Anforderungen wiederholt und modifiziert. Für den Berichterstatter war es jedenfalls so, dass die Gesten und die Musik in gewisser Weise einen mechanischen Zug bekamen, während nun gerade eine von Sinn und Erzählung gesättigte „Form und Großform der Komposition“ aufgeführt wurde.[13]

 

Wann stellt sich Spiritualität ein? Die Gesten sind auf den Ton abgestimmt, wie sich an der „Urgestalt (‚Formel‘)“ aus „Tempi – Bet-Gesten – Melodie – Dynamik – Klangfarben – Dauern“ lesen lässt.[14] Das „hu“ wird in verschiedenen Klangfarben artikuliert und nur einmal von dem Tänzermimen ausgerufen, woraufhin er mit großer Kraft auf den Boden schlägt. Im Formschema werden Rhythmus, Dynamik, Melodie, Harmonie und Polyphonie in Phasen von Gensis, Evolution und Pause eingeteilt. Vielleicht – und das könnte bedenkenswert sein – generiert sich Spiritualität gerade durch ein Ritual, dessen Horizont der Schrecken der Maschine aufsteigt. 

 

Torsten Flüh 

 

kulturradio vom rbb 

Karlheinz Stockhausen II 

Telemusik, Refrain, Zyklus, Kontakte 

10. Oktober 2018 ab 21:04 Uhr

 

Deutschlandfunk Kultur 

Karlheinz Stockhausen IV 

INORI 

Mediathek: Konzert vom 20. September 2018 ab 20:03 Uhr. 

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[1] Peter Eötvös: „Ich habe seinen Gesang im Ohr“. In: Musikfest Berlin: 18.9.2018 Stockhausen IV Orchester der Lucerne Festival Academy Peter Eötvös. Berlin: Berliner Festspiel, 2018, S. 13.

[2] Karlheinz Stockhausen: TELEMUSIK (1966). In: Musikfest Berlin: 15.9.2018 Stockhausen II Pierre-Laurent Aimard Dirk Rothbrust Benjamin Kobler Marco Stroppa. Berlin: Berliner Festspiel, 2018, S. 9.

[3] Ebenda.

[4] Vgl. z.B. die Visualisierung von TELEMUSIK durch Sebastian H. M. Murdock auf YouTube von 2015.

[5] Vgl. z.B. Torsten Flüh: In der Sommermittagshitze oder bei klirrendem Frost. Ein Fest für Herta Müller in Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Dezember 2009 00:24. Ausführlicher zur Collage in der Literatur: Torsten Flüh: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017.

[6] Wie Anm. 4.

[7] Karlheinz Stockhausen: TELEMUSIK … [wie Anm. 2] S. 9.

[8] Karlheinz Stockhausen - MANTRA (1973) British Lectures Lecture 7 [Part 1/3].

[9] Karlheinz Stockhausen - MANTRA (1973) British Lectures Lecture 7 [Part 2/3] ca. 55:18.

[10] Karlheinz Stockhausen: Mantra. In: Musikfest Berlin: 17.9.2018 Stockhausen III Pierre-Laurent Aimard Tamara Stefanovich Marco Stroppa. Berlin: Berliner Festspiel, 2018, S. 9.

[11] Satprem: Sri Aurobindo, or the adventure of Conciousness. Pondicherry, 27. Januar 1970. (SITE OF SRI AUROBINDO & THE MOTHER)

[12] Karlheinz Stockhausen: Mantra … [wie Anm. 10].

[13] Karlheinz Stockhausen: Form und Großform der Komposition INORI. In: : Musikfest Berlin: 18.9.2018 Stockhausen IV … [wie Anm. 1] S. 18-19.

[14] Ebenda.

 

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