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Der Kracher - The Ballery zeigt Jan Maschinskis Ausstellung Badluck zum Jahreswechsel

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Feuerwerk – Glück – Trauma 

 

Der Kracher 

The Ballery zeigt Jan Maschinskis Ausstellung Badluck zum Jahreswechsel 

 

Wie spricht man denn nun den Namen The Ballery aus? Simon Williams, Managing Director, erklärt ihn mit einem Tippfehler: Er wollte „Gallery“ schreiben, tippte stattdessen „Ballery“ und fand es einen prima Namen für sein Projekt im Nollendorf-Kiez. In der Nollendorf-, Fugger-, Motz-, Eisenacher etc.-straße zählen allerdings auch die im Englischen mehrdeutigen balls, die man(n) hat oder nicht. Überhaupt erinnert Ballery ebenso an ballet (ˈbæleɪ), was schon deshalb passt, weil Williams weiterhin gelegentlich als Tänzer und Choreograph arbeitet. Demnächst wird er wieder 4 Vorstellungen an der Oper Zürich in Ingo Metzmachers Tannhäuser, also in der Venusberg-Szene zu sehen sein. Mit seinem smarten Assistant Director Otto Oscar Hernández Ruiz und Miss Tilda führt er engagiert The Ballery seit 4 Jahren in der Nollendorfstraße 11-12.

 

Passend zum Silvesterfeuerwerk hatte Williams den mittlerweile in Berlin lebenden Fotografen und Media Artist Jan Maschinski mit seiner Ausstellung Badluck eingeladen. Im Deutschen kennt man Glück im Unglück, im Englischen bad und good luck. Schockfotos zum Silvesterfeuerwerk! Zerfetzte Körperteile. Chinakracher zwischen kindlichen Fingern. Sie kennen das. Am 31. Dezember 2018 zogen mittags Kinder die Lindower Straße zum Nettelbeckplatz hoch, indem sie Raketen und immer wieder größere Böller jaulend detonieren ließen. Mutprobe. Spaß. Sie hatten eine ganze Supermarktpackung dabei.

 

Sie haben gewiss einmal von Verletzungen durch Feuerwerkskörper gelesen. Vom S-Bahnhof Wedding aus konnte ich kaum eingreifen und dem leichtsinnigen Spaß der Kinder, vielleicht Roma aus der Gerichtstraße, ein Ende bereiten. Rufen, schimpfen, brüllen wäre zwecklos gewesen. Bald kam ein Polizeieinsatzwagen herangefahren. Jemand hatte bei der Polizei angerufen. Aus dem heruntergefahrenen Fenster redete wohl ein Polizist auf einen höchstens Zehnjährigen und die Kinder ein. Mehr passierte nicht, aber es passiert auch nichts mehr. – Jan Maschinski explodierte 1993 vor seinem rechten Auge ein kleiner, fast winziger Chinakracher.

 

Für die Schockfotos muss man nicht wissen, dass Jan 9 Jahre alt war, als durch einen Chinakracher explodierend die Linse seines rechten Auges verletzt wurde. Das rechte Auge ist seither blind. Sein Gesichtsfeld, wie man so schön im Deutschen sagt, halbiert. Die Schockfotos, von denen schon Roland Barthes 1966 in Mythen des Alltags schrieb, verletzen.[1] Sie zeigen nicht nur eine Verletzung, vielmehr verletzen sie das Blickfeld des Betrachters. Badluck dreht und transformiert ein Trauma in vielfacher Weise. Jan Maschinski hat sein Trauma mit dem Medium der Fotografie zum Ansatz seiner Kunst gemacht. Das Trauma lässt sich nicht verarbeiten, aber bearbeiten und transformieren. Einerseits wird das Reale schockgefrostet mit der Fotografie, andererseits lösen die Fotos Schocks aus.

 

Die oft großformatigen Fotoarbeiten von Maschinski sind ultrascharf und hyperrealistisch. Die Größenverhältnisse sind erst auf den zweiten Blick, wenn man zu messen und zu vergleichen beginnt, leicht verrutscht. Hinter dem rechten Ohr hat er sich einen Chinakracher stechen lassen. Er ist mini. Eine Kleinigkeit fast, die man über- oder falschsehen könnte. Nichts Großes, kein Polenböller, wie sie in Berlin illegal im Umlauf sind und massiv detonieren. Immer wieder rückt Maschinski diesen fast winzigen Chinakracher ins Bild: In der Nähe zum erblindeten Auge hinters Ohr gestochen, auf einer größeren gelben Fläche wird der kleine, rote Kracher fast mehr durch den größeren Schatten als von selbst sichtbar. In einem Video wird der harmlose Kracher in einer Endlosschleife immer wieder angezündet, um zu explodieren. Danach ist da nichts mehr als ein wenig Rauch.

 

Das Winzige entwickelt bei Jan Maschinski eine eigene Dynamik. Er lässt das Video auf einem eher kleinen, handelsüblichen Bildschirm laufen. Das Größte im Video ist das Streichholz mit seinem Schwefelkopf. Erst wenn man sehr genau hinschaut, lässt sich ein winziger Spielzeug-Soldat mit Maschinengewehr, Helm und Walky Talky am Ohr erkennen. Ist es ein Miniatur-Soldat, der extra als Halter für kleine Chinakracher angefertigt worden ist? Zum Trauma gehört die widersinnige Transformation der Größenverhältnisse. Winziges wird riesenhaft und Großes winzig.

 

Das Freudenfeuerwerk und überhaupt das Feuerwerk hat seine Ursprünge in der Kriegführung. Warum sind gerade Kinder fasziniert vom Feuerwerk? Das Unwissen spielt eine entscheidende Rolle. Dabei sind die Feuerwerke aus der chinesischen Kultur mit der Vertreibung von bösen Geistern verknüpft. Für Geschäftseröffnungen wurden noch 1995 Chinakracher oder Schinken, wie sie im Deutschen heißen, in Shanghai gezündet, um böse Geister zu vertreiben. Was als ein Freudenfeuerwerk wahrgenommen wird, soll am vorletzten Tag des chinesischen Neujahrsfestes beim Reinigen der Gräber der Ahnen noch heute – in einigen ländlichen Regionen – böse Geister vertreiben. Kulturell hat das Feuerwerk viel mit einem schwer fassbaren Wissen vom Unglück zu tun.  

 

Vielleicht ist das Unglück wichtiger für das Glück als umgekehrt. Ob sich ein Ereignis in Glück oder Unglück verkehrt, kann man nach einigen chinesischen Sprichworten nicht wissen. Ein erfahrenes Unglück kann sich sehr wohl in Glück verkehren. Erst wer das Unglück kennt, vermag das Glück zu schätzen. Darin könnte das größte Problem der bundesdeutschen Wohlstandsgesellschaft liegen, dass das Glück nicht geschätzt wird. Natürlich wird das Trauma des verletzten Auges von Jan Maschinski mit seinen Medienarbeiten nicht einfach in Glück verwandelt, doch sie helfen ihm über das Trauma ins Gespräch zu kommen. Andererseits generiert das Trauma weitere Traumata, wie das Füttern des verletzten Jungen im Krankenhaus durch die Schwestern. Maschinski verwandelt dies ebenso in eine Fotoarbeit.

 

Die zerfetzten, hyperrealistischen Körperteile sind Fälschungen. Das unterscheidet die Schockfotos von Roland Barthes zu heute. Was als hyperrealistisch wahrgenommen wird, sind digitale Ver- und Bearbeitungen. Die Fotos können verletzen und trotzdem digital bearbeitet sein. Die Bilder beginnen, hin und her zu kippen. Was an einen abgerissenen Penis erinnert, könnte ebenso eine Schweinezunge oder ähnliches sein. Der Betrachter muss nicht wissen, was es „wirk-lich“ ist, um die Wirkung zu spüren. Maschinky kombiniert das Foto von einer nackten Sphynx-Katze in ungewöhnlicher Haltung mit schwarzem Haar auf dem Boden. Und schon denken die Betrachter*innen, das arme, verschreckte Tier sei geschoren worden. Dabei sind Sphynx-Katzen eine eigene Rasse, die keine Haare hat. Wir lassen uns, in dem was wir sehen, nur all zu gern auf Täuschungen ein.

 

Simon Williams hat mit The Ballery in der Nollendorfstraße mehr und anderes als nur eine Galerie entwickelt. Das liegt nicht zuletzt an seinem umwerfenden Charme und seinen kommunikativen Fähigkeiten. The Ballery ist in Zeiten, in denen selbst bei queerem Publikum die Offenheit für künstlerische Produktionen schwindet, mit seinem Konzertflügel, der mal mittig, mal in eine Ecke verschoben wird, fast ein Salon. Simon – „Hello, I’m Simon …“ – ist mehr Gastgeber als Galerist. Gleich um die Ecke am Nollendorfplatz gelegen, kommen Leute aus dem Kiez einfach vorbei und werden schon in ein Gespräch verwickelt. Gelegentlich schaut ein Künstler vorbei wie der Australier Chris Lloyd vorbei und spielt am Flügel.

 

Chris Lloyd – „he is lovely“ – kommt dann bei einer mehr oder weniger privaten Geburtstagsfeier vorbei, setzt sich an den Flügel und lässt aufhören. Alle hören zu. Der Nollendorf-Kiez ist ebenso unprätentiös wie außergewöhnlich. Hier passiert mit Nonchalance, was woanders selbst in Berlin ein Event wäre. Simon, der große Kommunikator bringt die Leute und Penthouse-Besitzer vom Winterfeldplatz zusammen mit denen aus dem Wedding. Kürzlich sagte ein Freund, Schöneberg und der Nollendorf-Kiez mit seiner queer History seien die Hamptons von Berlin. Mit einem gewissen Understatement ist man im und um den Nollendorf-Kiez superreich oder auch nicht, meistens aber queer. Das legendäre Eldorado lag in den 20er Jahren um die Ecke und in der Motzstraße 23 überlebt im 40ten Jahr der Buchladen Prinz Eisenherz mit „queere(n) Neuheiten + Empfehlungen“.

 

Die Event-Jagd hat nicht nur in Berlin verstörende Formen angenommen. Eine Theater- oder Konzertkarte, einen Startplatz beim Berlin-Marathon ergattert und bezahlt haben zu können, gilt fast schon mehr als das Event selbst. Anders lassen sich bestimmte Effekte der Social-Media kaum erklären. Man hat das Event, wenn man es gebucht und anderen weggenommen hat. Ob man etwas damit anfangen kann, ist unwichtig. In The Ballery finden wirkliche Events statt, für die es keine Karten online gibt. Das macht das aus, was man andernorts und früher einen Salon nannte. Nonchalant setzt sich Chris Lloyd an den Flügel und spielt so innig, dass alle hinhören wollen. Dafür bedarf es allerdings einer Offenheit, die im Mega-Event-Marketing wie dem Konzert von Cher im September 2019 nicht erforderlich sein wird.

 

Um die Ecke am Nollendorfplatz feierte Erwin Piscator Ende der 20er Jahre Erfolge mit seiner Simultanbühne und Herr Katzenellenbogen schenkte Tilla Durieux gleich das ganze Theater als Morgengabe, nach einer unvergleichlichen Nacht. Jedenfalls kursieren solche Geschichten über das Neue Schauspielhaus, das dann auch einmal Metropoltheater hieß, und das heute noch als Goyaüberhaupt eine wechselvolle Geschichte aufzubieten hat. Wo viel Geld umläuft, verschwindet auch viel. Christopher Isherwood hat hier in den frühen dreißiger Jahren gewohnt und später seine Berlin Stories geschrieben. Der Kiez ist ein Dorf, das sich zum Hochfinanzdistrikt wandelt. Die Mieten explodieren und die Bar Hafen kann nach einem Eigentümerwechsel partout die Miete nicht mehr zahlen.  

 

Torsten Flüh

 

The Ballery

Nollendorfstraße 11-12

10777 Berlin

  

Prinz Eisenherz 

Motzstraße 23 

1077 Berlin

  

Jan Quirin Maschinski

  

Chris Lloyd

 

____________________________ 



[1] Roland Barthes: Schockphotos. In: ders.: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: suhrkamp, 1966. 


Carmen, die Frau als Sprachwesen - Über CARMEN X CAGE von Aki Takase und Yoko Tawada im Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin

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Carmen – Jazz – Poesie 

 

Carmen, die Frau als „Sprachwesen“ 

Über CARMEN X CAGE von Aki Takase und Yoko Tawada im Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin 

 

Das Japanisch-Deutsche Zentrum Berlin in der Saargemünder Straße an der Ecke zur Clayallee hatte am Dienstag zu einem fulminanten Jahresauftakt eingeladen. Berlins Free-Jazz-Königin Takase Aki (nach japanischer Namensfolge) mixte am Flügel Georges Bizets Oper Carmenüber eine Arbeiterin in einer Zigarettenfabrik mit Jazz und eigenen Kompositionen. Shiota Chiharu hatte eine Bühneninstallation aus roten Plastik-Netzen ausgeworfen. Japanische Schnitt- und Netzkunst als Lebens- und Liebesgespinst. Nakamura Mayumi sang Carmens berühmte Arie vom rebellischen Vogel der Liebe leidenschaftlich. Daniel Erdmann färbte mit dem Saxophon den Sound jazzig ein und die Dichterin Tawada Yoko machte sich Gedanken über Carmens unzeitgemäßes Zigeunerinkostüm auf der Opernbühne in New York.

 

Aki Takases einzigartige Kombination aus Carmen, Free Jazz und John Cage begeisterte das Publikum außerordentlich. Am Schluss wurden Musiker*innen, Bildende Künstlerin und Dichterin vom Publikum stürmisch gefeiert. Die stellvertretende Generalsekretärin des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin, Kiyota Tokiko, verriet ebenso charmant wie geistreich in ihrer Begrüßung, dass der Abend auf eine Idee von Aki Takase (Berliner Jazzpreis 2018) zurück ging. Takase trat in einem exquisiten smaragdgrünen Seidentunika-Kleid auf die Bühne und verzauberte das Publikum vom ersten Anschlag an. Vor allem mit Chiharu Shiota, die 2018 mit dem Bühnenbild für Wagners Götterdämmerung ihre Bühneninstallationen für den Ring des Nibelungen an der Oper Kiel abgeschlossen hatte, und Yoko Tawada hatte sie zwei ebenfalls in Berlin lebende, hochkarätige Künstlerinnen für den Abend gewinnen können.


© JDZB

Aki Takase und Yoko Tawada, die Jazz-Pianistin und die Poetin, entwickeln seit mehr als 15 Jahren zunächst mit Auftritten im b-flat Accoustic Music & Jazz Club, heute in der Dircksenstraße damals in der Rosenthaler Straße, eine besondere Jazz-Poesie. Seit über 40 Jahren steht die Jazzerin auf den internationalen Bühnen des Free-Jazz‘. Free-Jazz war immer auch eine hochintellektuelle Angelegenheit der musikalischen Kommunikation ohne vorgeschriebene Noten, Kreativität nach dem Gehör. Unter den Jazzern entfaltete sich ein musikalischer Diskurs der Anspielungen oft durch Schallplatten oder Radio verbreiteter Live-Giggs. Gehörtes wird angespielt und transformiert, moduliert und mit anderem kombiniert. Die Rolle der oft nur in geringen Stückzahlen gepressten Schallplatten und Radiosendungen am späten Abend nach der Prime Time für den Free-Jazz wird wahrscheinlich immer noch unterschätzt.


© JDZB 

Die Schallplatte und das Radio der 60er bis 90er Jahre waren für die Verbreitung des Free-Jazz strukturierend. Clubs, Radio und Schallplatte waren und sind heute teilweise noch die Medien, in denen der Free-Jazz nicht nur stattfindet, vielmehr entsteht er aus ihnen als Produktionsrahmen heraus. Reisen, sammeln und mitmachen haben ihn hervorgebracht. Regeln lassen sich für den Free-Jazz kaum formulieren, weil er aus einem einmaligen Prozess für einmal gemacht wird. Aki Takase hat sicher auch deshalb keinen Programmzettel für CARMEN X CAGE ausgearbeitet und verteilen lassen. Im Free-Jazz gab es nie ein Programm, weil man es im Jetzt machte. Der Free-Jazz im Club lässt sich nicht wiederholen, weil die Flüchtigkeit und die Einmaligkeit zu seinem Wesen gehören. So auch auf der Bühne des Japanisch-Deutschen Zentrums.

 

Landläufig wird von Improvisation als Merkmal des Free-Jazz gesprochen. Dabei handelt es sich um die Verneinung mit im des Vorhersehens von pro-videre. Die Aufführung lässt sich wie auf einem Programmzettel nicht vorhersehen oder voraussagen. Das erfordert eine gewisse Offenheit und Sensibilität von den Zuhörer*innen, vom Publikum. Denn der Sinn und Witz stellt sich allererst und nur für einmal aus der Folge der Klangereignisse aus Musikmaterial ein – oder auch nicht. Aki Takase und Daniel Erdmann spielen zum Beispiel die Habanera aus Bizets Carmen an, modulieren sie und Mayumi Nakamura stimmt in ihrem Auftritt auf die Bühne ihr Lied an: „Quand je vous aimerai? Ma foi, je ne sais pas, Peut-être jamais, peut-être demain…“ Der Auftritt wird ebenso improvisiert leicht, wie er eine genaue Abstimmung der Musiker*innen erfordert. Die Arie wird nicht einfach gesungen, um den Beifall zu ernten, vielmehr wird sie in den Prozess des Free-Jazz hineingezogen. Das verändert alles.


© JDZB 

Aki Takase nimmt die bekannte Arie der Carmen musikalisch auseinander und setzt ihr Klangmaterial anders zusammen. Die Opernfigur Carmen mit ihrem widerspenstigen Lied von der Liebe, die sich nicht bestimmen und bezähmen lassen will, wird nicht nur zu einer exotischen Sensation des 19. Jahrhunderts, sondern zu einem Nachspielendenken der Frau und ihrer Gefühle. Die Kombination von Habanera als einem spanischen Tanz aus Havanna auf Kuba nach dem Hit El arregelito von Sebastián de Yradier mit der Zigeunerin Carmen macht diese auf zweifache Weise zur exotischen Attraktion. Die Herkunft des Liedes aus der Karibik wie die nomadische Herkunft der Zigeunerin als Fabrikarbeiterin am Rande der Moralvorstellungen machen Carmen ebenso begehrenswert wie verfügbar. Das exotische Klangmaterial macht sie besonders erotisch. Sie wird eine umherschweifende Fremde in Europa mit dem fernen Klang der Karibik. 

 

Die Frau, die Carmen genannt und als Begehrensobjekt konstruiert wird, interessiert Aki Takase, die sich als Frau und Japanerin in den New Yorker Jazz-Clubs, soll man sagen, durchboxte, besonders. Die Jazz-Pianistin Takase hat sich in einer Zeit zielstrebig und musikalisch exzellent trainiert durchgesetzt, als die Club-Szene von weißen und farbigen Männern dominiert wurde.[1] Bizets musikalische Exotik-Konstruktion Carmen im Zeitalter der Industrialisierung und industriellen Disziplinierung von Arbeitern wie Frauen musste die Jazz-Pianistin eigentlich irgendwann zur Arbeit mit dem Klangmaterial anregen. Was funktioniert bei Bizet mit und in der Musik, das für die intellektuelle Pianistin bereits bei der Entdeckung des Free-Jazz um 1978 als Frau nicht gelten konnte? Die nomadisierende, freiheitsliebende Frau muss sich in der Fabrik zu Zigarettenherstellung nicht zuletzt dem Zeitregime der industriellen Produktion unterwerfen.

 

Für die klassisch ausgebildete Pianistin war der Jazz ein Freiheitsversprechen, das wohl erst später und jetzt mit dem musikalischen Hintergrund von Kolonialismus, Industrialisierung und Exotismus der Carmen kollidierte. Aki Takase spielt am Piano kraftvoll und nuancenreich. Sie wirkt klassisch weiblich gekleidet mit dem smaragdgrünen Kleid und stampft den Takt kraftvoll auf das Bühnenpodium. Die Oper weht über die Bühne und wird in Jazz verwandelt. Ohne Programmzettel lässt sich sehr viel mehr nachhören als nur die Rhythmen und Melodien aus der Opernwelt. – Am 23. Januar wird sie mit Yoko Tawada im Maison Heinrich Heine in Paris auftreten. Mit ihrer neuen Band Japanic tourt sie demnächst durch Deutschland. Für November 2019 sind Auftritte mit Yoko Tawada an der Waseda Universität in Tokio fest eingeplant.


© JDZB 

Yoko Tawada hat sich ebenfalls auf Carmen und ihre Erzählung eingelassen. Das ist eine hervorragende Ergänzung zum ersten Teil des Abends, der gewiss auch an anderen Orten begeistern kann. Für die vielfach mit japanischen und deutschen Literaturpreisen ausgezeichnete Dichterin ist Carmen wie jeder „Mensch ein Sprachwesen“.[2] Beispielsweise könnte man in Bezug auf den ersten Teil und die spanisch-kubanische Habanera sagen, dass sie ein Wesen der Musiksprache ist. Und die ist vor allem exotisch, fern- und fremdländisch wie auf den Zuckerrohrplantagen Kubas etwa. Onomatologisch wird allerdings von Prosper Mérimée, der bereits 1847 seine Novelle Carmen veröffentlichte, mit der lateinischen Herkunft des Substantivs carmen als Liedgesang, Zauberdichtung, Orakelspruch eine Nähe zur Zauberei hergestellt. 

… Als Carmen ihre Arie zu singen beginnt, achtet niemand mehr auf ihr äußeres Erscheinungsbild. Alle Zuschauer geraten in den Sog der gewaltigen Melodieschraube. 

Unter dieser Diktatur der Leidenschaft vermisse ich plötzlich den Archäologen, die Erzählerfigur in Prosper Mérimées Novelle „Carmen“. Georges Bizet benutzte sie als Grundlage für seine Oper, dabei ließ er den Archäologen verschwinden.[3]   


© JDZB 

Die poetische Verdichtung von Carmen durch Yoko Tawada setzt beim Besuch einer Opernaufführung an der New Yorker Met an, in der die Titelfigur als „Zigeunerin aus einem Bilderbuch“ auftritt und dadurch keinerlei Ähnlichkeit einer „Roma-Frau“ im heutigen Europa mehr hat. Carmen an der Met ist Bilderbuch und Märchenstunde, was die hartnäckige Sprachwesenheit der Oper unterstreicht. Vielleicht ist in der regietheaterfreien Opernwelt Großbritanniens und Amerikas der Mythos Oper nachhaltiger als in Europa und Deutschland. Tawadas Dichtkunst zeitigt bei der Carmen-Lektüre ebenso genaue wie witzige Effekte. 

Welche Frau außer Carmen ist schon fähig, Baskisch für ihre Verführungskunst einzusetzen, wenn es nicht zufällig ihre Muttersprache ist? Es gibt einen Witz, der zeigt, wie schwer erlernbar diese Sprache ist: Der Teufel versuchte Baskisch zu lernen, damit er den Basken Bescheid sagen kann, wer zur Hölle geht. Er versuchte es sieben Jahre lang und schaffte es nicht. Deshalb fährt kein Baske zur Hölle.[4]

 

Erstaunlicher Weise ist Carmen heute so etwas wie eine globale Opernfigur von einem französischen Schriftsteller und einem französischen Komponisten, die eine Frau im andalusischen Sevilla, wo eigentlich der Flamenco herkommt, mit baskischem Akzent sprechen lassen und als Zigeunerin ausweisen, weil sie eine karibisch-spanische Melodie singt. Japanische, englische, tschechische, chinesische, koreanische, russische, amerikanische, französische, italienische und polnische etc. Opernsängerinnen, Mezzosopranistinnen, üben und singen heute leidenschaftlich die Rolle der Carmen, um ihre Karriere zu krönen. Yoko Tawada stellt überraschende literarische und sprachliche Bezüge der Opernfigur her: 

Carmen ist nicht nur polyglott, sondern auch eine tüchtige Geschäftsfrau, die stets Informationen sammelt, günstige Kontakte herstellt, Mitarbeiter motiviert und die gelagerten Waren im richtigen Zeitpunkt an den richtigen Kunden verkauft. Wäre sie damals als Sohn der Familie Buddenbrook in Lübeck geboren, wäre sie sicher zu einem guten Kaufmann ausgebildet worden und niemand hätte ihre Geschäfte als illegal bezeichnet. 

Außer Spanisch, Baskisch, Französisch, Deutsch, Englisch und Arabisch spricht Carmen natürlich die Sprache der Roma, die mit dem Sanskrit verwandt ist, genau wie Deutsch. Wenn sie heute leben würde, wäre sie eine EU-Bürgerin.[5]

 

Die Kreise, Geflechte und Schleppen, die die ebenfalls in Berlin lebende bildende Künstlerin Chiharu Shiota mit einer roten Plastikfolie geschnitten, gefaltet und gehängt hat, wird ebenso ästhetisch wie praktisch eingesetzt. Unversehens reißt Mayumi Nakamura als Carmen ein Stück Geflecht ab, um es wie einen Schal lässig in der Hand zu halten. Chiharu Shiota hat sich mit ihren Installationen auf der Opernbühne, im Konzertsaal oder in Ausstellungen international einen Namen gemacht. Sie arbeitet überwiegend mit großen Netzen, die ganze Räume wie in der Nikolaikirche Berlin 2017 mit Lost Words in tunnel- oder höhlenartige Gebilde verwandeln. Auf der Bühne des Japanisch-Deutschen Zentrums ist die Installation eher flächig. Besonders die unterschiedlichen Strukturen faszinieren und am Schluss werden nicht nur Tennisbälle von Yoko Tawada in den Konzertflügel geworfen, sondern das rote Geflecht flattert und bläht sich in einem Luftschwall aus einer unsichtbaren Windmaschine.

Die Poesie kommt nicht nur mit dem fast schon stürmisch bewegten Geflecht zum Zuge, sie wird von Aki Takase und Yoko Tawada mit John Cage in sekundenschnellen Wort- und Sprachkombinationen aus Englisch, Deutsch und Japanisch generiert. Die Geflechte von Chiharu Shiota sind ebenso existenziell wie die kurzen Sprach-Klang-Geflechte, die Takase und Tawada produzieren. John Cage wird der Meister der „Komposition als Prozess“.[6] Chiharu Shiota hat bei Rebecca Horn und Marina Abramovic studiert. Die Geflechte sind keinesfalls nur dekorativ, vielmehr haben sie die Kraft, die Bedeutung des Lebens und des Todes aufzurufen oder heraufzubeschwören, wie es die Künstlerin anlässlich ihrer Ausstellung im südaustralischen Adelaide formuliert hat.[7] Die Poesie stellt sich mit der Abweichung als ein unfassbares Mehr ein. – Oder auch mit einer witzigen Sprachoperation von Yoko Tawada: 

Auf der Hand Stürmischer Beifall schreiben und dem Dirigenten zuwerfen.      


© JDZB 

Stürmischen Beifall gab es dann allerdings nicht nur in die Hand geschrieben und den Künstler*innen zugeworfen, sondern durch das rasante Klatschen der Publikumshände, nachdem sich auch noch die Jazz-Legende Alexander von Schlippenbach neben Aki Takase auf die Klavierbank gesetzt hatte, um das Tempo für Ein Gedicht mit Stoppuhr von Yoko Tawada zu beschleunigen, während Tennisbälle auf den Saiten des Flügels hüpften und das rote Geflecht an der Halterung zerrte. 

 

Torsten Flüh    

 

Aki Takase 

weitere Konzerte 

 

Yoko Tawada 

weitere Lesungen und Auftritte 

 

Chiharu Shiota 

nächste Ausstellung 

100 Jahre Revolution – Berlin 1918/19 

Februar 2019 – 2. März 2019

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[1] Vgl. dazu auch: Torsten Flüh: Berlins heimliche Free-Jazz-Königin sprengt Sendesaal. Aki Takases fulminantes Berliner Jazz-Preisträgerinkonzert im Kleinen Sendesaal des rbb. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. Juli 2018 16:35.

[2] Yoko Tawada: Über Carmen. (Unveröffentlichtes Manuskript 2019)

[3] Ebenda.

[4] Ebenda.

[5] Ebenda.

[6] Zu John Cage bei Yoko Tawada vgl. auch: Torsten Flüh: „Ich lasse mich gerne atmen durch eine andere Sprache“. Yoko Tawada liest neue „Überseezungen“ mit Naomi Sato an der (shō) im Haus für Poesie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Februar 2018 23:05.

[7] Patrick McDonald: Japanese installation artist Chiharu Shiota weaves a tangled web at Art Gallery of South Australia. In: The Advertiser August 23, 2018 6:48am.

Die Wellen aus dem Radio und die Musik - Zum Eröffnungskonzert von ultraschall mit Kompositionen von Charlotte Seither, Philippe Boesmans und Joanna Wozny

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Ton – Musik – Stille 

 

Die Wellen aus dem Radio und die Musik 

Zum Eröffnungskonzert von ultraschall mit Kompositionen von Charlotte Seither, Philippe Boesmans und Joanna Wozny 

 

Das Eröffnungskonzert des gemeinsamen festivals für neue musik von Deutschlandfunk Kultur und kulturradio des rbb setzt eine gewisse Programmatik. Mit dem Neuen in der Musik hat sich das Festival indessen nicht auf eine Richtung festgelegt. Was ist das Neue in der Musik in diesem Jahr? Andreas Göbel und Rainer Pöllmann legten zum 20. Jubiläum von ultraschall Wert auf einen „historischen Hallraum“ der Musik in den mehr als 70 Jahren der Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit der Recherche sur le fond von Charlotte Seither, Capriccio von Philippe Boesmans als Deutsche Erstaufführung und Archipel von Joannna Wozny standen nun drei um 2010 entstandene Kompositionen auf dem Programm, die vom Konzept der Musik recht unterschiedlich ausfallen. Mit Capriccio kehrt gar die Melodie in die „neue“ Musik zurück.

 

Am Pult des Deutschen Sinfonie-Orchesters Berlin stand mit Sylvain Cambreling ein international erfolgreich agierender Dirigent. Cambreling ist für die Moderne und die neue Musik ein Experte. 2015 gastierte er mit dem Yomiuri Nippon Symphony Orchestra als dessen Chefdirigent in der Philharmonie mit einem ebenfalls modern ausgerichteten Programm mit Werken von Toru Taekmitsu, Béla Bartók, Charles Edward Ives und Antonín Dvořák. Im Oktober gab er sein Antrittskonzert als Chefdirigent mit den Symphonikern Hamburg, die seit 2010 als A-Orchester anerkannt sind und in der Hamburger Musikhalle, der Laeizhalle, ihre Spielstätte haben. Cambreling war Musikdirektor des Brüsseler Opernhauses La Monnaie und kennt daher auch dessen Hausdirigenten Philippe Boesmans. Mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg Experimentalstudio des SWR hat er zuletzt 2014 Mark Andres …auf… eingespielt.

 

Komponist*innen haben heute sehr unterschiedliche und weit gefächerte Ansätze, was für sie Musik ist. Das zeigte sich gerade mit dem Eröffnungskonzert. Ist ein Ton schon Musik? Oder was ist ein Ton? Sind seit der Zeit der Judenvernichtung in deutschen Konzentrationslagern, in der sich Lagerkommandanten die großen Melodien der klassischen Musik im Rundfunk aus Berlin oder auf Schallplatte anhörten oder vom Lagerorchester vorspielen ließen, nicht alle Melodien zerbrochen? Die Frage danach, was Musik ist oder ausmacht, hat einen nicht nur historischen Horizont. Melodienselig begingen nicht nur die Nazi-Lagerkommandanten Massenmorde. Was den Menschen wie Beethovens Neunte besser, zu einem guten, freien Menschen machen sollte, wurde im Nationalsozialismus zum Soundtrack der Entmenschlichung. Mit dieser unauflösbaren Problematik sahen und sehen sich Komponist*innen seit über 70 Jahren in der neuen Musik konfrontiert.

 

Charlotte Seither forscht in Recherche sur le fond nach den Tönen. Komponieren und Zuhören werden Forschen. Der Titel ist konzeptionell angelegt. Das Konzept ist vom Komponieren wie vom Zuhören auf eine ganz andere Haltung zur Musik angelegt, als sich von einer Melodie berauschen, stärken oder davontragen zu lassen. Die Melodie ist zum Mitsummen. Das Forschen stellt Fragen an die Musik durch das Komponieren. Die Suche nach dem Hintergrund setzt beim Ton an, der Musik wird. Im Gespräch mit Andreas Göbel auf der Orchesterbühne des Großen Sendesaals sagt Charlotte Seither dann „knautsch ich den Ton heraus“. Einen Ton herausknautschen, lässt aufhören. Die Formulierung widerspricht gewissen Erwartungen an einen souveränen Komponisten oder der Komponistin als Souverän. Auch Musiker sprechen kaum davon, einen Ton aus ihrem Instrument herauszuknautschen. Das klänge doch eher dilettantisch als technisch meisterlich.

 

Die Relation von Musik und Sprache bzw. der Sprache über Musik wird von Charlotte Seither im scheinbar locker-amüsanten Gespräch fragwürdig. Schickten sich die Musikdramaturgen und -kritiker doch gerade an, Recherche sur le fond als eine Tiefenreflektion über Musik zu beschreiben. Doch dazu passt das fast mutwillige Herausknautschen nicht. Der Ton wird durch die Anstrengung des Herausknautschens quasi unrein. Wir erwarten im Konzert reine Töne von gleichgestimmten Instrumenten. Die stellvertretende Konzertmeisterin Hande Küden stimmt mit ihrer Violine das Orchester sehr wohl auf den Kammerton a ein, um den Ton erforschen zu können. Charlotte Seither erfüllt Erwartungshaltungen und bedient sie nicht. Das ohnehin mithörende Deutsche Symphonie-Orchester Berlin unter Leitung von Sylvain Cambreling lässt gar keinen Zweifel daran, dass es mit großer Konzentration und Genauigkeit die Komposition hörbar machen will.

 

Die Suche hört sich tatsächlich mehr wie eine solche denn wie eine fertige Komposition an. Tonfetzen schnellen hervor, brechen ab. Dann wieder fast Stille, Atmen, Rascheln, vielleicht – man weiß nicht, wie man es nennen soll. Die Instrumente lassen sich bis auf die Streicher kaum identifizieren. Ist ein Wispern der Blasinstrumente schon oder noch ein Ton? Anstatt zu enden, bricht die Suche ohne sozusagen reine, benennbare Töne ab. Kaum lässt sich in Worte fassen, was in der Musik passiert. Es gibt da einen fast unendlich langgestreckten, gleichmäßigen Ton, der sich akustisch schwer einem Instrument oder einer Instrumentengruppe zuordnen lässt. Optisch löst sich das Rätsel um diesen Ton schneller. Er kommt auf dem Konzertpodium des Großen Sendesaals von oben aus den Schlagwerken. Ein Schlagzeuger dreht langsam eine orangene Handkurbelsirene, ohne dass diese signifikant aufzuheulen beginnt.

 

Der langgezogene, gleichmäßige Ton der Handkurbelsirene in der Tonszenerie des Orchesterapparats wird von Charlotte Seither ganz anders eingesetzt, als es Edgar Varese in Amériques um 1920 mit der Sirene der New Yorker Feuerwehr macht. Der Klang der Feuersirene wird bei ihm gleichsam zur Signatur der Großstadt. Doch bei Seither wird die Signifikanz des Sirenentons unterlaufen. Falls sie mit dem Einsatz der Sirene auf Varese anspielen sollte, dann nur in dem Maße wie er musikhistorisch wahrgenommen werden kann. So interessiert sich die Komponistin denn auch „für die vorsprachliche und damit die intuitive, sinnliche, emotionale Wahrnehmung“, wie es Eckhard Weber schreibt.[1] Aber ist Wahrnehmung nicht immer schon mit einer sprachlichen Struktur oder Sprache und Erzählung verknüpft? Wenn wir die Emotionen benennen könnten beim Hören von Recherche sur le fond, dann wären sie nicht mehr „vorsprachlich“. Doch es ist unendlich schwierig zu sagen, was in dieser Komposition zu hören gewesen sein wird.

 

Mit dem GrauSchumacher Piano Duo hatte das DSO eines der aktuell führenden Klavierduos für das Capriccio von Philippe Boesmans eingeladen.[2]„Endlich wieder Musik“, wie es ein Bekannter erwartungsfroh nach der Recherche twitterte? Die Komposition orientiert sich am Format des Klavierkonzerts, in dem das zweifach besetzte Soloinstrument Klavier eine Art Konversation mit dem Orchester entfaltet. Anders als Charlotte Seither spielt Philippe Boesmans mit dem Titel auf einen musikhistorischen Hintergrund an. Wo die Komponistin nach dem Hintergrund fragt, wird hier einer als Wissen von der Musik und ihren Regeln vorausgesetzt. Denn das Capriccio als ein launiges, witziges und doch auch melancholisches Genre in der Musikliteratur verstößt gegen die Regeln oder Normen, obwohl es sie sehr wohl kennt. Frank Büttner hat an den Capricci von Giovanni Battista Tiepolo diese in der Malerei als „künstlerische Praxis“ formuliert, die „die künstlerische Entwicklung eines Repertoires von Figuren und Themen, ein Ausloten seiner künstlerischen Möglichkeiten“ erlaube.[3]

Im lockeren Podiumsgespräch mit Andreas Göbel und Sylvain Gambreling während der Umbaupause– die Flügel müssen mittig auf das Konzertpodium geschoben werden … - verrät Philippe Boesmans, dass sein Capriccio mit den Erinnerungen an sein Hören der Musik im Radio in seiner Kindheit und Jugend zu tun habe. Im frankophonen Belgien erinnert Capriccio unwillkürlich an le caprice, die Laune. Die Musik aus dem Radio, Boesmans wurde 1936 in Tongern, der ältesten Stadt Flanderns und ganz Belgiens, geboren, war zugleich ein Versprechen auf das Leben in größeren Städten mit einem Konzertsaal und Opernhaus. Tongern war nicht Brüssel und lag an keiner Haupteisenbahnlinie, weshalb wohl die Musik aus dem Radio und den Konzertsälen den jungen Philippe faszinierte, bevor er sich in Lüttich/Liége am Konservatorium zum Pianisten ausbilden ließ.  Anders gesagt: es wurde nicht nur die Bühne, vielmehr die ganze Zuhörerhaltung umgebaut.

Komponiert für die Schwestern Katia und Marielle Labèque, die am 4. März 2010 die Uraufführung mit dem Orchestre Philharmonique de Liège Wallonie Bruxelles unter der Leitung von Jean Deroyer spielten, stellt das kurze Capriccio von 17 Minuten Ansprüche an das Klavierduo, ohne diese virtuos zu exponieren. Eine ganze Reihe von landläufigen, wenn nicht traditionellen Praktiken in der Musikkultur rahmen bereits die Komposition, bevor sie erklingt. Obwohl das Radio als Medium nicht explizit hörbar wird, spielt die Erinnerung an das Radiohören für den Komponisten eine wichtige Rolle. Das Radiohören stellte auch Ansprüche an den Hörer und seine Feineinstellung der Frequenzen am Gerät, um ein Stück, um Musik störungsfrei auf UKW hören zu können. Sender sendeten auf unterschiedlichen Wellenlängen, die es mit einem Drehknopf erst einmal zu finden galt, bevor man z.B. den niederländischen Rundfunk aus Hilversum hören konnte. Interferenzen störten und faszinierten zugleich beim Zuhören.

Anders als im digitalen 21. Jahrhundert war mit dem Radiohören das Konzept der Wellen und Wellenlängen verknüpft. Könnte es sein, dass der Komponist deshalb im ersten Klavier eine kurze Wellenfigur anklingen lässt? Wellenartige Strukturen spielen in Boesmans‘ Komposition eine gewisse Rolle. Das Radio wird in Capriccio beispielsweise mit Interferenzen nicht imitiert. Es ist kein Stück über das Radiohören. Doch anders als am PC oder Tablet war Radiohören eine soziale Praxis. Noch in den 1980er Jahren war es beim Hören z.B. der Montagskonzerte des NDR-Sinfonieorchesters aus der Hamburger Laeizhalle in der Rosenstraße in Marne, Dithmarschen, eine Praxis, die man nicht nur allein, sondern zu zweit oder zu dritt wahrnahm. Fast ein Konzertbesuch über UKW live mit Pause. Heute bieten die Mediatheken im Internet interferenzlose Hörerlebnisse (ohne Wellen) zu fast jeder Zeit überall.  

 

Das Genre des Capriccio in Erzähl- und Musikliteratur zeichnet sich durch einen gekonnt leichtfertigen Umgang mit einem Regelwissen aus. In der Musikliteratur schwingen im Hintergrund Capricci von Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Kreutzer, Paganini, Tschaikowsky und nicht zuletzt Richard Strauss „Konversationsstück für Musik“ von 1942 mit. Bereits in Bachs Capriccio auf die Abreise des geliebten Bruders (ca. 1705) vermischen sich Abschied und witzige Heiterkeit. Melancholie und Heiterkeit erwähnt auch Boesmans im Podiumsgespräch. Der Berichterstatter möchte das Capriccio von 2010 ganz und gar nicht an das leicht fatale Capriccio von Richard Strauss heranrücken. Doch es entfaltet eine eigenartige Stimmung.

 

Das Libretto von Strauss‘ Oper ist eine Gemeinschaftsarbeit oder Collage unverdächtiger Autoren wie Stefan Zweig. Doch die Laune, le caprice, ist eine besondere Stimmung. Richard Strauss‘ Capriccio wie das Genre erwiesen sich eben auch als kompatible mit Endzeitphantasien, für die sich niemand verantwortlich fühlen wollte. Clemens Krauss dirigierte mit dem Orchester der Bayrischen Staatsoper die Uraufführung in München und Karl Böhm spielte noch am 1. März 1944 in der Wiener Staatsoper eine Live-Aufnahme ein. Vielleicht sagt es gar nichts, aber es kann nicht unerwähnt bleiben, dass Ernst Jünger das Genre kunstvoll in seinem Rausch-und-Drogen-Text Das abenteuerliche Herz 1938 verarbeitete.[4] Im 20. Jahrhundert bekam das Genre einen Zug fatalistisch-humorvoller Melancholie, gleichwohl wird die Oper immer wieder und zuletzt 2018 an der Oper Frankfurt einstudiert und gespielt.

 

Wellen- und Drehfiguren, die Philippe Boesmans in seinem Capriccio einsetzt, lassen sich angenehm hören. Fast ist das groß instrumentierte Stück etwas kurz geraten. Doch eine Laune hält eben auch nicht länger an. Neben der Stimmung ist es nicht zuletzt die Kürze, die eine Laune ausmacht. Launenhaft sind eben auch schnell und häufig in ihrer Laune wechselnde Menschen. Gleichwohl bleibt das Capriccio melodiös und ohne Anstrengung. Gibt es eine Rückkehr des Melodiösen und Gefühligen in der neuen Musik? Im Programm der diesjährigen Ausgabe von ultraschall gab es wenigstens mit dem jungen und schon recht erfolgreichen Notos Quartett am Freitag eine Wiederkehr der Gefühle in der Musik, worauf später eingegangen wird.

 

Im Eröffnungskonzert stand nach der Pause Archipel für Orchester von Joanna Wozny auf dem Programm. Zwar ist Sylvain Cambreling für kontrastreiche Konzertprogramme bekannt, aber das Eröffnungsprogramm wird wenigstens mit den Kuratoren des Festivals von rbb Kulturradio und Deutschlandfunk Kultur abgestimmt worden sein. Und die Kontraste, die mit den unterschiedlichen Stücken in Beziehungen zueinander gesetzt wurden, waren groß. Der Forschung Charlotte Seithers und der kapriziösen Erinnerung Philippe Boesmans‘ stellte das Programm das spirituell, wenn nicht religiös gestimmte Orchesterstück Joanna Woznys zur Seite. Ihr Stück befasst sich mit der im Katholizismus zentralen Figur der Gottesmutter Maria.

 

Man könnte Archipel auch ein Orchesterstück der Stille nennen. Es ist zumindest ungewöhnlich leise angelegt, um mit gänzlichen Zäsuren allererst die Stille in der Musik erfahrbar zu machen. Im Gespräch mit Andreas Göbel wies der Dirigent daraufhin, dass die Stille der Zäsuren nicht einfach keine Musik sei. Es gehe ihm vielmehr darum, mit den Zäsuren eine Spannung zu halten, damit die Musik in der Stille erklingen könne. Man macht als Orchester nicht einfach Musik im Spiel und schaltet sie ab mit der Zäsur, vielmehr müsse eine Spannung entstehen, um die Musik hörbar werden zu lassen. Dieser meditativ-spirituelle Ansatz von Musik ist nicht unbedingt für den Konzertsaal geschrieben worden. Trotzdem oder gerade deshalb kann eine Aufführung für den Rundfunk im Sendesaal das Musikverständnis erweitern.

Tatsächlich wurde Archipel von Joanna Wozny vom Münchner Rundfunkorchester und seinem künstlerischen Leiter Ulf Schirmer für die Konzertreihe Paradisi gloria in der katholischen PfarrkircheHerz Jesu in München in Auftrag gegeben. Die spektakuläre Architektur der Herz-Jesu-Kirche wurde am 26. November 2000 von Friedrich Kardinal Wetter geweiht und dadurch berühmt, dass sich die gläserne Vorderseite in zwei Hälften vollständig wie ein Tor öffnen lässt. Zugänglich wird die Herz-Jesu-Kirche üblicherweise durch zwei sehr viel kleinere Schlupftüren. Durch die Glas-Stahl-Konstruktion der Vorderseite wurden die Kirche zu jener mit den größten Kirchentoren der Welt. Eben diese katholische Kirchenarchitektur ohne starken Bilderschmuck sollte und wird Joanna Wozny neben dem Thema der Marienverehrung zu ihrer Komposition inspiriert haben. Die Zäsuren können auch als Öffnungen imaginiert werden.

 

Nach Eckhard Weber erklärte Joanna Wozny einmal: „Pausen sind auch Geschehen. Sie erklingen genauso wie die Musik“.[5] Dieses Geschehen der Musik ist allerdings etwas anderes als die Leere und Stille, die bei John Cage eine entscheidende Rolle spielen.[6] Das Geschehen bedarf vielleicht einer gewissen Spannung. Vor allem braucht es einer geistigen, also spirituellen Erfahrung. Wozny orientiert sich strukturell an christlichen Praktiken des Gebets in einer Abfolge von leise, fast flüsternd gesprochenen Redewendungen und Schweigen. Die entschieden kirchliche, katholische Rahmung macht das Orchesterstück auch etwas problematisch für die Konzertsaal. Oder bekommt die Musik damit noch einmal einen anderen Zug? – Das Konzert wird am 2. Februar ab 20:04 Uhr im kulturradio vom rbb gesendet.  

 

Torsten Flüh

 

Fortsetzung ultraschall 2019 folgt.

 

kulturradio rbb

Eröffnungskonzert ultraschall 2019
2. Februar 2019 20:04 Uhr

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[1] Eberhard Weber: Charlotte Seither. Recherche sur le fond. In: Deutschlandfunk Kultur (Hg.): ultraschall berlin. Berlin 2019, S. 12.

[2] Im vergangenen Jahr hatte das GrauSchumacher Piano Duo beim ultraschall festival im Heimathafen Neukölln ganz anders gelagerte, hoch experimentelle Uraufführungen gespielt. Siehe: Torsten Flüh: Das Flüchtige erinnern. ultraschall Berlin 2018: GrauSchumacher Piano Duo spielt Brigitta Muntendorf etc. und LUX:NM: bringt 6 Uraufführungen im Heimathafen Neukölln. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. Februar 2018 20:18.

[3] Frank Büttner: Tiepolo und die subversive Kraft des Capriccio. In: Ekkehard Mai, Joachim Rees (Hrsg.): Das Capriccio als Kunstprinzip. Zur Vorgeschichte der Moderne von Arcimboldo und Callot bis Tiepolo und Goya. Malerei - Zeichnung - Graphik. Mailand: Skira, 1996, S. 157. 

[4] Vgl. dazu Torsten Flüh: Das Tier Mensch. Martin Wuttkes „Das Abenteuerliche Herz: Rausch und Droge“ am Berliner Ensemble. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. Juli 2009 19:00.

[5] Eberhard Weber: Joanna Wozny: Archipel für Orchester. In: Deutschlandfunk … [wie Anm. 1.] S. 17.

[6] Vgl. zur Stille bei John Cage Torsten Flüh: Der Jahrhundert-Clown - John Cage 100 als Schwerpunkt bei MaerzMusik 2012. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. März 2012 22:29.

Heimkehr ohne Heim - Zur Uraufführung von Beat Furrers Metaoper Violetter Schnee mit funktionierender Opernbühnenmaschinerie

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Schnee – Nichts – Hoffnung

 

Heimkehr ohne Heim 

Zur Uraufführung von Beat Furrers Metaoper Violetter Schnee mit funktionierender Opernbühnenmaschinerie 

 

Es schneit … Bühnentechnisch grandios und spektakulär schneit es auf der multimillioneneuroteuren Bühne der Staatsoper Unter den Linden. Ganz große Staatsoper! Das es schneit … ist beispielsweise für meine fünfundachtzigjährige Mutter zu Weihnachten Wunsch und Versprechen. Nach dem grauen November wird die Erde weiß. Sie wird hell in der Dunkelheit. Und dass es schneit, ist gut. Wenn es schneit, dann ist das Klima doch noch nicht umgekippt. Wenn es nicht schneit, beunruhigt das Ende Dezember etwas. Der Schnee soll so geregelt kommen im Winter wie die Sonne im Sommer. In Beat Furrers Oper Violetter Schnee nach einem Text von Vladimir Sorokin hört es nicht mehr auf zu schneien, was höchst beunruhigend wird. Am Schluss schneit es violett, woraufhin man nun ganz und gar nicht weiß, was man davon halten sollten. Katastrophe oder Hoffnung?

 

Das Schneien allein, das Vladimir Sorokin zum Drama von Silvia, Natascha, Jan, Peter und Jacques gemacht hatte, blieb zu kryptisch oder fragmentarisch für eine Oper. Es bedurfte für die Opernbühne noch einer Rahmung und einer Bearbeitung des Textes durch Händl Klaus. Jetzt erscheint in fast gänzlicher Bühnenbreite auf der Staatsopernbühne Unter den Linden Pieter Bruegels Großgemälde Die Jäger im Schnee, dem man wahlweise auch die Titel Heimkehr im Schnee oder Heimkehr von der Jagd oder ähnliche geben könnte. Der Titel des Ölgemäldes stammt nicht vom Maler, sondern wurde ihm nachträglich verpasst. Tanja (Martina Gedeck) betrachtet, liest oder träumt das Gemälde im Kunsthistorischen Museum in Wien. – Großer Bühnenzauber – Dann kommen Silvia (Anna Prohaska) und die Anderen in eine Wohnhalle mit loderndem Kamin.    

 

Bleiben wir zunächst beim Schnee und seinem Fall, der nicht enden will. Es gibt Schnee in vielerlei Gestalt. Auf dem Ölgemälde von Pieter Bruegel ist der Schnee in vielen Schattierungen Weiß gemalt. Auf der Bühne (Étienne Pluss) ist er Video (Arian Andiel) oder sehr kunstvolles Licht (Olaf Freese). Einmal erinnert der Video-Schnee auf der Bühne auch stark an den Schnee aus den analogen Zeiten des Röhrenfernsehens, wenn die Frequenz nicht richtig eingestellt war. Dann gab es keine Signale, die auf dem Schirm ein Bild erzeugten, sondern nur ein Geflacker aus weißen Punkten, ein Rauschen, das man Schnee nannte. Das Schneerauschen gibt es nicht mehr. Schnee hieß nichts, dass es keine Signale und kein Bild gab. Anstatt bewegte wie bewegende Bilder blieb der Bildschirm leer oder voller Schnee. Auf der Staatsopernbühne wird der Schnee zum medial vielfältigen Ereignis, bevor er violett endet.

 

An dieser Stelle der Besprechung muss der Berichterstatter wohl eine Art Bewertung einschieben, bevor auf die spannenderen Details eingegangen wird. Die Staatsoper bietet die ganz „großen“ Namen, damit das Feuilleton dann nur noch von den Namen und der „Laufbahn“, den Preisen und den anderen berühmten Namen schreibt. Dass es mit Violetter Schnee um die nackte Existenz und ein Nichts in der Natur gehen könnte, müsste das Staatsopernpublikum auch erst einmal aushalten können. Die Berühmtheit z. B. des Bühnenbildners Étienne Pluss generiert sich aus der Verkettung der Namen und dem „Bühnendesign für Modenschauen für die Fashion Week in Mailand und Berlin“. Für dieses Genre gibt es in der Staatsoper jetzt ein eigenes Heftchen Biographien. Die Violetter Schnee Biographien beginnen mit Beat Furrer und der Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2018 für „Ein Leben im Dienste der Musik“ und enden mit der „nahezu 450-jährigen Tradition“ der Staatskapelle Berlin, die damit „zu den ältesten Orchestern der Welt“ zählt.


© Monika Rittershaus 

Tradition und Innovation werden in der Staatsoper Unter den Linden intelligent zum Profil ausgearbeitet. Unter Matthias Pintscher spielt die Staatskapelle wie schon beim Musikfest Berlin 2018 unter ihrem Chefdirigenten und Pierre-Boulez-Freund Daniel Barenboim[1] uraufführungsmäßig jung und exquisit. Mehr ein hochambitioniertes Labor für neue Musik als ein satter Klangkörper, den man, wie vielleicht viele erwarten und meinen, ohnehin schon kennt. Mit Matthias Pintscher studierte ein Experte der zeitgenössischen Musik von Weltrang die Uraufführung von Beat Furrers Oper ein, die das Musikgenre Oper selbst befragt, um sie als Metaoper aufzuführen. Matthias Pintscher ist nicht nur selbst Komponist, vielmehr ist er musikalischer Leiter des Ensemble intercontemporain, das in Paris ansässig ist.[2] Anders gesagt, und darum geht letztlich mit dem Biographien-Heft, man bekommt das Beste vom Besten versprochen, wozu nach der aufwendigen Renovierung und vielen Millionen Euro insbesondere die Bühnenmaschinerie zählt. 


© Monika Rittershaus

 

Lichttechnik und Bühnenmaschinerie kommen in der Inszenierung von Claus Guth mit Étienne Pluss als Bühnenbildner in einem Ausmaß und einer Perfektion zum Einsatz, dass dahinter die fast kammerspielartige Metaoper von Beat Furrer verschwindet. Die Blüte des Genres waren die Großopern des Pariser Bürgertums im 19. Jahrhundert zirkusartigen Auftritten von Pferden und Elefanten z.B. in Verdis Aida. Richard Wagner entwickelte sie zum Großmythos inklusive Weltenbrand am Schluss der Götterdämmerung nach fast vier Operntagen Ring-Mythologie mit einem finalen Hoffnungsschimmer in der Musik nach mehr oder weniger 14 Stunden. Das Genre bildete sich im 19. Jahrhundert immer auch nach den Bedingungen seiner technischen und finanziellen Kapazitäten heraus, um Sinn zu generieren. 1869 kritisierte Wagner in seinem antisemitischen Pamphlet Das Judenthum in der Musik die Kunstproduktion in einer „Gesellschaft“, die „nur noch geldbedürftig()“ sei.[3] Obwohl mit Silvia, Natascha (Elsa Dreisig), Jan (Gyula Orendt), Peter (Georg Nigl) und Jacques (Otto Katzameier) eher als Kammeroper angelegt, bevölkern 6 Tänzer*innen und Dutzende von Komparsen – Kinder, Frauen, Männer – die Bühne. Der vielstimmige Chor (Vocalconsort Berlin) bleibt unsichtbar.


© Monika Rittershaus 

Violetter Schnee ist auf den ersten Blick eine voluminöse Opernproduktion, wie sie der zeitgenössischen Musik nur selten zuteil wird. Als Auftragswerk der Staatsoper Unter den Linden dient sie insbesondere dem Profil und der Profilierung des Hauses. Und mit Beat Furrer hatte das Haus einen Komponisten gewonnen, der tatsächlich Andrea Lorenzo Scartazzinis Edward II., 2017 in der Deutschen Oper uraufgeführt, musikalisch deutlich hinter sich lässt.[4] Die Film- und Fernsehschauspielerin Martina Gedeck[5] als Tanja für eine Oper zu engagieren, erschien zunächst wie ein guter PR-Coup. Doch darauf wird noch einzugehen sein. Anna Prohaska, die zum Ensemble der Staatsoper gehört, kann man mittlerweile einen internationalen, wenn nicht jungen Opernweltstar nennen. Ihre Höhe reicht in den Obertonbereich, wenn sie in einem Duett ohne Worte mit Elsa Dreisig jenseits der Tonleiter singt. Doch auch darauf wird zurückzukommen sein.


© Monika Rittershaus 

Violetter Schnee erweist sich als eine Opernkonstruktion und eher Collage aus Motiven als eine Erzählung vom Endzeitschnee, in der die Sonne herbeigesehnt wird. Jede Oper ist eine Konstruktion aus Text, Musik und Bühnenaktion, die eine gewisse Dramatik oder einen Drive entwickeln sollte. Aber wie lässt sich heute in der Opernliteratur erzählen. Der Text des russischen Theater- und Romanautors sowie Librettisten Vladimir Sorokin genügte Beat Furrer für seine Oper nicht. Das Publikum – vielleicht – wünscht sich eine Erzählung. Beat Furrer hat Sorokins von Händl Klaus transformierten Text im Prolog mehrfach gerahmt. Seiner episodisch angelegten Oper stellt er Verse aus De rerum natura von Lukrez als Chorstück in Latein voran, die er selbst übersetzt hat. Es geht dabei um ein Konzept der Natur und Welt. 

(… dass nicht wie Flammen) die Mauern des Weltalls 

plötzlich entflieh’n ins unermessliche Leere, 

nicht nach oben entstürzen die donnernden Himmel 

und die Erde dem Fuß sich reißend entziehe 

im Sturz der Himmel 

in hoher Tiefe verschwinden, 

und nichts, 

kein Rest mehr bleibt – 

verlassener Raum.[6]         


© Monika Rittershaus 

Die poetische Form des Lehrgedichtes wird vom Komponistenübersetzer schon im Satzspiegel deutlich gemacht. Der Auszug aus dem 6. Buch über die „Naturerscheinungen“ formuliert ein restloses Verschwinden und Nichts. Das Nichts wird gleichsam gesteigert. Es gibt keine „Mauern“ und Grenzen. Mit dem „verlassene(n) Raum“ wird ebenso poetisch wie konzeptuell ein Nichtraum formuliert. Die poetologisch-naturwissenschaftliche Formulierung des Nichts wird entsprechend vom Komponisten zum Thema seiner Oper gemacht und durch die Verse ohne klare Syntax verrätselt. Musik schraubt sich leise aus einer Stille heraus. Klangereignisse bleiben trotz hysterischer Auftritte eher bei mittlerer Lauststärke. Die Musik will nichts ausdrücken, sie entfaltet sich bekommt einen gewissen Drive und bricht dann am Schluss eher ab, als dass sie einen Bedeutung heischenden Schlussakkord setzt.

 

© Monika Rittershaus

 

Der poetologische Prolog mit der auf den Chor folgenden Bildbeschreibung der Tanja rahmt die Episoden der Handlung vom nicht enden wollenden Schneefall. Doch auch die Bildbeschreibung entfaltet der Librettist Händl Klaus in einer ausgemergelten Syntax ohne strukturierte Sätze. Sinn und Sinnlichkeit werden angeschlagen, aber nicht grammatisch in einer Satzstruktur abgeschlossen. Bei Tanja weiß man nicht, ob sie träumt und sich wie ein Schmetterling (Lacan) selbst im Ölgemälde sieht oder Worte sucht, um eine Sprache für das Bild zu finden. Tanja sieht und beschreibt das Bild, ohne es souverän zu betrachten, wie es in kunstwissenschaftlichen Bildbeschreibungen entwickelt worden ist. 

Bäume : naß : aus nasser kohle : groß : aus kohle : schwarz : verbrannt : 

naß : vom schnee : die großen bäume : naß : vom schnee : verbrannt : 

drei : zehn : oder vierzehn : hunde : ihre jäger : sind zurück : klamm : 

erschöpft : die letzten schritte : vor der heimkehr : sch : wer : fällig :[7]   


© Monika Rittershaus 

Der Librettist hat die Bildbeschreibung rhythmisiert. Die Sprache, obwohl von einer Schauspielerin, Martina Gedeck, gesprochen, wird Musik oder wenigstens musikalisch rhythmisiert. Das erfordert auch eine Sprechkunst, wie man sie im Theater nicht mehr pflegt. Martina Gedeck spricht die Bildbeschreibung mit kunstvoll modulierter Betonung. Jede Formulierung ein Ereignis. Die Bildbeschreibung funktioniert wie, um es mit Heinrich von Kleists Formulierung in Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft zu sagen, „als ob Einem die Augenlider weggeschnitten wären“. Dies gilt nicht zuletzt, weil Kleist schrieb: „Das Bild liegt, […,] wie die Apokalypse da, […]“[8] Die Szenerie ist anders als bei Caspar David Friedrich außerordentlich reich bevölkert, um trotzdem apokalyptische Züge anzunehmen: 

oben sengen sie : ein schwein : wind fährt : in das bündel : str : oh : 

daran : wärm sich : auch das kind : seine borsten : schmelzen ein :[9]


© Monika Rittershaus 

Doch es geht nicht um ein biblisches Wissen von der Entschleierung (ἀποκάλυψις). Man weiß weder durch die Bildbeschreibung noch durch Lukrez und die Episoden, ob die Apokalypse bereits stattgefunden hat, erst eintreten oder mit dem violetten Schnee abgewendet werden wird. Wenn es eine Erzählung im narrativen Genre Oper gibt, dann wird diese zumindest in der Sprech- und Erzählweise aufgespart. Diese Art der Aufsparung findet auch in der Musik von Beat Furrer statt. Sie ist entweder atemberaubend spannend durch Suspense oder bleibt wie für einige Uraufführungskritiker*innen viel zu breit und aussagelos. Suspense wird auch in den nicht näher lokalisierten Episoden erzeugt. 

SILVIA          --- den Tisch --- verbrannt --- hast du --- 

NATASCHA    hast du --- verbrannt --- 

SILVIA          den Tisch --- 

NATASCHA    er gibt uns --- warm --- der Tisch ---[10]


© Monika Rittershaus  

Geradezu graphisch wird Suspense durch die Auslassungsstriche im Libretto angezeigt. Ist die Kälte durch den permanenten Schneefall so stark, dass sich physisch kaum ein Satz bilden lässt? Oder steigt schon die Angst herauf, auszusprechen, was geschehen ist. Wer ist „du“ in dem Wortwechsel zwischen Silvia und Natascha? Hat nun Silvia oder Natascha den Tisch verbrannt? Später gibt nicht er uns „warm“, sondern Jan wird in der Szene 2 singen „du wärmst mich ---"[11] Doch das „du“ und wer damit gemeint sein könnte, bleibt in der Schwebe. Es geht mit dem Suspense nicht einfach darum, ihn in einem Bild oder Ereignis aufzulösen. Denn das Bild, nennen wir es, Jäger im Schnee war im Prolog von einer utopischen Landschaft im Museum ins Dystopische der Brände gekippt. Später wird der Raum, in dem Silva und ihre Begleiter aufeinandertreffen, hinuntergefahren, um den Schauplatz in ein verwahrlostes Museum mit Gemälden am Boden zu verwandeln.

 

 

  

Dann fährt die ganze Bühnenmaschinerie wieder das, sagen wir, Stiegenhaus hinauf, während Silvia und Natascha in „Szene 22“ ein Duett von berückender musikalischer Schönheit zu singen beginnen. Wie bereits mit dem Lukrez-Zitat im Prolog angeschlagen, spielt auch in diesem Duett die Vertauschung von oben und unten eine Rolle. Das mehrfache hinauf- und herunterfahren der Bühnenkonstruktion macht in Korrespondenz mit dem Lukrez-Text Sinn. Dabei entfaltet sich das Duett nicht etwa als eine Konversation, sondern als eine sinnliche Überschneidung des lateinischen Textes gesungen von Silvia mit dessen Transformation ins Deutsche. Der Übersetzungsprozess wird quasi im Duett vorgeführt.

NATASCHA    von den Bränden ---

gegen die Kälte ---

SILVIA    moenia mundi, ne volucri ritu flammarum moenia mundi ...

NATASCHA     im Traum --- brannte und brannte ---

ich wollte die Wärme --- ich träumte ---

die Wärme --- in unserem Haus ---

gab es gar keinen Raum ---

aber es hatte --- ein weiteres Stockwerk ---

da oben war es --- so sauber und warm --- ...[12]

 

 

Die Handlung – „Die Welt im Ausnahmezustand. Fünf Menschen sind eingeschlossen in einem unaufhörlichen Schneewehen...“[13] –, so lässt sich sagen, findet in der Sprache statt. Darüber täuscht die bilder- und aktionsreiche Inszenierung von Claus Guth nach den Regeln des Genres Oper auch hinweg. Wenn die Pulsadern aufgeschnitten werden, der Griff zur Falsche oder die Euphorie ausbricht, dann ist es der Natur und dem Nichts des Lukrez-Textes geschuldet. Die Sprache wird im Libretto in einer Weise thematisiert, die musikalisch und textlich diese und das Sprechen selber in Szene setzt. Entfernt, nur ein Wink, erinnert das Duett von Silvia und Natascha an die Liebesnacht von Wagners Tristan und Isolde. Doch dort stiftet das gemeinsame Singen einen Liebesdiskurs über das Subjekt, das sich vereinend aufgeben will. Diese Aussicht haben Silvia und Natascha schon deshalb nicht, weil es „gar keinen Raum“ gibt und sie einen, wenn man will, naturphilosophischen Text singen. Die Handlungslosigkeit, für die bekanntlich Wagners Tristan oft kritisiert wurde und wird, bekommt in Violetter Schnee als Metaoper eine weitere Drehung. Stattdessen tritt dreimal ein „Ensemble der Vereinsamung“ auf:

SILVIA   wo ---

bist du ---

jetzt ---

NATASCHA   ein Paar --- das Paar ---

das Paar --- ein Paar ---

SILVIA    ich ---

ich ---

PETER     keine Wände --- hat das Haus ---

und das    Haus    ---   hat     keine    Wände 

JACQUES    Zeit ---    zu     schlafen   ---[14]

 

 

Die wiederholt angesprochene und gewünschte Heimkehr findet schon wegen des Hauses, das „keine Wände (hat)“ nicht statt. Das ist vielleicht eine Härte der Natur, wie sie von und mit Lukrez angesprochen worden ist. Tanja sieht zwar auch noch die Frauen im Gemälde heimkehren, doch das kann schon mehr dem „Ensemble Euphoria“ geschuldet sein. In der götterlosen Welt des De rerum natura gibt es kein Heim und kein Obdach. Das Unheimliche des unaufhörlichen Schneefalls hat den heimischen Tisch zu Brennholz gemacht. Statt Heimkehr und Heimat verkehrt sich die Existenz ins Unheimliche, was sich bereits auf den zweiten Blick aufs Großgemälde gezeigt hatte. Deshalb wirken die Menschen auf der Bühne nicht nur unbehaust, sondern oft wie Obdachlose auf Berliner Straßen - vielleicht ein wenig zu schick. Gibt es Hoffnung? Das Ereignis des Erscheinens eines „Licht(s)“ oder einer „Sonne“ bleibt am Ende völlig offen. „Licht“, „Mond“, „Sonne“, „Mars“ werden als Benennungen für die ereignishafte Erscheinung durchgespielt, wiederholt und ersetzt. 

PETER          ich grüße --- die Sonne --- 

NATASCHA    wir --- grüßen die Sonne ---[15]

Gerade das Ende bleibt ebenso rätselhaft, wie dass es den Menschen in seiner Sprache und dem Sprechen unter Peitschenlampen zu Wort kommen lässt. Das ebenso schwer wie ambig benennbare Ereignis wird zum „Phänomen“, an dem Sprache auch scheitert. Vielleicht wird es nun wirklich wärmer. Aber unheimlich sind auch das Phänomen und der violette Schnee. Eine homelessness wie in den Schriften von Homi K. Bhaba winkt herüber. Doch es artikuliert sich vielleicht Hoffnung dadurch, dass es „ich“ sagen lässt, aus dem ein Wir entspringt: „ich verstehe --- ich verstehe --- hört ihr es --- ich höre --- hört --- ich fühle --- ENDE“. 

 

Torsten Flüh 

 

Staatsoper Unter den Linden 

Violetter Schnee 

Musik Beat Furrer 

Nächste Vorstellung (möglicherweise die letzte) 

31. Januar 2019 19:30 Uhr©

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[1] Vgl. zur Aufführung von Piere Boulez‘ Rituel in memoriam Bruno Maderna durch die Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim: Torsten Flüh: Verspätete Ankunft der Moderne. Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin, dem Rotterdam Philharmonic Orchestra und Horos Meteoros von Jakob Ullmann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. September 2018 19:34.  

[2] 2016 spielte Matthias Pintscher beim Musikfest Berlin mit dem Ensemble intercontemporain im Haus der Berliner Festspiele: Torsten Flüh: „Es gibt Besseres zu tun, als Meisterwerke noch einmal zu spielen.“ Zum Konzert Soleil noir des Ensemble intercontemporain mit Matthias Pintscher beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. September 2016 16:18.

[3] Richard Wagner: Das Judentum in der Musik. Leipzig: Weber, 1869. (wikisource)

[4] Vgl. Torsten Flüh: Die Rückkehr der Oper nach der Anti-Oper. Edward II. als schwule Oper an der Deutschen Oper Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN  6. März 2017 21:38.

[5] Siehe Torsten Flüh: Das Freiheitsexperiment. Night Train to Lisbon im Wettbewerb der Berlinale 2013. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Februar 2013 21:37. Oder: Torsten Flüh: Frauen und das Versprechen der Freiheit. La Religieuse und Gloria im Wettbewerb der Berlinale 2013. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Februar 2013 17:20.

[6] Beat Furrer zitiert nach: Staatsoper Unter den Linden: Violetter Schnee. Musik von Beat Furrer, Text von Händl Klaus basierend auf einer Vorlage von Vladimir Sorokin in der Übersetzung von Dorothea Trottenberg. Berlin, Staatsoper, 2019, S. 74.

[7] Ebenda.

[8] Heinrich von Kleist: Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft. In: ders.: Berliner Abendblätter 12tes Blatt. Den 13. Oktober 1810. In: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. Band II/7 1. Brandenburger Ausgabe. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld, 1997, S. 61.

[9] Staatsoper Unter den Linden: Violetter … [wie Anm. 5] S. 76.

[10] Ebenda.

[11] Ebenda S. 78.

[12] Ebenda S. 90.
[13] Ebenda S. 4.

[14] Ebenda S. 93.

[15] Ebends S. 102. 

Das Rätsel des Pianisten in holländischer Idylle - Jörg Demus verzaubert den Festsaal auf dem Campus Buch zum Schimmel-Konzertsaal

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Pianist – Akademie – Buch 

 

Das Rätsel des Pianisten in holländischer Idylle 

Jörg Demus verzaubert den Festsaal auf dem Campus Buch zum Schimmel-Konzertsaal 

 

Das geradezu prächtige Backsteinensemble im Neo-Renaissance-Stil, an Holland oder Schlösser in Dänemark erinnernd, des Klinikum Buch wird von einem Festsaal im Verwaltungsgebäude an der Karower Straße in Berlin Buch gekrönt. Zwischen 1900 und 1907 wurde die großräumige Krankenhausanlage weit vor den Toren Berlins von dem Architekten Ludwig Hoffmann erbaut. Der an Holland erinnernde Neorenaissance-Stil sollte die Kranken beruhigen. Ein kleines Torhaus vor dem Verwaltungsgebäude wirkt idyllisch. Mit Giebeln, hellen Erkern und weiträumigen, geometrisch angeordneten Grünflächen sollte die Architektur eine angenehme Wirkung auf die Kranken ausüben. Am 22. Januar weihte die Akademie für Musik im Festsaal den Schimmel-Konzertsaal mit einem Klavierrezital des weltbekannten Pianisten Jörg Demus ein.

 

Der nun eingeweihte Schimmel-Konzertsaal erstreckt sich in der Mitte des Gebäudes mit neobarockem Stuck zwischen zwei riesigen Erkern über 2 Stockwerke. Die Akademie für Musik hat hier ihre Räume für die Musikausbildung in den Bachelor-, Master- und Solisten Diplom-Studiengängen für das Spiel von Tasten- und Streichinstrumenten, Holz- und Blechblasinstrumenten sowie Gesang und Jazz eingerichtet. Mit dem Konzertsaal hat die Akademie Potential nicht nur für die akademische Ausbildung, vielmehr auch für sommerliche Konzerte oder gar als Drehort für Filme. Mit Jörg Demus eröffnete nun ein Pianist den von der Braunschweiger Pianofortefabrik Schimmel gesponserten Konzertsaal, der bereits 1956 den ersten Preis des Internationalen Klavierwettbewerbs Ferruccio Busoni gewann, 2017 in der ORF-Sendereihe Menschenbilder mit „Die Musik ist die Schwester der Poesie“ ein Portrait erhielt und am 2. Dezember 2018 seinen 90. Geburtstag feierte.  

Der Architekt und Stadtbaurat Ludwig Hoffmann prägte das Stadtbild des historistischen Berlin. Denn zu seinen Werken gehört nicht nur das Klinikareal in Buch, vielmehr gehen auch das Stadthaus und das Märkische Museum in Mitte auf sein Konto.[1] Der Renaissance-Erker des Märkischen Museums ging durch starke Beschädigungen während der letzten Kriegstage 1945 verloren.[2] Ludwig Hoffmann entwarf die öffentlichen Bauten für Berlin aus einem Repertoire zwischen mittelalterlichen Bauten der Romanik wie dem Dom von Havelberg, der Gotik insbesondere mit den Kreuzrippengewölben der Kathedralen, der späten Renaissance von Schloss Fredericksborg auf der Insel Seeland in Dänemark oder den geometrischen Barockgärten von Versailles. Er kannte seine Architekturgeschichte und wandelte sie in städtische Funktionsbauten um. Betritt man das Verwaltungsgebäude in Buch, öffnet sich eine eingeschossige Halle mit einem Kreuzgewölbe, das an die Gotik erinnert.

 

Für einen Funktionsbau wurde das Verwaltungsgebäude des ehemaligen „Genesungsheims“ geradezu prächtig gestaltet. Die historischen Elemente werden von Ludwig Hoffmann eingesetzt, um eine Atmosphäre zu schaffen. Während das Alte Leute-Heim in Buch eher eine barocke Fassade[3] erhielt und das Amtsgebäude in Buch eine klassizistische Formensprache bekam,[4] wählte Hoffmann für die „Irrenanstalt“ eine renaissanceartige Fassade. Das Funktionsensemble mit seiner klaren Gliederung von Torhaus, Verwaltungsgebäude, Bettenhäusern, Werkstattgebäude, Küchenbau, Kapelle und Leichenhaus sollte nicht nur Gemütlichkeit wie das Alte Leute-Heim, vielmehr Ordnung und Kontrolle vermitteln, was Hoffmann so allerdings nicht formulierte. Der Berliner Magistrat versuchte vielmehr ständig, die Kosten zu drücken. 

Abgesehen von den Kosten aber würde sich auch der Charakter des Baus ändern. Wir haben jetzt den Eindruck gemütlicher deutscher Landwohnhäuser, während wir auf der anderen Seite zu einer italienischen Bauart kämen. Nun ist das mit dem Charakter der Bauten ganz dasselbe wie mit dem der Menschen: Man kann den Charakter nicht ändern, indem man einen anderen Mantel überhängt.[5]   

 

Der Campus Berlin Buch wirbt heute mit sommerlich hellen Fotos der Giebel des Verwaltungsgebäudes, die dem Charakter der Neorenaissance verpflichtet sind. Ähnliche Formen und Elemente sind ebenso auf dem Campus der Charité in Mitte zu finden. Im Charakter der Renaissance schwingt nicht zuletzt die Wiedergeburt eines antiken Wissens vom Menschen mit.[6] Die Menschen erhalten auf Münzen, in der Plastik und auf Gemälden neuartige Gesichter. Statt mittelalterlicher Gottgläubigkeit stellt sich eine gewisse Berechenbarkeit des Menschen ein. Während die „Landwohnhäuser“ wohl eher für die Alten konzipiert waren, sollten die um 1900 neuartigen Krankheiten des Irr- oder Wahnsinns der ständig wachsenden und sich beschleunigenden Metropole im „Genesungsheim“ wohl eher durch einen strengeren Charakter der Gebäude beruhigt werden.[7] Ludwig Hoffmann „orientierte sich an den damaligen organisatorischen und therapeutischen Abläufen“.[8] Offenbar waren die Gebäude wie der Verwaltungsbau bereits mit Zentralheizungen ausgestattet, was gewiss der neueste Stand der Technik war.

 

Nun ist also die Akademie für Musik Berlin in das Verwaltungsgebäude eingezogen und hat den mit einem Schimmel-Konzertflügel ausgestatteten Saal eingeweiht. Sicher wäre es wichtig, die Geschichte des heute prachtvoll erscheinenden Gebäudes zu erforschen und nicht zu vergessen. Doch das kann schwerlich die Aufgabe der Akademie für Musik als Mieterin sein. Berlin Buch ist der nördlichste Ortsteil des Bezirks Pankow. Von der S-Bahnstation sind es kaum 10 Minuten zu Fuß zur Akademie für Musik, was man gewiss eine günstige Anbindung nennen kann. Von der Friedrichstraße sind es 26 Minuten bis zum S-Bahnhof Buch. In die ländlich-idyllische Szenerie der Neorenaissance kann man also nach gut einer halben Stunde eintauchen. Präsidentin der Akademie für Musik ist Prof. Helene Harth, der zahlreiche Dozent*innen zur Seite stehen, die an der Universität der Künste lehrten oder lehren. Harth war Präsidentin der Deutsch-Französischen Hochschule und setzt sich nun mit der AfM-Berlin für mehr Ausbildungschancen junger Menschen in der Musikausübung ein. Gleichzeitig sollen Spitzenmusiker gefördert werden.

 

In diesem Ambiente trat nun der österreichische Pianist Jörg Demus auf die Bühne, um mit der Partita Nr. 6 in e-moll von Johann Sebastian Bach und seiner Komposition Sonate Champêtre, op. 19, größte Aufmerksamkeit zu erregen. Nach der Pause gab er das Prélude und Choral et Fugue von César Franck sowie vier Stücke von Achille-Claude Debussy wie Claire de Lune. Als Zugabe bot er sehr charmant mit der in Berlin lebenden und lehrenden Pianistin Xie Ya-Ou den 1. und 3. Satz aus der Petite Suite von Debussy. Der an der Akademie für Musik und an der Universität der Künste Berlin lehrende Professor für Musiktheorie und Schüler des Musikkritikers Carl Dahlhaus Hartmut Fladt erläutert auf dem Programmzettel des Abends die Stücke. Musikgenuss und Musikbildung werden hier von der Akademie für Musik gleichermaßen geboten. Fladt beschreibt die Partita Nr. 6 als „Tanzmusik, die nicht zum Tanzen gedacht ist, sondern zum Zuhören“. Er ordnet dieses Genre im Werk Bachs „für Solo-Tasteninstrument“ genauer ein. Die Partiten hätten „den höchsten kompositorischen und klaviertechnischen Anspruch“.

Jörg Demus löst den klaviertechnischen Anspruch mühelos ein. Das darf man in Anbetracht seines Alters durchaus ein kleines Wunder nennen. Er spielt die komplexe Komposition aus dem Kopf und das heißt bei ihm gewiss auch aus dem Körper heraus. Seine Hände erinnern sich an die komplexe „Tanzmusik“ von Toccata, Allemande, Corrente, Air, Sarabande, Gavotta und Gigue. Die freie musikalische Struktur der Toccata wechselt mit dem moderaten Tempo des Renaissance- und Barock-Tanzes Allemande. Der italienische Corrente-Tanz vermittelt eine fröhliche Stimmung im Dreiertakt „mit raschen Sechzehntel-Figuren“ (Fladt). Das geradtaktige englische Tanzlied Air wird von Johann Sebastian Bach als gewisses Novum in die Gesellschaftstänze eingefügt, bevor die „langsam-gravitätische Sarabande“ folgt, um von einer hüpfenden Gavotte abgelöst zu werden und mit der sich überstürzenden Gigue zu enden. Anders gesagt der neunzigjährige Pianist musste ständig das Tempo und den Takt wechseln, was ihm, soviel zu hören war, keine Mühe bereitete.

 

Der Tanz und das Tanzen werden in einer Zeit der Diskotheken, von Spotify und Streamingdiensten oft unterschätzt. Die Koordination der vorgegebenen Tanzschritte mit dem Körper erfordert zugleich eine ungemeine Gedächtnisleistung. So gingen meine Eltern im Alter in einen Tanzkreis, der dann zur Goldenen Hochzeit verschiedene Gesellschaftstänze aufführte und zum Mittanzen einlud. Während die Siebzig- bis Neunzigjährigen die Schritte vortanzten, verhedderte sich z.B. der Pastor hoffnungslos in der Abfolge der Schritte. Mir wurde bei dieser Gelegenheit klar, dass meine Eltern im Alter nicht nur aus Vergnügen irgendwie tanzten, sondern ein beachtliches Gedächtnistraining mit Körpersteuerung leisteten. Vor diesem Horizont sollte man auch die wunderbare „Tanzmusik“ Johann Sebastian Bachs gespielt durch Jörg Demus sehen. Bei den Partiten geht es gar nicht so sehr um eine Interpretation, vielmehr sind Gedächtnisleistung und Körperkoordination entscheidend.

 

Als Komponist bleibt Jörg Demus der sogenannten klassischen Musik mit seiner Sonate Champêtre verhaftet und knüpft an den poetischen Impressionismus des jungen Debussy an. Die ländliche (champêtre) Sonate in vier Sätzen hält sich an die Sonatenform als Kompositionsschema und entwirft mit dem poetischen Titel eine ländliche Szenerie. Adieux hiver … Bonjour printemps! setzt den Abschied vom Winter und den Beginn des belebenden Frühlings akustisch in Szene. Le Vol d’oiseaux und die Nuit d’Étoiles münden in Variations. Les Tournesols, die nun den Sommer erklingen lassen. Weder der Flug der Vögel noch die Sterne der Nacht oder die Sonnenblumen lassen sich auf einen Klang oder dessen Assoziation zurückführen. Vielmehr wird auf visuelle Wahrnehmungen in der Landschaft angespielt. Schon der erste Satz formuliert einen sprachlichen Gruß bzw. den Wechsel des Winters zum Frühling als Klaviermusik.

 

Die Sonate Champêtre gibt Rätsel auf. Es ist nicht ganz sicher, ob Jörg Demus mit der Sonate Champêtre, die er ebenfalls aus dem Kopf spielte, eine Deutsche Erstaufführung oder gar eine Uraufführung bot. Denn Harmut Fladt fand ebenfalls keine Noten oder Aufnahmen. Ein Entstehungsdatum wird nicht genannt. Ist die Sonate eine Gelegenheitskomposition aus Liebe zur französischen Klaviermusik des frühen 20. Jahrhunderts? Sie ähnelt im Modus den Kompositionen von Achille-Claude Debussy und unterscheidet sich doch durch die Sonatenform von diesen. Oder schlägt Demus mit seinem Programm gar vor, dass sich die vier Stücke, die er im zweiten Teil von Debussy spielte, ebenso als Sonate hören lassen könnten? Die geschlossene, klassische Form der Sonate wird von Debussy eigentlich aufgegeben. Es gibt Korrespondenzen in den poetischen Titeln und der Abfolge der Stücke im Debussy-Teil.

 

Die vier Stücke – La Terrasse de Audiences du Clair de Lune, Poissons d’Or, Clair de Lune, La Cathédrale Engloutie– sind eine Montage aus verschiedenen größeren Kompositionen Debussys, wie Hartmut Fladt im Programm deutlich macht. Anders gesagt: unter den Bedingungen der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird die viersätzige Sonate zur Montage und umgekehrt. So ergibt sich ein Wink auf die Komposition von Jörg Demus. Im zweiten Satz lässt Debussy goldene Fische tanzen, wenn bei Demus Vögel fliegen. Im dritten Satz scheint bei Debussy der Mond, wenn bei ihm die Sterne leuchten. Doch statt der städtischen Szenerie bei Debussy, die bei den goldenen Fischen an japanische Lackarbeiten denken lässt, denn im Französischen wäre ein Goldfisch ein poisson rouge, entwirft Demus eine ländliche Idylle im Rhythmus der Jahreszeiten. Vielleicht liegt Demus das Ländliche als Erfahrungswissen näher als die impressionistischen Klänge kurz nach 1900 in der Metropole Paris.

 

Das Tänzerische und die Improvisation bekommen bei Demus im Anschlag eher eine leichte Schwere. Oder ist das dem Schimmel-Konzertflügel geschuldet? Das klingt nicht nur nach Reife, sondern eher nach Weisheit. Werden üblicher Weise die jungen Pianisten wie Daniil Trifonov[9] und Pianistinnen wie Wang Yuja wegen ihrer Schnelligkeit und grandiosen Technik gelobt und gefeiert, so gerät die Verehrung der alten wie Jörg Demus ein wenig aus der Mode. Die Schimmel-Konzertflügel hatten immer einen eigenen Klang, der sich von denen aus dem Hause Steinway & Sons oder Bösendorfer in Wien unterscheidet. Konzertflügel haben ihre eigene Geschichte durch vielerlei Klavierfabriken. Die Klavierfabriken rangen um die besten Pianisten und Pianistinnen, um mit ihnen als Zeugen werben zu können. Steinway & Sons hat dies Vertriebsmodell im 20. Jahrhundert von New York aus zuerst entwickelt. In den meisten Konzertsälen stehen heute Steinway & Sons Konzertflügel.

 

Jörg Demus faszinierte im Schimmel-Konzertsaal in Buch und ließ sich gar zu einem Portraitfoto bewegen. Das Klavier gehörte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kulturgeschichtlich zum Bürgertum und symbolisierte Bildung. Ein Flügel im Wohnzimmer der Villa oder auch noch im Bungalow musste nicht unbedingt perfekt gespielt werden, um die Aufmerksamkeit der Gäste zu erregen. Liberace machte den Flügel noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Showereignis.[10] Doch da waren die glitzernden Kandelaber auf dem Flügel fast schon wichtiger als die Musik. „Schimmel Konzert Flügel und Klaviere 2017“ wirbt mit einer blonden, jungen Frau im goldenen Seidensatinkleid am Flügel auf dem Cover. Der Konzertflügel im Wohnzimmer musste vom Hausherrn oder der Dame des Hauses nicht gespielt werden können. Die Bilder des Luxus und der Aufmerksamkeit, vier Scheinwerfer sind auf die Frau am Flügel gerichtet, werden trotzdem imaginiert. Bisweilen wurde der Flügel wie im Weißen Haus mit einer großen Decke zum Schauplatz für die Familien- und Prominentenfotos. Das Wohnzimmer verwandelte sich in einen Salon.

 

Der Konzertflügel im Wohnzimmer macht Musik selbst dann, wenn er nicht gespielt wird. Wahrscheinlich erfüllen das Klavier und der Flügel heute vor allem in der Volksrepublik China ähnliche Funktionen. Denn der Pianist/die Pianistin wird zur Projektionsfläche des gesellschaftlichen Aufstiegs durch Leistung als einem möglichst frühen Training an den Tasten. Deshalb ist es wohl nur folgerichtig, dass die Wilhelm Schimmel Klavierfabrik in Braunschweig heute dem chinesischen Pearl River Piano Unternehmen in Guangzhou bzw. Kanton zu 90% gehört und der Chef Chen Zhaoyin Jörg Demus zu seinem Auftritt gratulierte. Die Akademie für Musik richtet ihr Lehrangebot nicht zuletzt an internationale wie chinesische Student*innen. 

 

Torsten Flüh

  

Akademie für Musik Berlin 

Karower Straße 15a, Gebäude 214 

13125 Berlin 

_______________________ 



[1] Siehe: Torsten Flüh: Ein Bärendienst. Zur 150-Jahrfeier des Vereins für die Geschichte Berlins e.V., Heinrich Heines Briefe aus Berlin und Berliner Fotografenateliers des 19. Jahrhundert. In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. Februar 2015 16:58.

[2] Vgl. Fritz Stahl: Ludwig Hoffmann. In: XIV. Sonderheft der Berliner Architekturwelt. Berlin: Ernst Wasmuth, 1914, S. 3. (Digitalisat auf Archive.org)

[3] Siehe ebenda S. 95-104.

[4] Siehe ebenda S. 91-92.

[5] Ludwig Hoffmann: Das Genesungswerk in Buch. Berlin

[6] Siehe dazu: Torsten Flüh: Wiedergeburt der Wiedergeburt. Gesichter der Renaissance im Bode-Museum. In: NIGHT OUT @ Berlin 30. August 2011 23:34.

[7] Vgl. zu „Kulturen des Wahnsinns“ in Berlin: Torsten Flüh: Wahnsinn mit Methode. Zur Abschlussveranstaltung Kulturen des Wahnsinns im Ambulatorium. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Juli 2015 21:31.

[8] Siehe Klinikum Buch in Denkmaldatenbank.

[9] Vgl.: Torsten Flüh: Extremisten am Flügel: Christoph Grund und Daniil Trifonov. Zu zwei unterschiedlichen Pianisten und ihren Konzerten im Radialsystem V und in der Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. Januar 2016 17:53.

[10] Vgl.: Torsten Flüh: Der Horror der Kandelaber. Zu Liberace – Behind the Candelabra mit Michael Douglas und Matt Damon. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Oktober 2013 21:59.  

Geschlecht, Wahn und Wirtschaft - Zu Small Town Boy von Falk Richter im Gorki und dem Special TEDDY AWARD

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Projekt – Gesellschaft – Intimität 

 

Geschlecht, Wahn und Wirtschaft 

Zu Small Town Boy von Falk Richter im Gorki und dem Special Teddy Award 

 

Am 15. Februar wird Falk Richter in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz im Rahmen der 69. Berlinale den Special TEDDY AWARD 2019 verliehen. Samstag zeigte das Gorki passender Weise wieder einmal sein „Projekt“ Small Town Boy. Die 25 Szenen enthalten wiederholt Anspielungen auf das Medium Film wie „Making of“ oder „YOUTUBEYOUPORNZOMBIE“. Falk Richter hat das Projekt zusammen mit den Schauspieler*innen Mehmet Ateşçi, Niels Bormann, Knut Berger, Lea Draeger, Aleksandar Radenković und Thomas Wodianka erarbeitet. Zeitnah wurden bis zur Premiere am 11. Januar 2014 politische Ereignisse thematisiert wie Wladimir Putins Unterzeichnung des russischen Gesetzes „Zum Zweck des Schutzes von Kindern vor Aufklärungsinformationen der Verleugnung traditioneller Familienwerte“ am 11. Juni 2013. Hinter dem umständlich-euphemistischen Gesetzestitel verbirgt sich ein Gesetz, das Homosexualität in Russland erneut kriminalisiert.

 

Nicht erst seit 2014 entwickelt Falk Richter seismografisch mit Small Town Boy ein politisches Theater, das die parteipolitischen Verwerfungen der jüngsten Zeit wie dem Einzug der AfD in den Bundestag mit dem „Frühling der Reaktionäre“ (Szene 21) vorhersah. Die Berliner Theater und Kulturinstitutionen haben sich am 9. November 2018 zu einer Erklärung der Vielen mit über 140 Unterzeichner*innen zusammengefunden. Denn Pöbelanrufe, Mord- und Anschlagsdrohungen wie z. B. gegen den Intendanten des Friedrichstadt-Palasts, Dr. Bernd Schmidt, versuchen seit Herbst 2017 Angst in der Kulturszene zu verbreiten. Auftritte, Pöbeleien und Angriffe von Identitären sind im Maxim Gorki Theater nicht unbekannt. Vorlesungen an der Humboldt-Universität zu Berlin erhielten Warnungen vor rechten Störern. Das 2014 noch Unvorstellbare strukturiert im Februar 2019 die Realität.

 

Das Gorki in der Intendanz von Shermin Langhoff und Jens Hillje hat sich nicht erst seit der Spielzeit 2013/14 in seiner Geschichte wiederholt politisch klar positioniert. Diese Positionierung ist unverzichtbar geworden. Obwohl auch die Staatsoper Unter den Linden sich mit ihrem Intendanten Matthias Schulz oder das Staatsballett mit Johannes Öhmann und Sascha Waltz als Unterzeichner*innen der Erklärung der Vielen angeschlossen haben, erinnert die Premiere aus dem Jahr 2014 von Small Town Boy daran, dass sich die Gorki-Intendant*innen frühzeitig für ein Konzept entschieden haben, das sich an die „ganze Stadt, mit allen, die in den letzten Jahrzehnten dazu gekommen sind, ob durch Flucht, Exil, Einwanderung oder einfach durch das Aufwachsen in Berlin“ wendet.[1] Am 2. Februar gab es keine rechten Störer im Publikum, vielmehr wurden die Schauspieler*innen im ausverkauften Theater stürmisch und anhaltend gefeiert.

 

Die Identitätsfrage, die in Small Town Boy die entscheidende Rolle spielt, gehört ebenso zum Konzept der Intendant*innen, die internationale Anerkennung genießen. Jens Hillje erhält im Sommer den Goldenen Löwen der 58. Biennale von Venedig in der Kategorie Theater für sein Lebenswerk. Mit der „Kunst des Theatermachens und Theaterschauens“ will das Gorki „die condition humaine des heutigen Menschen und seine Identitätskonflikte (….) reflektieren, um zu einer sorgfältigen und geduldigen Debatte über unser Zusammenleben in der heutigen Vielfalt beizutragen. Wie sind wir geworden, was wir sind? Und wer wollen wir künftig sein? Kurz: Wer ist wir?“[2] Die Momentaufnahme zur brüchigen Identität des Schwulen 2013/14 ist fast eine Art Klassiker geworden. In Small Town Boy wird nicht nur die Synthie-Pop-Ballade Smalltown Boy von Bronsky Beat zitiert, vielmehr winkt von fern auch Ronald M. Schernikaus Kleinstadtnovelle von 1980.[3]

 

Wie viele Identitäten hat ein Schwuler? Muss er sich gar nicht auf eine Identität festlegen? Leder- oder Anzugmann? Ist eine monogame Paarbeziehung – „bis dass der Tod uns scheidet“ – die einzige, wünschenswerte, identitätsstiftende Lebensweise? Der Wunsch nach einer intimen, langandauernden Zweisamkeit und Verschmelzungsphantasien mit dem Körper des Anderen spielen in den 25 Szenen oder Clips wiederholt eine Rolle. Die Realität wird indessen mehrfach anders, einsamer, brüchiger formuliert. In „8 Why don’t you love me anymore“ fragt sich ein Typ, wie das in Berlin nach dem Ausbruch aus der Kleinstadt gehen soll, wenn sich „niemand“ für einen interessiert. Es gibt den Wunsch nach einem „Freund“ nach „Beziehung“, aber „Wie sollte das aussehen? Wie soll ich leben?“[4] Wie geht Leben, wenn ich mich – und jetzt kommt das russische Gesetz von der rechtsorientierten Jelena Misulina – nicht „traditionellen Familienwerten“ unterwerfen will oder es nicht kann, selbst wenn ich es wollte?

 

Die AfD hat sich längst nicht nur mit Gabriele Kuby, die Falk Richter neben Erika Steinbach in Small Town Boy zitiert, auf ganzer Linie in eine Traditionelle-Familienwerte-Partei nach dem Vorbild von Jelena Misulina verwandelt. Annegret Kramp-Karrenbauers homofeindliche Einlassungen sind nur der letzte Beweis dafür. Die CDU soll wieder wählbar werden für Menschen, die sich als Konservative verstehen und die gesellschaftliche Kontrolle zurück bekommen wollen. Traditionelle Familienwerte sind ein nationalistischer Wirtschaftsfaktor. Sie behaupten nicht nur eine russische, amerikanische oder deutsche Tradition in einer vielfältig vernetzten Welt, vielmehr werden sie zu einer wirtschaftspolitischen Machtstrategie – Make Russia ..., Make Britain ..., Make America ..., Make Germany Great Again. Die Hamburger Ökonomen Bernd Lucke, Jörn Kruse und Hans-Olaf Henkel haben die AfD 2013 als sogenannte eurokritische Partei mitbegründet. Die Wirtschaftswissenschaftler und der ehemalige Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie öffneten nicht nur mit ihrer Kritik am Euro die Büchse der Pandora, sondern ihre wirtschaftlichen Rechenexempel wurden zur „Milchmädchenrechnungen“ für Brexit, Flüchtlingspolitik und reaktionärem Nationalismus.[5]

 

Die Wirtschaftspolitik als Wissensformation vom Wirtschaftlich-Notwendigen ist keinesfalls nur durch Angela Merkel als Kanzlerin mit Wladimir Putin verstrickt. Die Wirtschaftsexperten Lucke, Kruse und Henkel legitimierten vielmehr die Rückkehr der Kategorien von Tradition, Nation, Rasse und Geschlecht in die Politik. Hans-Olaf Henkel hat sich, weiterhin hochangesehen, bis in die Parteilosigkeit im Europäischen Parlament verrechnet, nachdem er noch einmal mit Bernd Lucke die Partei der Liberal-Konservativen Reformer (LKR) als neo-nationalsozialistische Partei mitbegründet hatte. Mittlerweile ist er als „Experte in Wirtschaftsfragen“ den Europäischen Konservativen Reformisten in Europaparlament beigetreten. Er ist zwar zusammen mit dem in der Schweiz lebenden Hamburger Milliardär Klaus-Michael Kühne auf seiner Website gegen den Brexit, hat aber klare Geschlechterrollenbilder, wenn er als Eigenwerbung auf seiner EKR-Seite ganz weißer, alter Mann spaßig formuliert: „Der typische Vorstand trennt sich eher von seiner Frau als von seinem Manuskript.“[6] Na, da ist doch klar, wie der Hase läuft. Da müssen dann die „traditionellen Familienwerte“ gar nicht erst erklärt werden.

 

Das Geschlecht der Vorstände wie Henkel verteidigt eben auch offen, klare Rollenverteilungen. Unter dem Mantel der Wirtschaft verbergen sich sehr antiquierte Vorstellung von Herkunft und Hierarchie. In Falk Richters „Frühling der Reaktionäre“ wird bereits Gabriele Kubys biologistisches Geschlechterbild vom Schauspieler Thomas Wodianka ebenso satirisch wie bestürzend mit seinen Händen und Fingern vorgeführt. Es geht gar nicht mehr, den „Stöpsel“, der in das „Loch“ hineinmuss, wie auf dem Schulhof vor 40 Jahren vorzuführen. Rechte Argumentationsformeln von Jelena Misulina werden schlafwandlerisch von Gabriele Kuby oder Erika Steinbach etc. übernommen: „Bitte respektieren Sie, dass wir unsere Kinder schützen wollen.“ – „Ich will nicht mehr.“ – Angela Merkel hat zu lange gewartet, um am 26. Juni 2017 ausgerechnet im Gorki beim Brigitte Live-Gespräch zu sagen, dass die Abstimmung über die „Ehe für alle“ eine „Gewissensentscheidung“ sein sollte.

 

Am 30. Juni 2017 stimmten die Abgeordneten des Deutschen Bundestages für die „Ehe für alle“. Plötzlich waren die Homosexuellen in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr „Menschen zweiter Klasse“, wie es noch im Januar 2014 in Small Town Boy formuliert werden musste. Falk Richter hat das im Bundestag mitgefeiert. Weil am Hauptgebäude der Humboldt-Universität umfangreiche Renovierungsarbeiten durchgeführt werden, können die unvermeidlichen Baumaschinen kreativ von Aufnahmen einer mit 242.000 Teilnehmer*innen größten Demonstration in der Geschichte der Bundesrepublik umhüllt werden. Die unteilbar-Demo am 13. Oktober 2018 vom Alexanderplatz zur Siegessäule war nicht zuletzt ein Anliegen des Gorki Theaters, das ein Exil Ensemble beherbergt. Und natürlich kommen mit „Murats Ehebruch“, „14 Shades of Grey / Gasthaus Forstengrund / Folge 37_B55598.32918: Murat und Angie im Kanzlerinnenschloss“ oder „18 Bir Derdim Var“ in Small Town Boy auch Stimmen mit Migrationshintergrund vor. Mehmet Ateşçi singt eurovionsschöne Lieder von Matthias Grübel auf Türkisch. Die Erklärung der Vielen wendet sich nicht nur gegen nationalistische und rassistische Übergriffe von AfD-Politiker*innen. Sie entwirft am Gorki auch eine unteilbare Vielfalt. 

WIR SIND VIELE – JEDE*R EINZELNE VON UNS 

Kunst schafft einen Raum zur Veränderung der Welt

Wieland Speck, Vorstand TEDDY Foundation, hat in seiner Begründung für die Verleihung des Special TEDDY AWARD ausgerechnet Small Town Boy nicht erwähnt. Vielleicht tut er es noch auf der TEDDY AWARD Ceremony in der Volksbühne. Das „Projekt“ adaptiert für die Struktur die Sprache des Films, der Serien und „Social Media“. Schnitte werden zur Projektästhetik. Falk Richters „Projekte“ sind immer auch Medienverschnitt und -reflektion. Wieland Speck hat das auf andere Weise formuliert: 

Für das emanzipatorische Wirken der darstellenden Künste hat das Theater von Falk Richter kontemporär die überzeugendsten Werke erbracht. Die Kombination ästhetischer und analytischer Kommunikation, auch unter prominenter Einbeziehung von Arbeiten von Videokünstlern wie Chris Kondek, Michel Auder und Björn Melhus, tragen zur Inspiration des derzeitigen Filmschaffens bei. Die TEDDY Foundation zeichnet Falk Richter als Beweger, von dem wir uns nachhaltige Impulse für das zukünftige queere und weltoffene Kino wünschen, mit dem Special TEDDY AWARD aus.[7]


© Thomas Aurin 

Vielleicht ist die Zeit der narrativen Theaterstücke vorbei. Falk Richters Projekte sind heute in einer Medienkultur zwischen You Tube, You Porn, #Hashtags, Tags, Clips und Wahrnehmung als Film im Schnitt und Gegenschnitt verstrickt. Die 25 Szenen werden in einer schnellen Folge von Schnitten wie im Film abgespult. „1 Filmtitle: Weekend / Scene: 1 Take: 4 / No. 6 Intimität und Sprache“ heißt das Vorspiel. Wieviel Film macht das Leben? Scripted Reality ist vielleicht nicht mehr nur ein Genre des Dokumentarfilms. Slavoj Žižek hat in The Pervert’s Guide to Cinema klipp und klar formuliert, dass „man (…) uns beibringen (muss), uns nach etwas zu sehnen“.[8] Falk Richter macht in dem Vorspann im Modus eines Filmdrehs mit „Intimität und Sprache“ deutlich, wie zwei junge Männer, Schwule, über ihren Sex, über ihre Intimität sprechen wollen und nicht können. Anstatt sagen zu können, was sie erlebt haben, macht die Sprache die erlebte Intimität kaputt. Doch das hat u.a. damit zu tun, dass sie Fußballspieler sind.


© Thomas Aurin 

Sprache verfehlt die Intimität, wenn man Falk Richter folgen will. Das Projekt Small Town Boy wird auf der Drehbühne von Katrin Hoffmann als ein Labor aus Stimmen und Bildern inszeniert. Die Schallplattensammlungen und die Poster mit David Bowie, Rainer Werner Fassbinder und Annie Lennox schaffen eine Art Intimität im Labor, das ein Jugendzimmer sein könnte. Die Bravo-Poster – oder woher sie auch immer kamen – boten so etwas wie Orientierung und Intimität. Sie weckten Begehren. Schließlich bestimmte der Jugendliche, wen oder was er oder sie sich an die Wand hängte, um sich nicht allein zu fühlen, wohlzufühlen und zu träumen. „Sweet dreams are made of this / Who am I to disagree? … Some of them want to use you / Some of them want to get used by you / Some of them want to abuse you / Some of them want do be abused… Hold your head up / Keep your head up, movin‘ on …“ – Gibt es eine größere Intimität, als zu träumen?


© Thomas Aurin 

Annie Lennox schrieb mit Sweet Dreams 1983 eine Art melancholische Schwulenhymne. Im Musikvideo trat sie mit Orange gefärbten Haaren mit Kurzhaarschnitt, dickem Kajalstift um die Augen, mit schmaler Krawatte und Anzug sowie schwarzen Handschuhen und Zeigestock auf. Die Inszenierung überschnitt sich mit der Figur Ziggy Stardust von David Bowie, wie Katrin Hofmann mit ihrem Labor-Bühnenbild vorschlägt. Jener Glam Rock und Raumfahrer-Figur, die Bowie bereits 1972 mit zunächst wenig Kajal um die Augen als futuristisch-androgynes Wesen kreiert hatte. The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars endet als Rockoper mit dem Rock ’n‘ Roll Suicide. Vielleicht laden gerade besonders düstere Szenarien im Jugendzimmer zum Träumen ein. Doch auch Falk Richters Inszenierung von David Bowies und Enda Walshs Lazarus 2018 am Schauspielhaus Hamburg, gibt einen Wink, dass Bowie zum konzeptuellen Bezugsrahmen des Regisseurs gehört.


© Thomas Aurin 

Dave Stewart spielt im Video zu Sweet Dreams ein Cello als Inkarnation der romantischen Melancholie. Er hat 2017 das Making of Sweet Dreams im Interview etwas anders als existentielle Geschichte eines Popsongs und Rettung der Eurythmics erzählt.[9] Der Syntheziser Pop brauchte natürlich kein Solo-Cello, trotzdem wird es im Video in einem surrealen Setting aufgerufen. Das Cello ist nicht zuletzt ein wiederholtes Motiv im Schaffen von Salvador Dalí. Es wird in den surrealistischen Settings von Dalí mehrfach und auf unterschiedliche Weise von Nachttischen oder Elefanten attackiert. Oder es zerfließt in den Traumlandschaften der Zeit neben den berühmten Uhren. Doch in der Musikliteratur der Romantik wie dem Klavierquartett Es-Dur, op. 47 von Robert Schumann wird das Cello zum Gefühlsinstrument schlechthin.[10]


© Thomas Aurin 

Das Musikvideo von Eurythmics Sweet Dreams wurde auf MTV im Fernsehen anfangs fast in einer Endlosschleife gezeigt. Auf YouTube ist es seit 25. Oktober 2009 schon über 300 Millionen Mal aufgerufen worden.[11] Chris Ashbook inszenierte mit Annie Lennox und Dave Steward sowie einer Kuh im Studio eine ebenso futuristische wie surrealistische Szenerie mit einer Verdopplung von Bildern auf Bildschirmen, einem antiquierten Computer und Goldenen Schallplatten an den Wänden. Die Sängerin diktiert in vorgebeugter Haltung mit auf den Schreibtisch gestützten Armen 1983 ihrem Co-Musiker den Songtext in die Computertasten. Gleichzeitig wird mit dem Musikvideo ein feministisches Geschlechterverhältnis in Szene gesetzt. Oder wird durch die überpointierte Performance der Männlichkeit diese dekonstruiert?


© Thomas Aurin 

Der Syntheziser oder Snythie Pop funktionierte allein schon wegen seiner – überwiegend noch analogen – Klangerzeugung als gesellschaftliches Zukunftsversprechen. Rhythmus, Hall und Streichinstrumente kommen sozusagen aus der Maschine. Während der Orchesterapparat der Studiomusiker durch den Syntheziser ersetzt wird, taucht das Cello nur noch als Erinnerung auf. Gleichzeitig knüpfen die Aufnahmen von Menschen- und Kuhaugen an Luis Bunuels und Salvador Dalís Film Un Chien Andalou von 1929 an[12], der Chris Ashbrook als Kameramann und Regisseur bekannt gewesen sein dürfte. Während bei Bunuel mittels Schnitt und Traumlogik das Auge einer Frau durch das einer Kuh ersetzt wird, um es mit einem Rasiermesser zu zerschneiden, bleibt nun das Kuhauge heil.

 

Katrin Hoffmanns Bühne und Kostüme fallen ebenso ästhetisch mehrdimensional wie analytisch aus. Die Bilder von Bowie, Fassbinder und Lennox erinnern nicht nur an eine bestimmte Zeit, sie dienen zugleich der Vereinnahmung oder Identifikation. Mit Slavoj Žižek zeigen eben Annie Lennox und das Musikvideo Sweet Dreams, was wir begehren sollen oder sollten. Diese Bilder funktionieren mehrdeutig wie die in Russland kriminalisierte Aufklärung über vielfältige Lebensweisen. Es geht nicht darum, irgendjemanden schwul zu machen, sondern Bilder zu schaffen, wie das aussehen und sich anfühlen könnte. Nämlich als Stärke, wenn die Träume gerade einmal wieder zerplatzen, wie es mit Sweet Dreams inszeniert wird. Andere Bilder wie Putin mit nacktem Oberkörper zu Pferd erzeugen Abstoßung im Bühnengeschehen. Fotos von Putin, Merkel oder Anna Netrebko werden auf fast atavistische Weise attackiert. Das zeigt wie sehr sich Falk Richter als Regisseur und Katrin Hoffmann aufeinander abstimmen.

 

Die Theatertexte und -bilder funktionieren bei Falk Richter in Small Town Boy wie Seismografen. Statt Kontrollwahn und Abbildungsphantasien verarbeitet er im Format Projekt aktuelle Texte. Er knüpft an Rainer Werner Fassbinder an und schreibt Deutschland im Herbst (2016) als Theatertext oder eben gleich Je suis Fassbinder.[13] Vielleicht ist das, was am meisten an Richters Theatertexten zu faszinieren mag, dass er keine Haltung des Wissens oder der Belehrung einnimmt. Er macht Theater, das die Gesellschaft mit den Schauspieler*innen und seinem Team erforscht, wie auch mit dem Projekt Verräter am Gorki.[14] Hierhin hören und dahin hören, was gerade in den Medien kursiert. Widersprüche inszenieren und Lügen aufdecken. Risse deutlich machen und die Anmaßungen der Deutschland- und die Welterklärer sowie Terrorist*innen der heilen Welt entlarven. 

 

Torsten Flüh

 

Gorki 

Small Town Boy 

von Falk Richter 

demnächst neue Termine

 

Verräter 

von Falk Richter 

19. Februar 2019, 19:30 Uhr 

 

33. Teddy Award Ceremony 

15. Februar 2019, 21:00 Uhr 

Volksbühne 

_______________________ 



[1] Siehe Gorki Profil.

[2] Ebenda.

[3] Vgl. Torsten Flüh: Lesen im Archiv. Zur Eröffnung des Archivs von Ronald M. Schernikau in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. Oktober 2016 20:30.

[4] Zitiert nach Notiz.

[5] Siehe: Wo haben Sie sich verrechnet? In: Die Zeit Hamburg Nr. 6/2019, 31. Januar 2019.

[6] Hans-Olaf Henkel: https://hansolafhenkel.de

[7] Wieland Speck in: Special Teddy Award geht an Falk Richter #teddyaward 2019/02/27

[8] Siehe Torsten Flüh: Have a drink? - Vom Kino besessen. Zu Sophie Fiennes The Pervert’s Guide to Cinema mit Slavoj Žižek. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. April 2016 20:30.

[9] Eurythmics: how we made Sweet Dreams (Are Made of This). Interviews by Simpson. In: The Guardian Mon 11 Dec 2017 18.47 GMT.

[10] Vgl. blogforscherinnen: MEISTERHAFT JUGENDLICH. Das Notos Quartett im Debüt von Deutschlandfunk Kultur heute um 20:03 Uhr. In: metaihrblog 12. Januar 2018.

[11] Eurythmics: Sweet Dreams (Are Made of This)(Official Video) 25.10.2009.

[12] Luis Bunuel: Un Chien Andalou. (YouTube)

[13] Falk Richter: Je suis Fassbinder. Frankfurt am Main: Fischer, 2016.

[14] Siehe Torsten Flüh: Ziemlich heftiges Verräter-Ding. Zur umjubelten Uraufführung von Falk Richters Projekt Verräter — Die letzten Tage. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Mai 2017 22:17.  

Gefühl und Forschung in der neuen Musik - Zu den Konzerten des Notos Quartetts und des ensemble recherche sowie Chaya Czernowin bei ultraschall 2019

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Gefühl – Cello – Forschung 

 

Gefühl und Forschung in der neuen Musik 

Zu den Konzerten des Notos Quartetts und des ensemble recherche sowie Chaya Czernowin bei ultraschall 2019 

 

Die Sendetermine im Radio stehen noch bevor. Deshalb sind die Konzerte des Festivals ultraschall nicht unwiederbringlich verklungen. Restlos sind sie, sobald gespielt und gehört, sowieso nicht verhallt. Es bleibt sicher nicht nur für den Berichterstatter immer etwas hängen. Ein Ton, eine Geste, ein plötzlicher Wink. So erwiesen sich die beiden Konzerte am frühen Freitagabend im Radialsystem V als überraschend gegensätzlich in der Programmgestaltung. Dem Violoncello kamen im Programm des jungen Notos Quartetts wie in dem des ensemble recherche unterschiedliche Funktionen zu. Und nicht nur in diesen beiden vielmehr noch in Chaya Czernowins Komposition Guardian für Violoncello und Orchester beim Abschlusskonzert kristallisierten sich um das Melodieinstrument Fragen.

 

Dem Violoncello oder kurz Cello wird oft ein kantabler Charakter zugeschrieben. Es singt. Als Solo- wie als Orchesterinstrument wird es oft als Tenorinstrument bezeichnet. Doch das Cello wird eher mit einem sonoren Ton assoziiert und als mittelgroßer Resonanzkörper wahrgenommen. Salvador Dalí malte in seinen traumartigen Ensembles mehrfach ein Cello. 1983 kombinierte er ein angeschnittenes Cello mit dem mathematischen Symbol für ein bestimmtes Integral in Rot auf seinem letzten Ölgemälde, um die Schwalbenschwanz-Katastrophe in Szene zu setzen. Das Integralzeichen ähnelt dem Schall- oder f-Loch und seinem Spiegelbild im Resonanzkörper des Cellos. Das mathematische Modell der Katastrophentheorie drängt das Cello von einem weißen Tuch, das zwischen 16 Nägeln aufgespannt ist und mit den Schatten an das Schweißtuch erinnert.[1] Anders formuliert: Bei Dalí wird das Cello traumatisch wie traumlogisch mit einem mehrdeutigen Gefühl und dem Schwinden des christlichen Glaubens in Verbindung gebracht.      

 

Das junge Notos Quartett feierte am 10. Januar 2018 im Kammermusiksaal der Philharmonie sein Debüt bei Deutschlandfunk Kultur, das am 12. Januar gesendet wurde.[2] Es positionierte sich mit einem Programm, das mit Johannes Brahms‘ Klavierquartett Nr. 1 in g-Moll von 1861 gleichsam dem Gefühl in der Spätromantik verpflichtet war. Robert Schumanns Klavierquartett Es-Dur von 1842 und Garth Knox‘ Echoes of Schumann (2017) als Uraufführung unterstrichen deutlich, die Programmatik des jungen Ensembles, das sich in Berlin zusammengefunden hat. Mit Schumann und Brahms geht es nicht nur um die Formation des romantischen Quartetts als Klavierquartett mit Antonia Köster am Klavier, Sindri Lederer, Violine, Andrea Burger, Viola, und Philip Graham, Violoncello. Es geht vor allem um das Gefühl in der Musik.

 

Nun trat das ambitionierte Notos Quartett erstmals bei ultraschall auf, um mit Kompositionen von Morton Feldmann, David P. Graham, Bryce Dresser und Jesús Torres das Gefühl als Melodie wiederkehren zu lassen. Vielleicht darf man es einmal so formulieren, die Generation KI wie Künstliche Intelligenz lässt das Gefühl in die neue Musik zurückkehren. Das Notos Quartett hat sich diese Rückkehr zum Programm gemacht. Es vergibt nicht zuletzt mit Jesús Torres Kompositionsaufträge an Komponisten und Komponistinnen, die das Gefühl an der Schnittstelle von neuer Musik und Pop zelebrieren. Der gefühlvolle Wohlklang soll vor allem angenehm wirken, während seine Erzeugung höchste Anforderungen stellt. Die Kombination eines klassischen Retro-Klangs von Gefühl mit höchster Professionalität bei der Ausführung können schon jetzt als Profil des Notos Quartetts genannt werden.

 

Das Notos Quartett hat nicht nur keine Angst vor Gefühlen in der neuen Musik, es sucht sie vielmehr, um die Musikliteratur mit Kompositionsaufträgen zu erweitern. Das Programm im Radialsystem V setzte mit Four Instruments von Morton Feldman aus dem Jahr 1975 wiederum einen historischen Bezugspunkt. Man könnte bei Morton Feldmann von einem Komponisten der klassischen Moderne sprechen. Er gibt mit dem Titel Vier Instrumente einen fast nüchternen Wink auf die Besetzung, ohne diese im Titel genauer zu benennen. Bereits 1965 hatte er unter gleichem Titel eine Komposition für Klavier, Glockenspiel, Piano, Violine und Cello veröffentlicht. Die vier unterschiedlichen Instrumente werden in dieser Komposition anders hörbar, weil sich beispielsweise das Glockenspiel (chimes) klanglich unterscheiden lässt. Für beide Stücke gibt es keine Angabe der Tempi und zeitlichen Länge. Sie ergibt sich aus dem Musizieren selbst.


© Simon Detel

Der Zeitlichkeit des Musikmachens wird von Morton Feldman insofern besondere Aufmerksamkeit geschenkt, als die Tempi z.B. in Robert Schumanns Klavierquartett bereits eine Gefühlserzählung generieren mit 1. Sostenuto assai – Allegro ma non troppo, 2. Scherzo. Molto vivace, 3. Andante cantabile, 4. Finale. Vivace. Ziemlich nachdrücklich, munter aber nicht zu sehr, sehr lebhaft, gesanglich schreitend, sehr lebhaft regulieren einen ganzen Gefühlshaushalt in der hellen Tonart Es-Dur. Bei Feldman ist er schlechthin nicht vorgesehen. Das Notos Quartett spielt das minimalistische Four Instruments in 8 Minuten. Einerseits knüpfte Morton Feldman an die Malerei des Abstrakten Expressionismus an, andererseits lässt sich durch die paradoxe Formulierung eines abstrakten Expressionismus schwer sagen, welches benennbare Gefühl ausgedrückt werden soll. Vielmehr betonte Feldman einmal die Modi von Direktheit, Unmittelbarkeit und Körperlichkeit, als er sagte, er wünsche sich eine „Klangwelt, die direkter, unmittelbarer, körperlicher wäre als alles andere, was zuvor existierte“.[3]  


© Simon Detel 

Der Komponist und Musikpädagoge David Paul Graham hat 2015 für das Notos Quartett, in dem sein Sohn Philip das Violoncello spielt, Gravity komponiert, das beim Festival Celloherbst in einer Werkshalle 2016 uraufgeführt wurde. „Der warme Klang des Cellos versetzt eine ganze Region … in harmonische Schwingungen“, heißt es für der Festival 2018.[4] Anlässlich des Jubiläums von Albert Einsteins Relativitätstheorie 2015 transformierte Graham das Modell der „Gravitationswellen“ in Musik.[5] Die Astrophysik und das Wellenmodell üben auf den Komponisten eine große Faszination aus, die er klanglich „in einem flirrenden, obertonreichen Umfeld das Auftreten von sich verstärkenden Kräuselwellen“ überträgt. David Paul Graham komponierte in drei Sätzen für das kammermusikalische Quartett ein galaktisches Ereignis mit „drehende(n) Quasaren oder Schwarzen Löchern“[6], die gar an das Genre der Tondichtung oder Filmmusik mit anderen Mitteln erinnern.


© Simon Detel

Mit El Chan (2014) von Bryce Dessner und Cuarteto con piano (2017) von Jesús Torres schärfte das Notos Quartett sein Profil ein weiteres Mal hinsichtlich einer Wiederkehr des Gefühls. Das Cuarteto con piano knüpft mit dem Titel durchaus an die romantischen Klavierquartette an. Im April 2018 hatte das Notos Quartett die Uraufführung im Museum für zeitgenössische Kunst Centro de Arte Reina Sofia in Madrid gespielt, was einen Hinweis darauf gibt, dass die rege Produktion von Auftragswerken, enorm zum internationalen Erfolg beiträgt. Die Suche nach Komponistinnen und Komponisten wie Kompositionen verläuft beim Notos Quartett nach eigenen Angaben völlig unspektakulär über das Internet. Suche: „Klavierquartett“? Suche: „Gefühl Musik“? Wie genau sie im Internet die passenden Komponist*innen finden, verraten Antonia Köster und Philip Graham allerdings nicht.  Bryce Dessner und Jesús Torres bewegen sich mit ihren Kompositionen an Schnittstellen von Popkultur, Minimal Music, Film und Folk. Für das Quartett gibt es keine Kontaktängste.  

 

Obwohl das Profil auf den ersten Blick klassisch wirkt, ist die Gefühls- auch Popkultur. Populäres Wissen der Astrophysik wird ebenso in Musik verwandelt, wie die Gefühle, die sich sogleich als Musik formulieren lassen. Im Anschluss an das Konzert verrieten Antonia Köster und Philip Graham im Gespräch mit Andreas Göbel, wie sie das Stück mit Jesús Torres erarbeitet haben. Was er mit Anklängen an Flamenco und Folklore komponiere, fühle der Komponist so, „das muss dann so auf das Papier“, sagte Antonia Köster.[7] Die Formulierung eines Gefühls, dass sich von einem auf den anderen Moment in Noten „so“ und nicht anders „auf das Papier“ bringen lässt, erinnert an Ute Freverts Begriff des Gefühlswissens. Sie weist darauf hin, dass die Werbung „Gefühle und Passionen als Verkaufsschlager entdeckt“ habe.[8] Generation KI ist zugleich Generation Emoji, die damit Gefühle zeigt. Brachten nicht auch Schumann und Brahms ihre Gefühle in Noten und Tempi aufs Papier? Geben die Formation als Quartett mit dem „warme(n) Klang des Cellos“ und die Klavierquartette einen Wink auf eine Gefühlskultur, die nach Regeln verläuft?

 

Beim ensemble recherche mit einer ähnlichen Instrumentenformation als Kammerensemble– Violine, Viola, Violoncello, Flöte, Oboe, Klarinette, Schlagzeug und Klavier – ist das Programm anders gelagert. Chaya Czernowin, Iannis Xenakis, Johannes Maria Staud, Milica Djordejević und Christian Mason gehen mit Musik, Sprache und Text anders um. So kann man Chaya Czernowin allein schon wegen ihres narrativ-poetischen Titels eine wunderbare Erzählerin nennen. Verraten und festgelegt wird selbst mit Ayre: Towed through plumes, thicket, asphalt, sawdust and hazardous air I shall not forget the sound of von 2015 fast nichts.[9] Denn es wird nicht gesagt, welcher Klang nicht vergessen werden soll. Während sich beim Gefühlswissen anscheinend eine Emotion von einem Moment zum anderen, fast wie der Klick aufs Emoji, also einem Bildschriftzeichen, in Musik verwandeln lässt, wirft Czernowin schon mit dem Titel Fragen auf. Der programmatische Name des Ensembles verweist auf die Suche als Modus des Musizierens.

 

Chaya Czernowin erzählt und kommentiert ihre Musik gern und widersprüchlich. Es ist, als könne sie nur versprechen, was man hören könnte. Sie gibt eher zu viele als zu wenige Anknüpfungspunkte. Zum Beispiel: Ayre als altenglische Bezeichnung für Lied, dem dann die Geste einer Erzählung durch eine Aneinanderreihung von „Rauchschwaden, Dickicht, Asphalt, Sägemehl und gefährliche Luftverschmutzung“, eben dem „hazardous air“ folgt. In welchem Verhältnis steht das Ayre nun zur Aufzählung? Oder ähnelt der Titel einem Logogryph, einem Buchstabenrätsel? „Ayre“ und „air“ könnten sehr ähnlich klingen, während daran erinnert wird, dass man den Klang von … nicht vergessen soll, wurde er schon vergessen. Das „Stück“ wurde seit seiner Uraufführung am 27. Januar 2016 weit über zwanzigmal aufgeführt.[10] Wenn man der „Beschreibung“ des Stückes folgen will, geht es vor allem um „intensive(s) Schweigen“ und um eine Art Liedforschung. 

Dieses Stück mit dem langen poetischen Titel ist ein kleines Fenster, durch das man wie durch ein Mikroskop schaut, um zu sehen, was kleinste Dinge in Bewegung bringt, was Schichten von sich bewegendem Lärm oder Klängen zu einem Lied formt.[11]

 

Mit Ayre… wird das Fragen nach dem Lied formuliert. Die Komponistin geht nicht mit einem Wissen über das musikhistorische Ayre ans Komponieren, vielmehr knüpft sie an den Begriff zum Nachfragen an. Der „poetische() Titel“ wird zum visuellen „Mikroskop“ für die mikrologische Forschung nach dem akustischen Lied. Sinne und Sinnlichkeit werden von Czernowin nicht gleich in Gefühle verstrickt. Sieht man sich einmal die Partitur an, fällt auf, wie stark und genau die Erzeugung der Klänge durch Kommentare beschrieben wird. „Bass clarinet breahte dicretely, not on the beat/Piano Plastic along the string extremely slowly á --15 cm—stay on string | continue from the place where you stopped á -------15 cm---- stay | continue“[12] Wie der „Lärm oder Klang“ gemacht werden soll ist genau formuliert. Man könnte die Partitur fast den Aufbau eines Experiments nennen.

 

Bei Chaya Czernowin wird im Konzertsaal das Zuhören zu einem Mitfragen. Die Haltung gegenüber der Musik verändert sich. Roland Barthes hat einmal „ein freies Zuhören“ gefordert, weil es „ein Zuhören ist, das zirkuliert, permutiert und durch seine Beweglichkeit das starre Netz der Sprechrollen auflöst“.[13] Ein „freies Zuhören“ lässt sich nicht verorten. Es ist nicht nur angenehm, vielmehr trifft es die Zuhörer*innen. Im zweiten Teil wechselt die Komponistin wiederum den Bezugsrahmen und rückt ein „Schweigen“ in die Aufmerksamkeit und trifft den Zuhörer auch. 

„Negativer Raum“ kann hier als ein musikalisches Kontinuum gesehen werden, das eher die Vorstellung eines Raumes hervorruft als die eines Ereignisses oder eines Prozesses. Dieser Raum wird durch die musikalischen Aktionen und Klänge geschaffen und geformt, die sich krümmen und Zwischenräume intensiven Schweigens öffnen.[14]


© Simon Detel

Mit Plektá (1993) von Iannis Xenakis steht ebenfalls das Komponieren als Forschung im Vordergrund. Xenakis hat in seiner Autobiographie auf der Website des von ihm gegründeten Institute of Research on Music and Acoustic (IEMA) seine Abkehr von der Architektur und seinen politischen Aktivitäten mit einer existentiellen Notwendigkeit, Musik zu machen, erklärt. „The most important thing was that I had decided that in order to exist as a being I had to do music, otherwise I would be nothing.“[15] Das Musikmachen war für Xenakis existentiell. Gleichzeitig bestand das Musikmachen nicht in einem wiederholen von Wissensschemata in der Musik, sondern in einer „künstlerischer Forschung“. Was heißt bei ihm Forschung? Er begründet die Abkehr von seiner erfolgreichen Tätigkeit als Architekt damit, dass es „zu wenig Forschung in der Architektur“ gebe.[16]„Und ich habe mich in die Musik zurückgezogen, dort konnte ich, trotz aller Schwierigkeiten künstlerische Forschung realisieren.“ In diesem Kontext führte das ensemble recherche Plektá auf, das sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass „fünf Holzstämme“ (Weber) und drei verschiedene Arten von Trommeln neben Flöte, Oboe, Piano, Violine und Violncello zum Einsatz kommen sollen.

Der fast minimalistische Titel Plektá gibt einen Wink auf die Vieldeutigkeit von Flechte, Flechtwerk und Textur. Flechten können sich u.a. auf Baumstämmen ansiedeln und ausbreiten. Vielleicht hat der Komponist deshalb die Baumstämme als Schlaginstrumente in seine Musikerforschung eingebaut. Das ensemble recherche benutzt zwei abgeschälte dicke Baumstämme, was schon an Xenakis‘ Intention vorbeigehen könnte. Vielleicht sind sie schon zu sehr Schlagzeug im Konzertsaal geworden. Flechten befinden sich meistens auf der Rinde der Nordseite eines Baumes, weshalb sie zur Navigation dienen können. Eckhard Weber formuliert die Komposition mehr mit einem Wissen des Plektá, wenn er schreibt: 

Wie ein komplexes textiles Geflecht zu einer dichten Textur werden kann, bei dem einzelne Fadenstränge nicht mehr als einzelne wahrgenommen werden, so verbinden sich die instrumentalen Stimmen in Plektá allmählich stärker zu flächigen Strukturen. Insofern ist dieses Stück eine spannende Studie über Autonomie und Amalgamierung im instrumentalen Zusammenhang.[17]   


© Simon Detel 

Wenn man auf den botanischen Begriff der Flechte zurückgeht, dann handelt es sich bei Flechten um Pilze in einer symbiotischen Lebensgemeinschaft von einem oder mehreren Einzelpilzen auf der Borke eines Baumes oder auf einem Stein. Plektá gibt einen Wink auf das Rhizom in der Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Das Rhizom zeichnet sich wie die Flechte dadurch aus, dass es keinen Baumstamm oder Stamm des Wissens ausweist. Die Flechte bietet wie das Rhizom keine „Tiefenstruktur“.[18] Ihrer Einleitung zu Mille Plateaux„Rhizom“ stellten Deleuze und Guattari 1980 ein Notenblatt des Pianostücks XIV für David Tudor von Sylvano Bussoti voran, auf das der Komponist eine unkoordinierte Linie mit vielen Schnittstellen gezeichnet hat.[19] Die Flechte entsteht durch das Machen und Musikmachen wie ein Rhizom. Plektá lässt sich mit dem Rhizom hören und lesen. 

Ein Rhizom (…) verbindet unaufhörlich semiotische Kettenglieder, Machtorganisationen, Ereignisse aus Kunst, Wissenschaft und gesellschaftlichen Kämpfen. Ein semiotisches Kettenglied gleicht einer Wurzelknolle, in der ganz unterschiedliche sprachliche, aber auch perzeptive, mimische, gestische und kognitive Akte zusammengeschlossen sind: es gibt weder eine Sprache an sich noch eine Universalität der Sprache, sondern einen Wettstreit von Dialekten, Mundarten, Jargons und Fachsprachen.[20]      


© Simon Detel 

Mit Zwischen den Sternen (2018/2019) von Christian Mason bot das ensemble recherche eine Uraufführung, die akustisch das Zwischen im Raum inszenierte. Christian Mason hat 2012 bei George Benjamin promoviert und 2015 den Ernst von Siemens Förderpreis für Komponisten erhalten. Das Licht und die Ewigkeit spielen in seinen Kompositionen den Titeln nach mehrfach eine Rolle. Für Zwischen den Sternen setzt er ein umgestimmtes, d.h. einen Scordatura Konzertflügel ein. Der Effekt dieser Umstimmung tritt gleich mit dem ersten Anschlag des Flügels bei der Uraufführung hervor. Der Ton schwingt lang schwirrend aus. Gleichzeitig klingt der Ton leer. Er wird von anderen im Raum verteilten Instrumenten wie Bassflöte und der Violine aufgenommen, die im Radialsystem V verteilt waren. Anders als bei David Paul Graham entsteht die Musik nicht aus einem astrophysischen Wissen der Gravitationswellen, sondern aus dem poetisch wie faszinierendem Klang der Teiltonverhältnisse, der sich zwischen den Instrumenten entfaltet.


© Simon Detel 

Christian Mason hat das Stück mit dem ensemble resonanz für die Aufführungshalle des Radialsystems V in sechs Teilen als eine Art Raumklangforschung erarbeitet. Wie klingt der Raum und Zwischenraum überhaupt? Es werden sozusagen akustische Entfernungen erzeugt, die sich kaum denken lassen. Nie gehörte Klänge entfalten eine eigene Dynamik, die das Licht zwischen den Sternen nicht erklären, sondern mit einem Staunen hörbar werden lassen. Christian Mason ist ein poetisch Fragender. Zeit- und Raumfragen spielen immer wieder wie in Gérard Griseys wissenschaftlich-technisch ausgefeilten Komposition Le Noir de l’Étoile vor zwei Jahren in der Parochialkirche[21] eine wichtige Rolle in der Musikliteratur. Doch Christian Mason hat mit seiner Komposition noch einmal einen eigenen, poetischen Zugang gefunden, der das Publikum auch ein wenig atemlos machte.


© Simon Detel 

Als Komponist hat Mason wiederholt an die Literatur wie den Surrealismus von David Gascoyne angeknüpft. So ist es denn nun das Sonett XX von Rainer Maria Rilke aus dem zweiten Teil der Sonette an Orpheus, das die Titelformulierung gibt. Dem Zwischen schenkt Rilke in den Sonetten mit „Zwischending“, „Zwischenräume der Zeit“ und „zwischen den Sternen“ eine besondere Aufmerksamkeit in der Komposition der insgesamt 57 Sonette und zwei „Anmerkungen“. Es strukturiert quasi die Sonette und verknüpft in XX die Sterne mit der Entfernung der Menschen zueinander. Vielleicht gibt es deshalb bei Mason auch Klänge, die zum Beispiel an die arabische Musik erinnern können. 

Zwischen den Sternen, wie weit; und doch, um wievieles noch weiter, 

was man am Hiesigen lernt. 

Einer, zum Beispiel, ein Kind … und ein Nächster, ein Zweiter –, 

o wie unfaßlich entfernt.[22]

 

Das Unfassliche des Zwischen lässt sich mit Christian Mason hören. Lässt man sich mit der ersten Strophe des Rilke-Sonetts, das auch „als ein Grab-Mal für Wera Ouckama Knoop“ im Februar 1922 im Château Muzot „geschrieben“ worden ist, auf ein Lesenhören ein, dann wechselt vom ersten Vers zum zweiten das Szenario. Was zunächst als eine astro-logische Betrachtung des Himmels formuliert wurde, wird zu einem Gedenken des Zwischenmenschlichen, um es einmal so zu formulieren. Wie sich mit den drei folgenden Strophen des Sonetts lesen lässt, geht es dabei um eine mit stummen Fischen witzig formulierte Sprachphilosophie. Was vermag Sprache? Masons starker Bezug auf die Sterne am Himmel wird mit dem Rilke-Zitat zugleich zu einer musikphilosophischen Befragung der Menschen untereinander. 

Schicksal, es mißt uns vielleicht mit des Seienden Spanne, 

daß es uns fremd erscheint; 

denk, wieviel Spannen allein vom Mädchen zum Manne, 

wenn es ihn meidet und meint.

 

Alles ist weit –, und nirgends schließt sich der Kreis. 

Sieh in der Schüssel, auf heiter bereitetem Tische, 

seltsam der Fische Gesicht.

 

Fische sind stumm …, meinte man einmal. Wer weiß? 

Aber ist nicht am Ende ein Ort, wo man das, was der Fische 

Sprache wäre, ohne sie spricht?[23]


© Simon Detel 

An dem „Ort, wo man das, was der Fische Sprache wäre, ohne sie spricht“, entfaltet sich eine Sprache, die nicht einfach hörbar ist. Im Modus der Frage formuliert Rilke eine Sprache im Zwischen, die sich nicht einfach entschlüsseln lässt. Die Scordatura des Klaviers und der Streichinstrumente verschiebt bei Christian Mason nicht zuletzt den Ort des Hörens. Es gibt bei ihm melodiöse Passagen. Dann wieder heftige Einschläge und Zäsuren. Doch das Zuhören wird bei ihm nicht zu einem Verständnis von Licht, Zeit und Raum, vielmehr wird es zu einer Frage der Empathie. Das macht ihn derzeit zu einem der anspruchsvollsten Komponisten. Man kann das Verteilen der Musiker im Raum wie es etwa John Cage schon beim Atlas Eclipticalis 2012 vom Ensemble Modern im Kammermusiksaal praktiziert worden ist[24] oder von Rebecca Saunders, der Ernst von Siemens Musikpreisträgerin 2019, in der Akademie der Künste am Pariser Platz mit Stasis-Kollektiv aufgeführt hat[25], auch auf die Hörgewohnheiten der Zuhörer*innen beziehen. Doch es gibt ebenso eine philosophische Dimension, wie sie bei Christian Masons Zwischen den Sternen anklingt.  

 

Guardian (2017) von Chaya Czernowin ist der Cellistin Séverine Ballon als Konzert mit großem Orchester gewidmet. Die Dirigentin Simone Young leitete bei der dritten Aufführung dieser Komposition seit der Uraufführung mit dem SWR Symphonieorchester und Séverine Ballon das Deutsche Symphonie Orchester Berlin. Die Komponistin hat, wie sie vor der Aufführung im Großen Sendesaal im Gespräch mit Andreas Göbel mitteilte, konkret im Dialog mit der Cellistin das Stück ausgearbeitet. Die kreative Ausnahme-Cellistin habe ihr über Tage hinweg eigene Vorschläge vorgespielt. Sie war 2018 Stipendiatin des DAAD-Künstlerprogramms und hat an der Hochschule Hans Eisler in Berlin sowie an der Musikhochschule Lübeck Violoncello studiert. Ultraschall nennt sie im Porträt „eine furchtlose Forscherin am Violoncello“.[26] Vor knapp einem Jahr führte sie im Rahmen von MaerzMusik Time and Motion Study II für singende Cellistin und Live-Elektronik im Haus der Berliner Festspiele auf.[27]

 

Chaya Czernowin nennt ihre Komposition ausdrücklich nicht Cellokonzert, obwohl es sich um eines, wenn auch nicht im klassischen Sinne wie bei Robert Schumann oder solistisch bei Joseph Haydn oder Edward Elgar handeln könnte. Das Verhältnis des Violoncellos zum Orchester wird von Czernowin in einem anderen Modus komponiert, den man Traum nennen könnte. Das verändert die Haltung des Soloinstrumentes zum Orchester, wenn sie in ihrer Beschreibung davon spricht, was das Cello macht. 

In Guardian träumt das Cello ein Orchester – und umgekehrt. Manchmal wächst der Celloklang, bis er das Orchester in sich aufzunehmen scheint, wie ein vergrößerter Resonanzkörper. Dann wieder träumt das Orchester, ein Cello zu sein oder eine einzelne Seite oder das Ende des Bogens.[28] 

 

Die poetische Sprache, mit der Czernowin ihre Kompositionen beschreibt, spielt auf die Dimension der Theorie an. Denn die Komponistin legt sich nicht fest, indem sie semiologisch Aussagen über ihre Musik trifft. Die Komposition entsteht aus dem Musikmachen mit der Cellistin. Das Träumen des Cellos wie des Orchesters ist ein vager Modus, der sich nicht wissen lässt. So ist denn auch Guardian zunächst traumartig leise und unbestimmt angelegt. Guardian beginnt wie Ayre mit dem Atmen, wenn es in der Partitur für alle Blasinstrumente heißt: „To all winds: breathe individually when needed.“ Und das Violoncello beginnt mit einer leicht maskierten Melodie: „The melody should be heard, but slightley masked.“[29] Das ist eine sehr ruhige, leise Eröffnung, die die herkömmliche Eröffnung eines Konzerts wenigstens unterläuft. Im Traum werden die Melodien mehrdeutig und wer wen aufnimmt kann nicht entschieden werden. Der Traum ist weder vernünftig noch berechenbar.


© Simon Detel 

Als der Berliner Komponist Dieter Schnebel am 20. Mai 2018 verstarb, schrieb Chaya Czernowin eine Erinnerung an ihren Kompositionslehrer mit dem Titel „Frisch, fremd und doch so nah. Von der Kunst, die Frage an den Fragenden zurückzugeben“.[30] In diesem Artikel beschreibt sie, worin „Schnebels Arbeit bestand“, die womöglich viel mit ihrer eigenen als Komponistin zu tun hat, wenn man bedenkt, dass er sich unaufhörlich mit dem Verhältnis von Musik und Sprache befasste. Schnebel hat nicht nur Glossolalie 61 (1960-1965) oder Maulwerke (1980) und Körpersprache, Organkomposition für 3-9 Ausführende (1979/1980) als Kammermusiken komponiert. Er hat vielmehr in Anknüpfung an Heinrich von Kleists Novelle Das Erdbeben von Chili das Musiktheaterstück „St. Jago Musik und Bilder zu Kleist“ geschrieben, das 2005 im Rahmen von ultraschall in der Inszenierung von Cornelia Heger im Konzerthaus aufgeführt wurde. Insofern gibt Chaya Czernowin einen deutlichen Wink auf ihre eigene Arbeit, wenn sie an das Stück Für Stimmen (… missa est) erinnert. 

Schnebels Arbeit bestand darin, die äußeren Grenzen zu markieren und sie anschließend in einem evolutionären Akt der Selbstbetrachtung und Selbstbefragung zum Verschwinden zu bringen. Für Stimmen (... missa est) gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Material oder nach den Formen des Umgangs mit dem Material. Unaufhörlich tastend, lotet es extreme – musikalische wie nicht musikalische – akustische Situationen aus.[31]

 

Wenn Chaya Czernowin Guardian mit einer erstaunlichen Umschreibung von Algorithmen formuliert, dann geht es nicht nur um Rechenprozess, Computer und Räume. Sie macht vielmehr die Algorithmen zum Paradigma des Nicht-linearen für Sprache und Musik, wie sie anders funktionieren könnten: „Die offene Form in der auf Algorithmen basierenden visuellen Computerarbeit ermöglicht die multidimensionale Entwicklung von Objekten auf eine Weise, die nicht linear ist, da jederzeit der ein oder andere Parameter der Gestalt in den Vordergrund tritt und die Gesamtform beeinflusst. Auf diese Weise denkt das Konzert.“ Erfassen lässt sich „das Konzert“ damit noch nicht. Er wäre womöglich eine falsche Haltung, das Konzert erfassen zu wollen. Aber es gibt einen Wink wie sich Träumen, Algorithmen und Denken bei Chaya Czernowin überschneiden. Dafür muss man dann Guardian hören. 

 

Torsten Flüh 

 

Sendetermine ultraschall-Konzerte 

Abschlusskonzert 

Kulturradio vom rbb 

Konzert 

03.02.2019, 20.04 Uhr (Mediathek) 

 

Notos Quartett 

kulturradio vom rbb 

Musik der Gegenwart 

13.02.2019, 21.04 Uhr 

 

Ensemble recherche 

Kulturradio vom rbb 

Musik der Gegenwart 

20.02.2019, 21.04 Uhr  

 

Solo-Recital Séverine Ballon 

Deutschlandfunk Kultur 

Konzert 

Dienstag, 19. Februar 2019, 19:05 Uhr 

 

Kulturradio vom rbb 

Musik der Gegenwart 

Mittwoch, 27. März 2019, 21:04 Uhr

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[1] Salvador Dalí: The Swallow’s Tail (1983). (Wikipedia)

[2] Siehe blogforscherinnen: MEISTERHAFT JUGENDLICH. In: metaihrblog 12. Januar 2018.

[3] Morton Feldman zitiert nach: Eckhard Weber: Morton Feldman: Four Instruments. In: Deutschlandfunk Kultur (Hg.): ultraschall berlin. Berlin 2019, S. 42.

[5] Zur Relativitätstheorie und Gravitation siehe auch: Torsten Flüh: Gravitation statt Geist. Zu 100 Jahre Relativitätstheorie von Albert Einstein und dem Film Interstellar. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. November 2015 19:02.

[6] Siehe Eckhard Weber: David Paul Graham: Gravity. In: Deutschlandfunk Kultur (Hg.): ultraschall … (wie Anm. 3) S. 43.

[7] Notate des Berichterstatters aus dem Gespräch von Antonia Köster und Philip Graham mit Andreas Göbel am 18.01.2019 im Radialsystem V.

[8] Ute Frevert u.a.: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Frankfurt. New York: Campus, 2011 S. 9.

[9] Siehe Eckhard Weber: Chaya Czernowin: Ayre: Towed through plumes, thicket, asphalt, sawdust and hazardous air I shall not forget the sound of In: Deutschlandfunk Kultur (Hg.): ultraschall … (wie Anm. 3) S. 48.  

[10] Siehe Schott „Aufführungen“ Ayre: Towed through plumes, thicket, asphalt, sawdust and hazardous air I shall not forget the sound of (Schott)

[12] Ebenda siehe Partitur.

[13] Roland Bathes: Zuhören. In: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1990, S. 262.

[14] Schott wie Anm. 10.

[15] Iannis Xenakis: Autobiography [1975] IEMA.

[16] Iannis Xenakis zitiert nach Eckhard Weber: Iannis Xenakis: Plektá. In: Deutschlandfunk Kultur (Hg.): ultraschall … (wie Anm. 3) S. 49.

[17] Ebenda.

[18] Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Berlin: Merve, 1992, S. 23.

[19] Siehe ebenda S. 11 (unnummeriert).

[20] Ebenda S. 17.

[21] Siehe: Torsten Flüh: Musik der Zeit zwischen Wissenschaft und Kreativität. Walter Smetak, Alvin Lucier und Gérard Grisey bei MaerzMusik 2017. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. April 2017 21:36.

[22] Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus. Leipzig: Insel, 1923. (Wikisource)

[23] Ebenda.

[24] Vgl. Torsten Flüh: Komponieren mit dem I Ging. Junge Deutsche Philharmonie und Ensemble Modern spielen John Cage im Kammermusiksaal. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. September 2012 19:12.

[25] Vgl. Torsten Flüh: Klangraumerkundung. Zur Uraufführung von Rebecca Saunders Stasis-Kollektiv mit dem Ensemblekollektiv Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. November 2016 17:12.

[26] Siehe ultraschall Solo-Recital Séverine Ballon (ultraschall)

[27] Siehe Torsten Flüh: Raum und Zeit der Flucht. Das Konzert Zeitgeist und der Film Chauka, Please Tell Us the Time auf dem Festival MaerzMusik 2018. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. März 2018 19:50. 

[28] Schott: Chaya Czernowin: Guardian: Beschreibung.

[29] Chaya Czernowien: Gardian: Vorschau.

[30] Chaya Czernowein: Frisch, fremd und doch so nah. In: Die Zeit 23. Mai 2018, 17:02 Uhr.

[31] Ebenda.

Wie Menschen versklavt werden - Zu Rodd Rathjens Buoyancy als Weltpremiere in der Sektion Panorama und die Berlinale Kamera für Wieland Speck

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Panorama – Sklaverei – Australien

 

Wie Menschen versklavt werden 

Zu Rodd Rathjens Buoyancy als Weltpremiere in der Sektion Panorama und die Berlinale Kamera für Wieland Speck 

 

Es sind harte Bilder. Irrwitzig heiß müsste es sein. Und es müsste nach Fisch stinken. Doch das olfaktorische Kino wird es vielleicht nie geben, ebenso wenig ein klimagenerierendes. Kino besteht darin, dass Klima und Geruch hinter den Bildern bleiben. In Buoyancy spielen Hitze und Fischgestank eine existentielle Rolle. Das Kino schützt uns vor allzu existentiellen Erfahrungen. Der vierzehnjährige Chakra (Sarm Heng) ist versklavt worden. Er wollte nur endlich von seinem Vater, einem Reisbauern, weg und eigenes Geld in der Fabrik verdienen. Jetzt gehört er dem chinesischen Kapitän Kea. Der junge australische Regisseur Rodd Rathjen hat einen Film über moderne Sklaverei auf Fischkuttern in Südostasien gedreht.

 

Der Spielfilm Buoyancyüber Sklaverei im Pazifik läuft in der von Manfred Salzgeber gegründeten Sektion Panorama der Berlinale. Das Panorama feiert sein 40jähriges Jubiläum – „Kino mit Langzeitgedächtnis“. Das Panorama hat nicht nur die Berlinale verändert. Es hat in gewisser Weise die Welt des Films und des Filmemachens beeinflusst. Ganz zu schweigen davon, dass es der internationale Schauplatz für den queeren Film geworden ist. Nach dem Tod von Manfred Salzgeber 1994 an den Folgen von AIDS übernahm Wieland Speck nicht nur das Panorama, vielmehr beriet er Dieter Kosslick, der in Hamburg ein Europäisches Low Budget Forum gründen wollte. Das verriet Kosslick tief bewegt erstmals bei der Verleihung der Berlinale Kamera an Wieland Speck am Sonntag im Meistersaal.  

 

Übrigens spielt ein Gestank in Fatih Akins Der Goldene Handschuh ebenfalls eine entscheidende Rolle. Aber das Kinopublikum muss ihn nicht riechen. Doch zu Akins Film- und Großproduktion – Warner Brothers – später. Panorama war also immer eher Low Budget. Nicht auszuschließen, dass es ein Low Budget Film in den Wettbewerb schafft oder schaffte in den letzten 40 Jahren Berlinale, doch das Panorama mit seinem Kurator Wieland Speck setzte andere Schwerpunkte wie etwa mit dem Film Yè (The Night) des chinesischen Jungregisseurs Zhou Hao bei der Berlinale 2014, der von der breiten Öffentlichkeit kaum, wohl aber von NIGHT OUT @ BERLIN als Die No-Budget-Überraschung wahrgenommen wurde. Paz Lázaro und Michael Stütz, die neuen, jungen Kurator*innen, haben diesen Film mit 12 weiteren unter Hunderten der 40 Jahre für eine kleine Retrospektive ausgewählt. wird noch einmal am Mittwoch, den 13. Februar um 19:15 Uhr im Kino Arsenal 2 gezeigt.[1]

 
Screenshot Buoyancy-Trailer (Torsten Flüh)

Buoyancy ist kein No-Budget-Film. Vielmehr wurde er von der australischen Filmförderung so professionell betreut, dass Rodd Rathjen durch seine Casting-Agentin Sarm Heng in Kambodscha für die Rolle des Chakra fand, der zunächst im Drehbuch auf sechszehn vom Alter her angesetzt war.[2] Es kommt dem jungen Regisseur auf eine gewisse Überschneidung von Realität und Spielfilm an. NGOs wie der Global Slavery Index machen seit Jahren auf die Sklaverei in der thailändischen Fischereiindustrie aufmerksam. Nach dem Global Slavery Index ist die Versklavung von Wanderarbeitern aus Kambodscha und Myanmar bzw. Burma in der thailändischen Fischereiindustrie gut dokumentiert.  

Zum Beispiel wurden Berichte über moderne Sklaverei in der thailändischen Fischereiindustrie durch investigativen Journalismus und zunehmend qualitative und quantitative Forschung gesammelt. Diese Forschung hat wichtige Einblicke in die verschanzte Natur und das Ausmaß des Problems in Thailands Fischwirtschaft und in seiner Region geliefert. So ergab eine Studie des Issara Institute und der International Justice Mission aus dem Jahr 2017, in der die Erfahrungen kambodschanischer und burmesischer Fischer zwischen 2011 und 2016 in Thailand untersucht wurden, dass 76 Prozent der Wanderarbeiter in der thailändischen Fischerei in Schuldsklaverei arbeiteten und fast 38 Prozent wurden in diesem Zeitraum gehandelt.[3]  

 
Screenshot Buoyancy-Trailer (Torsten Flüh)

Das Risiko in Deutschland von der Sklaverei in der thailändischen Fischreiindustrie, wo mit Wanderarbeitern Handel getrieben wird, ist nach dem Global Slavery Index hoch. Anders gesagt: Wissen Sie, woher das Sheeba Fischmenu für Ihre Katze kommt? Katzen- und Hundefutter ist, wenn man dem Global Slavery Index für 2018 folgt, ein globales Geschäft. Sehr wahrscheinlich kommt das Fischmenu aus der Dose nicht aus Ost- oder Nordsee, sondern aus dem Pazifik, wo kein Qualitätsfisch, sondern Beifang von Sklaven in der prallen Hitze auf im wahrsten Sinne des Wortes thailändischen Seelenverkäufern im Akkord für Hund und Katz in blaue Plastiktonnen aussortiert wird. Dokumentarische Filmaufnahmen von dieser Arbeit gibt es kaum. Die thailändischen Fischerboote fangen weit außerhalb der nationalen Fangzonen. Wie man und tatsächlich fast ausschließlich männliche Jugendliche und junge Männer Sklave wird, versucht Rodd Rathjen mit Buoyancy zu erzählen und zu zeigen.


Screenshot Buoyancy-Trailer (Torsten Flüh) 

Im Kino, im CineStar 3, ist die Leinwand groß genug, um bestürzende und beeindruckende Bilder beispielsweise von der Weite der See in glitzernder Hitze mit einem winzigen Fischerboot zu generieren. Das ist kein Film für das Wohnzimmer. Diese Bilder brauchen mehr Fläche und lassen sich auch nicht einfach auf dem Laptop oder der Google-Brille ansehen. Es ist Kino. Wohnzimmer und Datenbrille schrumpfen, was sich im Kino kaum aushalten lässt. Das gilt zunächst einmal für das Meer – Kamera: Michael Latham. Heute dreht man solche Einstellungen vermutlich einfach mit einer Drohne. Das schrottreife Fischerboot als eine abgeschlossene Welt. Die Generation-Stream und Flat-Screen schrumpft sich das Schwer-auszuhaltende zurecht, was vielleicht angenehmer ist, aber nicht nur das Kino zerstört. Buoyancy sollte man also wirklich wegen dieser Kinobilder sehen. Keine Rettung nirgends. Kein Messenger. Kein Smartphone. Nicht einmal wechat. Nichts nur Meer, Wasser, Wellen und sengende Hitze.


Screenshot Buoyancy-Trailer (Torsten Flüh) 

Das Casting hat mit Sarm Heng einen faszinierenden jungen Khmer-Schauspieler gefunden. Der Film wird in Khmer, Thai und Burmesisch mit englischen Untertitel gezeigt. Khmer sprechen kein Thai oder nur wenig. Burmesen sprechen kein Khmer und kaum Thai. Das existentielle Problem, sich kaum verständigen zu können, gehört zum Setting der Sklaverei. Denn sie ist eine Armutserscheinung, zu der die Sprachlosigkeit gehört. Rodd Rathjen hat diese Ebenen der Voraussetzung für Sklaverei, durch die drei Sprachen sehr genau nachgezeichnet. Sklaverei lebt von der Sprachlosigkeit der Sklaven. Chakra will weg. Er hat nicht einmal Schuhe, wenn er gegen andere Jungs mit richtigen Schuhen Fußball spielt. Das wird fast unspektakulär in Szene gesetzt, so dass man es übersehen könnte. Wahrscheinlich haben es viele Kinobesucher selbst bei der Berlinale übersehen. Denn Sarm Heng als Chakra ist sehr hübsch. Beim Fußballspielen hört er davon, dass er in einer Fabrik arbeiten könnte. Jetzt oder nie...

 

Der Weg in die Sklaverei sozusagen an der Fabrik vorbei wird von Rathjen, der auch das Buch geschrieben hat, gut recherchiert genau skizziert. Wer kein Geld hat, um die Arbeiterschmuggler zu bezahlen, wird an einen weiteren Menschenhändler verkauft. Dadurch sind Chakra und die anderen Männer zuletzt beim Schiffskapitän verschuldet. Sie haben ihm Geld gekostet. Sie sind ausweglos in seiner Schuld. Verschuldung durch Arbeitsplatz könnte man das nennen. Chakra und ein weiterer, etwas älterer Khmer haben das sehr schnell verstanden. An Bord müssen sie von morgens bis abends schuften bei kargen Reisrationen. Die Logik der Sklaverei setzt nicht auf den Erhalt der Arbeitskräfte oder ihre Freilassung, sondern auf ihre maximale Ausbeutung. Wer entkräftet ist oder krank wird, geht mit einem kleinen Stoß des Kapitäns über Bord. Nichts wird geschehen. Die Logik der Sklaverei in der thailändischen Fischereiindustrie gehorcht den Gesetzen eines globalen Kapitalismus.

 

Chakra ist ein aufgeweckter Junge, so dass der Film unglücklicherweise in einen Coming of Age-Film kippt. Die Bedingungen auf dem Seelenverkäufer sind zwar von größter Brutalität und bald ist Chakra wirklich ganz auf sich allein gestellt, um auch noch von den burmesischen Sklaven unter Druck gesetzt zu werden. Aber dann findet man sich plötzlich irgendwie in William Goldings Lord of The Flies. Chakra wird - weiterhin sehr hübsch und fotogen ins Bild gesetzt - zum Killer und zum … Mann. Das ist dann wohl doch der Twist gewesen, der den Film aus dem Wettbewerb gekickt hat. Man kann verstehen, dass der Regisseur und sein Kameramann wohl selbst irgendwann von ihrem Star völlig fasziniert waren. Sarm Heng zeigt beachtliche darstellerische Qualitäten. Aber es dreht, die Sklaverei-Frage leider viel zu effektvoll um. Insight Global Slavery lässt sich schlecht in einen hübschen Coming of Age-Film drehen. Das ist dann leider doch ein Erzählmodell, das wie bei William Golding anno 1954 noch funktionieren konnte, heute aber anders behandelt werden sollte.

 

Sklaverei in Zeiten der Globalisierung, wenn die Katze in Australien oder Berlin-Wedding das Fischmenu braucht, ist eine Frage der Kapitalismuskritik. Sie kann nur als Coming of Age-Film scheitern. Soviel Ehrlichkeit muss dann doch im Kino sein. Es ist letztlich ein wenig schade, dass Rodd Rathjen und der australische Filmfonds offenbar das Gefühl hatten, dass sich Kapitalismuskritik mit einem Film über das Erwachsenwerden kombinieren ließe, um für ein wichtiges Thema Aufmerksamkeit zu bekommen. Kino ist immer eine Frage der Genres. Doch Buoyancy, zu Deutsch mehrdeutig Auftrieb bis hin zu Beschwingtheit, Lebhaftigkeit, Frohnatur, verfehlt das zunächst so gut recherchierte Kapitalismusproblem. Erzählt wird nach einem Schema, das genau die Implikationen verdeckt, die The Global Slavery Index aufzudecken versucht. Sklaverei beginnt beim billigen Katzenfutter in Dosen aus dem Supermarkt um die Ecke! - Weltpremiere auf der Berlinale in der Sektion Panorama gilt allerdings als Auszeichnung, was auch der exklusive Empfang im Meistersaal deutlich machte.  

Das Panorama der Berlinale hat in den letzten 40 Jahren Vielfalt generiert. Und das fing durchaus mit der tonlosen Schmalfilmkamera in 16mm von Rosa von Praunheim oder Lothar Lambert etc. an.[4] Der Schmalfilm hatte schon deshalb eine geringe Reichweite, weil das Kopieren zeitaufwendig und teuer war. Nix Copy and Paste oder Stream and Share. Später sichtete Wieland Speck im New Yorker Hotelzimmer Video-Kassetten, die schon eine Tonspur hatten. Dieter Kosslick hörte in seinem Hotelzimmer nebenan entsetzt intime Geräusche. Es klang echt, wo es wenige Jahre zuvor keinen Ton gegeben hatte. So oder so ähnlich erzählte es Dieter Kosslick auf dem Empfang für die Gäste und Filmcrews der Sektion Panorama in der Köthener Straße. Kuratiert wird das Panorama zwar mittlerweile von Paz Lázaro und Michael Stütz, aber beide sparten nicht mit ihrem Dank an und ihrer Bewunderung von Wieland Speck.

Wieland Speck erhielt nun also die Berlinale Kamera sozusagen für das Panorama. Seit 1986 als Gina Lollobrigida, Giulietta Masina, Sydney Pollack und Fred Zinnemann die ersten Berlinale Kameras erhielten, wurde sie alljährlich an Personen und Institutionen vergeben, die sich um die Berlinale verdient gemacht haben. Das wird man nun wohl allemal von Wieland Speck sagen dürfen. Neben Ulrike Ottinger, Juliane Lorenz, Monika Treut, Mahide und 49 Filmcrews war denn auch Ingrid Caven zur Kameraverleihung gekommen. Die sehr persönliche Laudatio hielt Rajendra Roy, Chefkurator für Film des MoMa, New York. Ohne Wieland Speck wäre Rajendra Roy anscheinend nicht geworden, was er ist. Wird es die Berlinale Kamera und das Panorama 2020 geben? Der Wechsel des Festivaldirektors findet mit dem Ende der diesjährigen Berlinale statt, weshalb die Berlinale sicher ein anderes Gesicht, womöglich eine andere Struktur erhalten wird. 

 

 

Die Berlinale mit ihren sich ständig erweiternden Foren - Forum Extended - ist das größte Publikumsfilmfestival der Welt nicht zuletzt durch Wieland Speck und Dieter Kosslick geworden. Fasziniert von der Filmindustrie haben sie Plattformen geschaffen für andere Produktions- und Sichtweisen. Die Filmindustrie und die Kinos stecken als Kulturformate in der Krise. Doch Wieland Speck, der vor allem als Regisseur durch seine versteckte Schmalfilmkamera mit Westler (1985) berühmt wurde, hat seine Kamera immer dorthin gehalten, wo andere nicht hinschauten. Für einen schwulen, halbdokumentarischen Spielfilm, der in West- und Ost-Berlin spielt, hätte er in der DDR niemals eine Drehgenehmigung erhalten. Deshalb steckte er seine Kamera in eine Tasche und drehte illegal in Ost-Berlin. Manchmal kristallisiert sich an ganz kleinen Details die große Filmgeschichte heraus.

 

 

Der Panorama-Publikumspreis gehört mittlerweile zu den renommierten Preisen der Berlinale. Denn es sind genau diese institutionellen Verschiebungen, die das Panorama ausmachen. Sie lassen sich als kleine Schritte einer institutionellen Selbstermächtigung formulieren. Die häufig für das breite Publikum schwer nachvollziehbaren Entscheidungen im Wettbewerb durch die illustre (Fach-)Jury können mit einer Abstimmung selbst erprobt werden. Denn Abstimmung fallen auch in Jurys selten einstimmig aus. Es handelt sich um Prozesse von Demokratie und Konsensbildung, die immer wieder neu erprobt werden müssen. Wenn das Panorama in dieser Ausgabe mit dem AIDS-Film Buddies von 1985 als „Langzeitgedächtnis“ zeigt, wie das Kino immer wieder tabuisierte Thema frühzeitig, vielleicht gar vorausschauend aufgegriffen hat, dann wird damit nicht nur Wieland Specks Schaffen gewürdigt. Damit werden vielmehr die Notwendigkeit des Panoramas und seine demokratische Existenzberechtigung dokumentiert. 

 

Torsten Flüh 

 

Buoyancydd Rathjen 

Mittwoch 13. Februar 19:15 Uhr Kino Arsenal 2 

 

Panorama

Programm 2019

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[1] Siehe Pressemitteilung PANORAMA 40: Ein Rückblick in die Seele des Programms. (10.12.2019)

[2] Siehe Datenblatt: Berlinale 2019: Buoyancy. (Datenblatt)

[3]Übersetzung Torsten Flüh aus: The Global Slavery Index 2018 Findings Importing Risk Fishing.

[4] Siehe dazu z.B.: Torsten Flüh: Das Sprechen im Kino. Zu Lothar Lamberts Sein Kampf und Rosa von Praunheims Filmen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Januar 2013 21:14. 


F**k Puppenhaus oder was heißt Kino? - Zu Fatih Akins Der Goldene Handschuh im Wettbewerb der Berlinale

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Druck – Mythos – Angst 

 

F**k Puppenhaus oder was heißt Kino? 

Zur Weltpremiere von Fatih Akins Der Goldene Handschuh im Wettbewerb der Berlinale 

 

Wenn all das Schreckliche passiert ist, das blutiger und brutaler gezeigt wird, als Fritz Honka es jemals hätte erzählen können, legt sich über den Abspann eine Umdichtung von Terry Jacks Megahit Seasons in The Sun von 1974. Auf „We had joy, we had fun, we had seasons in the sun“ reimt sich für FM Einheit nun „Du musst raus aus dem Puppenhaus …“. Seasons in The Sun klang so locker und flockig, so nach heiler Welt im Sonnenschein, dass ein knapp Zwölfjähriger dabei vom Strand in Kalifornien träumte. Der Soundtrack aus Knochensägen und Schlagerglückseligkeit könnte der Schlüssel sein zu Fatih Akins Film Der Goldene Handschuh. Zumindest während der Weltpremiere verließen etliche prominente Damen im Parkett wenigstens zeitweilig das Filmtheater. Marius Müller-Westernhagen, Wim Wenders und Shermin Langhoff hatten sich wie 1751 Andere bei restlos ausverkauftem Berlinale Palast von der Vorberichterstattung nicht abschrecken lassen.

  

Es geht also recht heftig zur Sache mit dem Jungdarsteller Jonas Dassler als entstellten, schielenden, humpelnden, saufenden Serien-Frauenmörder Fritz Honka. Kein Film für Frauen, wie Akin selbst sagt, und schwache Nerven, aber vielleicht deckt er an einigen Stellen doch intime Mechanismen auf, über die der Mörder selbst niemals sprechen konnte. Dabei ist Der Goldene Handschuh keinesfalls ein um Verständnis ringendes Biopic. Niemand hat Fritz Honka morden gesehen. Niemand außer den Frauen und Honka war dabei, wenn er mit einer blöden Holzsäge, einem Fuchsschwanz, zu sägen begann. Auf der Anklagebank im Hamburger Landgericht wirkte er 1976 „ganz manierlich“, wie meine Großmutter gesagt hätte. Honka wurde gar nach 15 Jahren Haft entlassen und starb am 19. Oktober 1998 im Ferienort Scharbeutz an der Ostsee in einem Altenheim.

 

Der Goldene Handschuh ist ein zutiefst verstörender Film, der sich schwer einem Genre zuordnen lässt, weil er kein „Horror-Thriller“ ist. Die erste Sequenz, noch bevor der Titel eingespielt wird, beginnt nach dem ersten Mord. Die Leiche muss weg. Die Leiche ist ein keinesfalls schöner Frauenkörper. Wie kriegt Fritz die Leiche weg? Filmschnitt, Einstellung und Ton machen eines klar: Augen zuhalten gilt nicht, das Sägegeräusch lässt noch viel schrecklichere Bilder aufsteigen. Nur wenn man sich die Einstellung als solche ansieht, wird die Szene halbwegs erträglich. Denn sie zeigt nur einen Bildausschnitt, der durch den Ton ergänzt wird. Gesprochen oder geschrien wird hier überhaupt nicht, aber der Ton macht das „ganze“ Bild oder die Imagination. Das ist Kino. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass jemals mit so großer Ruhe und verstörend vorgeführt wurde, was Kino heißt.

 

Fritz Honka hat bei Fatih Akin, der auch das Buch nach dem Roman von Heinz Strunk geschrieben hat, keine soziologische Vorgeschichte. Er ist der nackte Mörder. Es gibt keine erklärenden Rückblenden in die schwierige Kindheit Honkas etwa, wie sie beispielsweise im Prozess und in den Zeitungen erklärt wurde und neuerlich den „Mensch hinter der Filmfigur“ beschreibt.[1] Der Verzicht auf erklärende Rückblenden ist eine klare Haltung in dem grausamen Film. Mörder und Morde werden serienmäßig durch Rück- und Zwischenblenden erklärt, weil das Morden im Film sonst kaum auszuhalten wäre. Nach gewisser Zeit fällt bei Akin vielmehr eine leichte Überzeichnung an der Figur Fritz Honka auf. Was macht ihn zum Monster, als das er dargestellt wird? – Die Angst vor Entdeckung, was auch immer das heißen könnte, wächst an, wird unermesslich groß.

  

Die Angst-Logik nimmt bisweilen komische Züge an. Er zersägt die Leichen, um sie loszuwerden. Doch damit sind sie noch nicht weg. Körperteile der ersten Frauenleiche bringt er mit einem Koffer auf einem Hinterhofparkplatz und wirft sie einzeln in eine Hecke. Als er zurückgeht, erschrickt sich Honka fast zu Tode, wenn ein Fahrradfahrer ihn beim Schritt auf den Bürgersteig fast anfährt. Der Mann wird von seinen Ängsten regiert und paralysiert, das zeigen Fatih Akin und Jonas Dassler recht präzise. Statt einer biographischen Milieustudien, müssen sie sich auf eine Angststudien geeinigt haben. Die Angst schraubt Fritz Honka hoch. Er säuft und mordet in einer Welt aus Angst. Bumsen, wie er es in der Vernehmung, laut Hamburger Morgenpost, nannte, konnte er schon wegen der in einem Zug geleerten 0,75-Liter-Flaschen Oldesloer Doppelkorn nicht mehr. Dass in der Seitenstraße zur Reeperbahn Hamburger Berg mehr oder besser „gebumst“ wurde, gehört zu den Mythen und Selbsterzählungen von Männern, die aus Angst und vom Alkohol keinen mehr hochbekamen. Stattdessen greift Honka im Film zum Kochlöffel und zur Knackwurst. 

 

Auf dieser Ebene stellt sich bei den bestialischen Mordszenen plötzlich Sinn ein. Was von Fritz Honka und an anderen Orten über ihn als Erfüllung von Maskulinität erzählt wurde, wird bei Fatih Akin zum Horror des Kontrollverlusts. Deshalb ist die fast witzige Fahrradszene durchaus eine ernsthafte Schlüsselszene. Honka hatte sich so sehr erschrocken, dass er fortan die Leichen zersägte, in blaue Müllsäcke verschnürte und in die Hohlräume seiner winzigen Dachgeschosswohnung ohne Bad oder Dusche versteckte. Gewaschen wird sich am kleinen Waschbecken in der Küche. Um den verräterischen Gestank nicht aus der Wohnung zu lassen, dichtete er seine Fenster mit Klebeband ab. Natürlich wurden auch Türen zu den Hohlräumen mit braunem Paketklebeband verklebt. Ein Lustmörder war Akins Serienmörder ganz bestimmt nicht. Er mordete brutal aus nackter Angst. Doch woher kommt die Angst? Wohin wird sie verschoben? Wie tritt sie im Film dramaturgisch auf?  

 

Der Gestank, wie es wiederholt im Film von den Frauen und einem Arbeitskollegen, aber auch vom Nachbarn der Wohnung unter Honkas genannt wird, war der penetrante Verwesungsgeruch, den die anderen nicht einordnen konnten. Gerda Voss, die zu Honka für kurze Zeit eine Art Vertrauensverhältnis aufbaut, schonungslos gespielt von Margarethe Tiesel, putzt nach einer Nacht im Suff die Wohnung und versprüht Raumspray. Sie entkommt Honka durch Zufall. In den 70er Jahren sprach man von ihr als Stadtstreicherin, während man sie heute eine Obdachlose nennen würde. Der Gestank von verwesenden Leichenteilen, Zigarettenrauch, ungeputzter Toilette, vergossenem Doppelkorn, ungewaschenen Haaren und schwitzenden Körpern bleibt dem Zuschauer erspart. Die Boxerkneipe Zum Goldenen Handschuh war lange Zeit ein mythischer Ort. Der goldene Handschuh war nämlich ein Boxhandschuh und der Boxsport auf der Reeperbahn überhaupt ein Mythos von Manneskraft, Zuhälterei und Prostitution.

 

Wenn Olaf Wunder in der Hamburger Morgenpost schreibt, dass Honka als Hilfsarbeiter im Hafen und als „Nachtwächter“ im Shell-Neubau in der City Nord arbeitete, um abends in „Spelunken“ herumzulungern, dann ist das euphemistisch. Es regierte der Suff im Goldenen Handschuh und das von morgens an. Den Suff nennt man heute Alkoholismus, der als Krankheit eingestuft wird. Doch für Honka und seine Saufkameraden wie Doornkaat Max (Hark Bohm) ging es Anfang der 70er Jahre darum, sich wegzutrinken. Die Suffromantik am Tresen und an der Jukebox war niemals wirklich schöntraurig, sondern immer nur katastrophal. Aber es soffen in solchen Kneipen wenigstens nur deutsche Männer unter sich. Wer sich als Frau hinein traute in diese Männerarbeiterwelt, lieferte sich ihnen aus. Stadtstreicherinnen, Alkoholikerinnen, alte und geschlechtskranke Prostituierte. Es fehlte eigentlich nur noch der Gestank von kaltem Zigarettenrauch, Korn und billigem Bier, um Akins Filmbilder noch unerträglicher zu machen.

 

Die Klientel im Goldenen Handschuh wird als rein deutsches dargestellt. 1974 war der Suff deutsch. Das dürfte Fatih Akin durchaus interessiert haben. Denn der Gestank in seiner Wohnung wird von Honka ganz automatisch den griechischen Nachbarn und dem Kochen mit Knoblauch zugeschrieben. Als das Haus in der Zeißstraße schon brennt, heißt es im Film, dass die Griechen den Grill nicht abgestellt hätten. Historisch ist wohl richtig, dass ein Nachbar, dessen Strom wegen säumiger Rechnungen abgestellt war, mit einer Kerze das Feuer verursacht habe. Anders gesagt: Es sind immer wieder Ton und Text bei aller Brutalität, die einen Wink geben. Fatih Akin hat keine Sozialstudie in der Tradition des Neuen deutschen Film gedreht. Aber er hat mit Bildern, die sich kaum aushalten lassen, einen Film über die Bundesrepublik Deutschland produziert. Honka ist das Monster dieses Deutschland.

 

Außer Margarethe Tiesel treten die anderen Schauspielerinnen der Opfer wohl auch aus Scham nicht deutlicher in Erscheinung. In den Mordszenen ist viel nackte und durchaus unappetitliche Haut zu sehen. Der Sex wird so dargestellt, dass er gerade noch bei Warner Brothers und Pathé durchgeht. Die Mordszenen sind so ziemlich das mutigste, was eine Schauspielerin zeigen kann. Und zwar nicht, weil der Kopf auf dem Wohnzimmertisch zertrümmert wird oder drei Schnapsflaschen nacheinander im Gesicht von Frida (Martina Eigner-Archeampong) zerschmettert werden, sondern weil sich diese Schauspielerinnen natürlich mit viel Maske (Maike Heinlein, Daniel Schröder, Lisa Edelmann) trauen, verwahrloste, zerschundene, ausgebeutete Körper zu zeigen. Die Bilder berühren die Scham des Kinozuschauers, der eigentlich lieber wegsehen würde und sich so beim Wunsch des Wegschauens erwischt sieht.

 

Die Männlichkeit und Potenz werden von Fatih Akin als eine Tortur inszeniert. Fritz Honka und die Erwartungen an ihn als Mann spannen ihn auf die Folter. Sein Dachzimmer, da ist die Überzeichnung, ist nicht mit Seiten aus Sexmagazinen versehen, es ist damit hundertfach tapeziert. Wenn er Frida f**ken soll, muss er ständig zwischen den Wichsvorlagen und dem Körper hin- und herrennen. Er kann nicht. Stattdessen beginnt er, Frida ins Gesicht zu schlagen. Die Tortur entspringt der nackten, panischen Angst, als Mann zu versagen. Das ist entlarvend. Er hat gar nicht „gebumst“, wie er es nach den Polizeiaussagen nennt. 1974 wird man das an den stark verwesten Leichenteilen auch kaum noch haben feststellen können. Insofern wird in diesen Mordszenen, die Männlichkeit fast schon auf feministische Weise vorgeführt und entlarvt.

 

Der unerträgliche Druck, als Mann agieren und funktionieren zu müssen, macht Honka nicht einfach zum benachteiligten Außenseiter, sondern zum Monster. Er verkörpert eine weiße Männlichkeit, die in ihm zur verzweifelten Machtphantasie mutiert ist. Wirkliche Empathie für Honka lässt Akin auch in dieser Szene nicht aufkommen. Aber die Katastrophe der Angst, der Versagensangst, die gewiss eine gesellschaftliche in einer Leistungs- und Erfolgsgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland ist, liegt vor der Explosion der Brutalität gegen die Frau als Sexualobjekt. Fatih Akin und sein Darsteller Jonas Dassler agieren nicht psychologisch. Dass Dassler wirklich höchst beeindruckend schielt wie Honka und sich häufig wie Quasimodo, einem anderen liebenden Monster der Filmgeschichte, bewegt, gibt einen Wink aufs Kino und Geschichte. Der Druck ist kein irgendwie natürlicher, männlicher Trieb, er ist durch und durch gesellschaftlich bzw. kulturell.

 

Den Sound zu allem Zigarettendunst und all den Schnapsfahnen liefern Adamo mit Eine Träne geht auf Reisen, Heintje, Mama …, und Freddy Quinn, Junge komm bald wieder... Das ist nicht nur Zeitkolorit im Splattermovie, sondern die Signatur einer Sehnsuchtskultur wie sie nicht zuletzt mit der Jukebox verbreitet war. In der Kneipe weint jede und jeder für sich im Suff dazu. Adamo war mit seiner Sehnsuchtsträne keinesfalls auf Deutschland begrenzt, sondern wohl eher ein europäisches Sprachphänomen. Die Träne aus der Jukebox reiste auf Französisch, Spanisch, Englisch, Deutsch und sicher ja Italienisch. Aber im Goldenen Handschuh war Adamo deutsch. Was nicht deutsch war, wurde eingedeutscht. Sogar Terry Jacks sang nicht ganz akzentfrei auf Deutsch „In den Gärten der Zeit blüht der Wein der Fröhlichkeit/Lebe ihn, leb darin, wenn ich nicht mehr bei Dir bin.“ Als Kanadier hatte Jacks natürlich extreme Schwierigkeiten mit den ganzen rs und dem ch.  

 

Die Musik für Der Goldene Handschuh hört sich nur an wie die Originale. Aber sie ist verrutscht, verarbeitet, verdichtet. FM Einheit hat sie nämlich beigesteuert. Das gibt wiederum einen Wink, dass es Fatih Akin mit seinem verstörenden Film ernst ist. Denn FM Einheit hat beispielsweise den Sound für den Film Die Narbe von Burkhard von Harder geliefert, der 2015 im Rahmen von MaerzMusik mit Live Akustik im Kraftwerk Mitte während The Long Now aufgeführt wurde.[2] FM Einheit schob Steinschutt geräuschvoll über ein Blech, hämmerte auf Schutt. Auch die Zusammenarbeit mit Jakob F. Schokking für dessen Inszenierung von Falk Richters Unter Eis 2009 in Kopenhagen spricht für Ambitionen. 1987 hatte er mit den Einstürzenden Neubauten den Sound für Peter Zadeks Hardcore-Musical Andy am Hamburger Schauspielhaus geliefert. Frank-Martin Strauß und Fatih Akin haben da also etwas an Seasons in The Sun rumgebastelt, wenn eigentlich alles schon passiert ist. Es ist ein Kommentar und das „Puppenhaus“ ist boshaft mehrdeutig.

 

Einerseits ist das Puppenhaus eine, sagen wir, kindliche Mädchenidylle. Andererseits sprachen (und sprechen?) Männer von Puppen, wenn sie Prostituierte meinen. Puppenhaus ist ein wiederkehrender Name für Bordelle. Und lagerte Fritz Honka seine Leichenteile nicht auch wie Arme und Beine etc. von Schaufensterpuppen in blauen Säcken in den Nischen seiner winzigen Wohnung? Wenn Der Goldene Handschuh kein Film für Frauen ist, ist er dann einer für Männer? Fritz Honka kommt als Mann nicht gerade beneidenswert weg. Überall Pinups in der Wohnung, kriegt aber keinen hoch, um es einmal so zu formulieren. Jonas Dasslers Fritz Honka ist nicht zuletzt ein Freak.[3] Und Fatih Akin inszeniert ihn mit der ausladenden, detaillierten Brutalität als Freak. Unter der Maske, die durchaus als Maske erkennbar bleibt, sagt Akin selbst im MoMa ins Mikrophon, ist Jonas Dassler „hübsch“. Auf dem Berlinale Portrait, dem Roten Teppich und beim Signieren ist er nicht nur „hübsch“, sondern auch frech, wenn er auf dem Porträt die Zunge ausstreckt und statt unter dem Foto auf der Zunge signiert.

 

In einigen Momenten bricht diese jugendliche Frechheit an die Oberfläche der Maske Fritz Honka. Die Morde sind tragisch und traumatisch. Aber die Begegnung mit dem Schulmädchen Petra (Greta Sophie Schmidt) als angedeutete Rahmenhandlung bekommt einen Zug ins Satirische. Honka bietet Petra Feuer an, als sie am Kiosk eine Zigarette rauchen will. Und er flippt vor Eifersucht, Gier und Geilheit fast aus, als Petra mit einem Klassenkameraden in den Goldenen Handschuh kommt. Da gibt es wieder diese grandiose Überzeichnung. Petra wird von einem Zuhälter angemacht, der ihr eine Ausfahrt mit dem „Daimler“ andrehen will, „alle lieben Daimlers“. Daimler ist der Code des Wirtschaftswunders. Und Petra sieht eh schon aus wie die Mädchen aus den Softpornos der Schulmädchen-Report-Filme der 70er Jahre. Wollten nicht alle Jungs und Männer ein Mädchen wie Petra?

 

Ständig werden den Männern in Der Goldene Handschuh die Wünsche und Katastrophen der Maskulinität der 70er Jahre im Modus der Überzeichnung vorgeführt. Damit knüpft Fatih Akin an ein Stilmittel der Satire an. Der grausige Film wird letztlich zu einer subtilen Satire auf das Bild der Männlichkeit in den 70er Jahren der Bundesrepublik Deutschland. Für Fatih Akin und Jonas Dassler dürfte diese Vorstellung von Männlichkeit einigermaßen fremd sein. Noch Ende der 80er Jahre galten allerdings Besuche im Goldenen Handschuh als Mutprobe. Und die Frauen, die Fritz Honka bestialisch umgebracht hatte, kamen weder in den Erzählungen von Männern noch von Frauen gut weg. Die hatten das kaum anders verdient, um es im Jargon der Zeit zu formulieren. Doch wenn es überhaupt Empathie für jemanden in diesem Film gibt, dann sind sie es. Als Frida am Morgen, nachdem Honka ihr Gesicht im Bett blutig geschlagen hat und er schon wieder in Rage gerät, kräftig zwischen die Beine tritt, jubelte für einen Moment das Publikum der Weltpremiere im Kino auf. 

 

Torsten Flüh 

 

Fatih Akin 

Der Goldene Handschuh 

Ab 21. Februar 2019 im Kino 

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[1] Vgl. dazu Olaf Wunder: Serienmörder Fritz Honka. Der Mensch hinter der Filmfigur. In: Hamburger Morgenpost 10.02.19, 22:23 Uhr.

[2] Siehe Torsten Flüh: Jetzt als Zeitfrage. The long Now von MaerzMusik im Kraftwerk Mitte. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. April 2015 10:09.

[3] Zum Freak vgl.: Torsten Flüh: The Freaks' Coup. The Tiger Lillies Freakshow im Varieté Wintergarten. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. September 2010 22:03. 

Vaterkonflikte und Heimatlosigkeit - The Boy Who Harnassed The Wind und Synonymes auf der Berlinale

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Bildung – Heimat – Familie  

 

Vaterkonflikte und Heimatlosigkeit 

The Boy Who Harnassed The Wind und Synonymes auf der Berlinale - Goldener Bär 

 

Was haben die Filme The Boy Who Harnassed The Wind und Synonymes gemeinsam? So gut wie nichts. Der eine Film spielt im südostafrikanischen Malawi in einem Dorf, der andere in Paris. Der Konflikt mit dem Vater im christlich-animistischen-muslimischen Dorf in Malawi wird produktiv gewendet. In Synonymes wird ein Konflikt mit dem Vater in Israel wiederholt angesprochen, bleibt aber ungewiss, worin er genau besteht. Beide Filme haben einen halb biographischen Hintergrund. William Kamkwamba aus Malawi und Bryan Mealer haben den gleichnamigen Roman als Vorlage für den Film 2009 veröffentlicht. Nadav Lapid lebte in Israel und flüchtete quasi nach Paris, um nun einen Film über sein Erfahrungsgemenge zu drehen. – Als der Berichterstatter mit der Besprechung begann, war noch nicht abzusehen, dass Synonymes den Goldenen Bären der Berlinale 2019 erhalten würde.

 

Der Spielfilm lässt sich als ein Erzählmedium verstehen, was in Anbetracht ganz unterschiedlicher Erzählstrategien in den beiden Filmen besonders interessant wird. Es beginnt immer mit der Kamera, wie erzählt wird. Während The Boy Who Harnassed The Wind mit einer konventionellen Semantik der Einstellungen von Dick Pope (Kamera) erzählt wird, folgt Shai Goldman in Synonymes Yoav (Tom Mercier) mit einer Smartphone-Kamera-Ästhetik sehr dicht bei der Ankunft als Rucksacktourist in Paris. Wie bei airbnb liegt der Schüssel zu einer bürgerlichen Pariser Wohnung unter der Fußmatte. Die Wohnung ist luxuriöse und leer, vielleicht 3. oder 9. Arrondissement. Der diskrete Charme der Bourgeoisie. Fensterläden. Das Warmwasser im Bad ist abgestellt.


© Ilze Kitshof / Netflix

Die Heimat und das Heimliche sind ein weiterer Aspekt in beiden Filmen auf gegensätzliche Weise. Die Heimat als Zuhause im ärmlichen Dorf in Malawi sind erst einmal intakt. William (Maxwell Simba) wird von seinen Eltern und der älteren Schwester geliebt und behütet. Endlich darf er zur Schule gehen und bekommt die Schuluniform in angelsächsischer Tradition von der Schwester auf das Bett gelegt. Das Erwachsenwerden beginnt. William repariert an Schrottradios herum und bekommt sie wieder zum Laufen. Sein treuester Begleiter ist eine Hündin. Er hilft dem Vater beim Anbau von Mais auf dem Feld. Die Frauen machen den Haushalt und agieren als starke Persönlichkeiten. Die Welt im Dorf ist anfangs in Ordnung. – Seine Weltpremiere erlebte The Boy Who Harnassed The Wind am 25. Januar auf dem Sundance Festival in Utah.


© Ilze Kitshof / Netflix 

Der Film nach dem gleichnamigen Roman mit dem deutschen Titel Der Junge, der den Wind einfing: eine afrikanische Heldengeschichte (2010) beim RM Buch und Medien Vertrieb GmbH, das ist der ehemalige Bertelsmann Lesering, soll Mut machen. So  er wurde der Roman beispielsweise von Bernhard Gusenbauer auf seinem Blog „Motivationsgeschichten“ im Februar 2013 besprochen.[1] Diese Kontextualisierung des Romans gibt einen Wink auf die Erzählweise, die sich bereits mit der intakten Welt von Familie und Dorf ankündigt. Die amerikanische Originalversion stand 2009 mehrere Wochen in der Bestsellerliste der New York Times. Nun kommt der Bestseller als Produktion von BBC und Netflix – „Ein Netflix Film“ – also in den Stream und nur ausnahmsweise auf die Leinwand.[2] Der „unbegrenzte Film- und Serienspaß“ (Netflix) für den Bildschirm, das Tablet oder das Smartphone.


© Ilze Kitshof / Netflix 

Erfolg heißt heute Netflix. Das ist ebenso verstörend wie einleuchtend. Die Europäische Erstaufführung am Dienstagabend im Friedrichstadt-Palast des Films in der Regie von Chiwetel Ejiofor und in einer Special Gala-Aufführung im Haus der Berliner Festspiele am Donnerstag boten großes Kino mit zwei sehr großen Leinwänden. Vorerst wird der Film mit englischen und deutschen Untertiteln gezeigt, weil über weite Teile Chichewa gesprochen wird, neben Englisch die zweite Amtssprache in Malawi. Die Filmcrew und der Autor waren zu Pressekonferenz und zur Erstaufführung angereist. Am Donnerstag im Haus der Berliner Festspiele trotz Gala-Status waren sie nicht mehr anwesend. Die große PR-Maschine hat auch ihre Grenzen. Mit Maxwell Simba haben die professionellen Großproduzenten einen 13jährigen hochtalentierten Hauptdarsteller gefunden. Anders gesagt: Das Casting ist heutzutage global professionalisiert.


© Screenshot und Ausschnitt TF.

Der Konflikt mit dem Vater wird als einer von Bildung und Tradition erzählt. Einerseits besticht der Film durch eine hohe Authentizität des Schauplatzes Masitala in Malawi, wo es keine Schule gibt. Andererseits wird eine bilderbuchartige Bildungsgeschichte erzählt, die durch Hartnäckigkeit an der kriminellen Regierungspolitik vorbei zum Erfolg führt. Als nach einer Regenperiode eine anhaltende Dürre mit Hungersnot ausbricht, fehlt das Geld für den Schulbesuch und der Vater (Chiwetel Ejiofor) fordert die zwecklose Hilfe auf dem Acker von seinem Sohn ein. Die Dramaturgie funktioniert ein wenig zu perfekt mit diversen Seitensträngen. Am Schluss hat William durch ein amerikanisches Buch über Windkraft und Gegenständen vom dörflichen Schrottplatz ein Windrad gebaut. Die Felder lassen sich bewässern. Der Hungertod ist abgewendet. Der Vater willigt in einen weiterführenden Schulbesuch ein. NGO-Erzählung, Selbstermächtigung und Afrikaromantik funktionieren ein wenig zu perfekt. Während Williams Freund mit ein Ventilatorblatt wie im Fitnessclub Kraftübungen macht, findet William die Rettung im Schrott. 


© Ilze Kitshof / Netflix 

Chiwetel Ejiofur hat in seinem ersten Langfilm-Regie-Debut mit viel Charm die Erfolgsgeschichte in Szene gesetzt. Bildung und Hartnäckigkeit können zu einer Veränderung der Lebensbedingungen im ländlichen Raum Afrikas führen. Um es einmal deutlich zu formulieren, Chiwetel Ejiofur macht alles richtig, um einen dramatischen Erfinder- und NGO-Film für Afrika hervorzubringen. Doch die visuelle Erzählweise lässt keine Irritationen zu. Der Bildungsroman als Film kennt keine Abweichungen von der schulmäßigen Semantik der Einstellungen. Dass Der Junge, der den Windeinfing zu einer „Motivationsgeschichte“ wurde, erweist sich bereits als ambivalent. Mit Eigeninitiative und Bildung lassen sich vorgeblich alle Probleme lösen. Der Vaterkonflikt wird ins Produktive gewendet. Bestätigt wird nicht zuletzt mit dem Buch aus Amerika dessen technologische Vorreiterrolle. Die Geschichte wird zum Leitfaden.

 

Das Bestechende wie das Verstörende an Synonymes wird vor allem an der Kamera und dem Schnitt deutlich. Die visuelle Erzählung zieht den Betrachter in eine Wahrnehmung hinein, die zwischen katastrophischer Orientierungslosigkeit und Surrealismus schwankt. Den Schnitt hat Era Lapid, die während der Produktion verstorbene Mutter von Nadav Lapid, der auch der Film gewidmet ist, überaus unkonventionell gehalten. Es sind harte, kontrastreiche Schnitte, mit denen eine geschlossene Semantik aufgebrochen wird oder sich nicht mehr herstellen lässt. An den Stills lässt gerade die innovative Kamera nicht ablesen. Wenn man beginnt, die Geschichte des Films zu erzählen, dann ist vielleicht das eigentliche Faszinosum schon verschwunden. Der Film ist keinesfalls nur die Identitätskrise einer jungen Generation von Israeli. Denn die Bilder produzieren eine unabschließbare Ambiguität. 


© Screenshot und Ausschnitt T.F.

Das Surreale in Synonymes verdankt sich nicht zuletzt der Montage. Nicht das Wahrscheinliche, sondern das Unwahrscheinliche passiert. Vor aller Erklärung ist es erst einmal eine für junge Menschen ganz nahe airbnb-Wirklichkeit, die sich in immer weiteren Drehungen in einen Albtraum verkehrt. Entweder man bekommt durch airbnb Kontakt zu den Vermiertern, oder alles bleibt maximal anonym bis ins Unheimliche. Welch Rucksacktourist fände es nicht prima, im urbanen Zentrum von Paris in einer riesigen, leeren Wohnung zu übernachten? Doch dann werden Yoavs Sachen komplett gestohlen, so dass er völlig nackt und mittellos wird. Der Betrachter kann an diesem Punkt nicht wissen, ob hier eine autobiographische Realität oder bereits eine surreale Metaphorik einsetzt. Yoav ist schließlich nackt und mittellos wie fast alle Flüchtenden auf dieser Welt. Der souveräne airbnb-Tourismus verkehrt sich in einen Albtraum.


© Guy Ferrandis / SBS Films 

Nachdem – wenn man einmal zu erzählen ansetzen will – Yoav ebenfalls wie fast alle Flüchtenden der Welt an diverse herrschaftliche Wohnungstüren des Hauses mit großem Entrée geklopft, geklingelt und gedonnert hat, kehrt er zurück in die Wohnung und erfriert fast in der Badewanne. Doch, welch Glück, Émile und Christine finden ihn, retten ihn und legen ihn unter eine luxuriöse Felldecke, für die er nicht einmal eine französische Benennung kennt. Es ist kaum etwas „realistischer“, als dass man in einem derartigen Haus in Paris auf die jungen Erben eines Industriellen trifft. Émile ist gelangweilt, versucht sich als Schriftsteller und bekommt Yoavs Geschichte geschenkt, weil er sie für sich wertlos findet. Yoav erhält dafür einen Designer-Mantel und überflüssige Designer-Hemden von Kenzo. Gleichzeitig dreht sich die mögliche Geschichte des Films noch einmal. Ist Yoav nur ein Pechvogel, der Glück hat, oder spielt seine Heimatlosigkeit auf eine existentielle homeliness und das Unheimliche an?[3]


© Guy Ferrandis / SBS Films

Die Kamera rennt und sucht mit Yoav als Protagonisten. Sie flieht und stürzt. Doch das geschieht nicht nur als Reaktion auf eine Krise. Vielmehr befindet sie sich mitten in der Krise, so wie Yoav zwar mit Hilfe eines gebundenen Wörterbuchs Französisch sprechen will, ohne dass er einen vernünftigen Satz zustande bringt. Das Wörterbuch wirkt im Zeitalter von Smartphone und Google-Translator ein wenig antiquiert. Émile und Christine könnten ebenso gut aus einem Stück von Arthur Schnitzler entsprungen sein, wie dass es sie real in Paris geben könnte. Die Schnitte und Blicke lassen eine geschlechtliche Eindeutigkeit völlig offen. Ob Yaov zuerst mit Émile oder Christine ins Bett geht, bleibt ebenso unentschieden, wie die Hassliebe zu Frankreich, zu Paris und der Französischen Sprache. Yoav stellt sich vor Notre Dame mit seinem Bildungswissen. Ist fasziniert und gleichzeitig fremd. Aber das Gleiche gilt für Israel. Kämpft Yoav mit einem Kriegstrauma. Hat er einen Terroristen durchlöchert? Antworten gibt Nadav Lapid nicht.


© Guy Ferrandis / SBS Films 

Tom Mercier schafft es auf höchst faszinierende Weise mit größter Vertrautheit, die maximale Fremdheit zu spielen. Bei maximaler Beteiligung ist er minimal involviert. So gibt er eine Anzeige auf, um als Model zu arbeiten. Weil er einen wirklich hübschen, kräftigen Körper hat, der permanent in Szene gesetzt wird, bucht ihn ein homosexueller Fotokünstler, der ihn zu pornografischen Gesten auffordert. Yoav folgt den Anweisungen völlig unbeteiligt und unerregt. Sex und Porno lassen ihn wie womöglich heute eine ganze Generation kalt. Wer seit frühester Jugend Porno aus dem Netz kennt, erkennt darin kein Versprechen mehr von Freiheit. Der Körper als Objekt scheint ihm kaum zu gehören. Er spricht Worte und Sätze, die nicht zu ihm gehören. Sind es Störungen, Traumata aus dem israelischen Militärdienst? Oder werden Flüchtende nicht sehr schnell in den Gastländern zu Sexualobjekten? - Nicht nur am rechten Rand entstand um 2015 ein neues Pornogenre mit Flüchtenden.


© Guy Ferrandis / SBS Films 

Vielleicht hat Nadav Lapid mit Synonymes ein neues Genre der surrealistischen Satire auf Israel und Frankreich erfunden. Was ist Identität? Denn der israelische Staat kommt als militaristischer Albtraum vor, in dem die Mütter und Väter glücklich sind, wenn die Söhne und Töchter zum Militärdienst vereidigt werden. Das wird von hübschen Soldatinnen mit einem fröhlichen Halleluja-Schlager besungen. Und am Schluss knallt die Unterarmprothese des Offiziers ins Bild. Israel ist eben nicht nur der tolle Strand von Tel Aviv mit Eurovision Song Contest und Gay Pride, sondern das kollektive Traum in einem Staat voller Wunden zu leben. Yoavs Großvater, so erzählt er es, sprach Jiddisch und musste in seiner Heimat erst einmal Hebräisch lernen. Die Sprache als Erfahrung von Fremdheit. Das Trauma heißt Israel. Doch die blutrünstige Marseilles verwirft Yaov schließlich als Alternative. Der Integrationsunterricht oder wie es im Englischen heißt naturalisation wird zur Entlarvung der Machtstrukturen.


© Guy Ferrandis / SBS Films 

Die sprachliche Beschädigungen und Sprachlosigkeit spiegeln sich in der Kameraführung und den semantischen Fetzen. In der israelischen Botschaft erkennen sich die Angehörigen der Spezialeinheit daran, dass sie trotz Anzug erst einmal aufeinander losgehen. Ein merkwürdiges Männlichkeitsritual, das ebenso kindisch wie homoerotisch wirkt. Und als der Vater aus Israel den Sohn auf der Straße im Bastille-Viertel sprechen will, weiß er selbst nicht, was er außer Floskeln sagen soll. Der Film wird von einer existentiellen Sprachlosigkeit und Wut strukturiert. Die Wut auf Israel. Der Vater-Sohn-Konflikt artikuliert sich in einer Weise, die keine Sprache findet. Als Roman hätte Lapid den Film kaum schreiben können, ohne sofort zum Skandal zu werden. In Frankreich und Israel hätte man den Film Synonymes vermutlich umgehend skandalisiert. In Berlin hat er nun den Goldenen Bären durch die Jury mit Juliette Binoche als Präsidentin verliehen bekommen.

 

Torsten Flüh 

 

The Boy Who Harnessed The Wind 

Chiwetel Ejiofur 

Sonntag, 17.02. 10:00 Uhr Berlinale Palast

 

Synonymes 

Navad Lapid 

Sonntag, 17.02. 9:30 Uhr Zoo Palast 1 

                       22:30 Uhr Kino International 

_______________________  



[1] Bernhard Gusenbauer: William Kamkwmba – Das Windrad, eine afrikanische Heldengeschichte. In: ders.: Motivationsgeschichten 11. Februar 2013.

[2] Der Junge, der den Wind einfing (Netflix)

[3] Zur homeliness und dem Unheimlichen vergleiche auch: Torsten Flüh: Survival – Überleben. Homi K. Bhabhas Hegel-Lecture in der Freien Universität Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Januar 2010 23:40. 

Teddys, Lovers und Trans-Hip-Hopper - Zum 33. Teddy Award mit Prominenz und Politik im Rahmen der 69. Berlinale

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Party – Filmfestspiele – Politik 

 

Teddys, Lovers und Trans-Hip-Hopper 

Zum 33. Teddy Award mit Prominenz und Politik im Rahmen der 69. Berlinale 

 

Prominenz und Roter Teppich können einmal anders genutzt werden, wenn nicht nur immer die gleichen Leute vor der Wand mit den Hauptsponsoren fotografiert werden. Es gibt sehr unterschiedliche Darstellungsweisen auf dem Roten Teppich. Die Schüchternen und die Frechen, die Professionals und die Jurys, die Hübschen und die Grellen, die Sponsoren und die Stars, die Aktivisten und die Ikonen. Es gibt auch welche, denen die Fotograf*innen gar kein Blitzlicht schenken. Einige laufen fast vorbei, andere sehen im Blitzlicht eine harte Währung auf dem Markt der Eitelkeiten. Roter Teppich ist z.B. für Heidi Klum Business. Doch dann sind da noch junge, ehrenamtliche Helfer*innen von der Berliner AIDS-Hilfe, die nur zusammen fotografiert werden wollen: Berliners play safe. Kings play safe.    

 

Die 33. Teddy Award Ceremony fiel für die Community politischer aus, als viele Male zuvor. Erstens rappte ein iranischer Trans-Hip-Hopper gegen den IS, zweitens hielt eine wodkatrunkene chinesische Regisseurin eine zensurpolitische Dankesrede und drittens rückte Shermin Langhoff mit ihrer Laudatio auf Falk Richter, dem Special Teddy Awardy 2019, so manchem heimischen AfD-Wahlbären auf den Pelz. Der Wodka war ein lederschwuler Tom of Finland-Kartoffelschnaps, der zunächst in rauen Mengen gratis ausgeschenkt wurde. Später wurde mit Campari Orange und Negroni für den Teddy Award Verein gesammelt. Mit dem Roten und dem Grünen Salon sowie den Foyers eignet sich das Haus der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz prima für kleinteiligere Partys, was die Teddy Award Party gleich heimlicher machte.

 

Jede der dreiunddreißig Preisverleihungen ist einmalig gewesen. Doch in diesem Jahr wurde sie allein schon deshalb einzigartig, weil Wieland Speck als langjähriger Leiter der Sektion Panorama auf den Internationalen Filmfestspielen von Berlin verabschiedet wurde. Statt eines Mega-Teddys erhielt er von seinen Mitstreiter*innen und Zazi de Paris einen schmissigen Chanson. Und er designierte Berlinale Direktor ab 2020, Carlo Chatrian, saß immerhin in der 2. Reihe im Parkett, was zumindest eine gewisse Themensensibilität vermuten lässt. Wieland Speck wurde mit der Berlinale Kamera und der Dankzeremonie auf fast schon ein wenig unheimliche Weise gefeiert. Doch ein bisschen Lebenswerk erwartet die Community schon noch.

 

Die Medienwelt um die Teddy Award Ceremony verändert sich. Wurde die Teddy Award Ceremony 2014 aus der Komischen Oper noch auf Arte übertragen und in der Mediathek vorgehalten[1], so wurde sie in diesem Jahr auf Facebook und Twitter gestreamt. Vermutlich wird es später noch ein Video auf dem Teddy Award Channel bei YouTube geben. 2018 war die Teddy Award Ceremony bereits politischer ausgefallen, weil sich in Brasilien ein massiver Rechtsruck abgezeichnet hatte. Mittlerweile ist der frauen-, schwulen- und transfeindliche sowie rassistische Populist Jair Bolsonaro im Oktober zum Präsidenten gewählt und am 1. Januar 2019 ins Präsidentenamt eingeführt worden. Die Veränderungen in der Medienpraxis wie im Medienangebot verschieben die Medienwelt. Zuspitzungen, Vereinfachungen und schlicht kapitalistisch geleitete Falschinformationen haben Wahrnehmung und Politik verändert.

 

In dem Maße wie sich der Teddy Award und dessen Preisverleihungszeremonie mit Live-Acts durch Pics, Videos, Interviews und Reportagen ins Internet verlagert haben, ist die Initiative transparenten, zugänglicher und diverser, aber auch unübersichtlicher geworden. Instagram, Facebook, Twitter und YouTube, TeddyTV und TeddyBlog generieren eine Flut an Bildern, Hashtags und Informationen, die sich kaum noch wahrnehmen lassen, aber jederzeit an jedem Ort der Welt zugänglich sind. Neben den Identifikationsträger*innen wie Rosa von Praunheim, Wieland Speck, Ulrike Ottinger, Monika Treut, Elfi Mikesch und Ralf König springen permanent neue Aktivist*innen ins Bild. Vom Fernsehsender hat sich der Teddy Award in die Social Media verlagert.

 

Die Medienvielfalt des Teddy Award lässt sich beispielsweise in dem Gespräch von Zsombor Bobák mit Nadav Lapidüber die Muskulosität, den Körper und die Kamera in Synonymes (Goldener Bär 2019) beobachten.[2] Das Teddy Award Interview thematisiert nicht zuerst Israel und Paris, sondern den Körper, Nacktheit, Sexualität und Kamera, was den meisten Filmkritiker*innen entgangen ist. Der queere Blick auf Filme generiert andere und frühzeitige Wahrnehmungen. Synonymes war von Anfang an im Programme Guide für „(a)ll queer Films at the 69th Berlin International Film Festival“ gelistet. Queerness in Synonymes betrifft das ganze Ensemble der Identitätsfragen in diesem Film, denn in gewisser Weise verhält sich die Kamera queer. Sie bietet kein identitätsstiftendes Framing, vielmehr stolpert, überschlägt, flüchtet, kollidiert sie mit den Akteuren oft, sagen wir, hautnah.

 

Die Live-Acts der Zeremonie wurden wie die Preisvergaben in diesem Jahr wieder von Jack Woodhead mit Witz und Charme auf High Heels moderiert. Seit Jahren sind die exzellenten, queeren Artisten um Markus Pabst das Herzstück der Veranstaltung. Diesmal hatte der Regisseur und Macher von z.B. Der helle Wahnsinn im Wintergarten Varieté[3] Hugo Duquette aus Montreal sowie Mona & Laura aus Hamburg eingeladen. Mit dem iranischen Trans-Rapper Säye Skye und Sam Vance-Law kamen zwei exzellente, engagierte, queere Künstler hinzu. Mit dem sehr eingängigen Gayby hat Sam Vance-Law 2018 eine Art queeres Kinderlied komponiert und auf einigen Festivals gesungen.[4]

 

Gayby setzt eine queere Familie mit Kind in Szene, das „will you be my gayby“ von „me and your daddy“ bis zum Erwachsenwerden begleitet wird.[5] Mit poetischer Liedelastizität hat der Singer-Songwriter für sein Album Homotopia ein positives Modell für den schwulen Song entwickelt. Es ist sicher kein Zufall, dass Sam Vance-Law mittlerweile in Berlin lebt und seine Songs fürs Album auf der Rügen vorgelagerten Insel Ummanz geschrieben hat. Die Leichtigkeit korrespondiert mit der Farbigkeit von Norbert Biskys Musa Tropicana für das Cover von Homotopia. Das utopisch-queere Lebensgefühl zwischen Berlin und Ummanz wird vom Sänger in einer Feelgood-Tonlage gesungen. Doch Sam Vance-Lance trat auch im November mit Get Well Soon bei Neo Magazin Royale auf.[6] 

 

Säye Skye bringt mit TNE einen völlig neuen Hip-Hop hervor. Denn hip hop culture gilt als homo- und natürlich transphobisch. Deshalb ist es sehr spannend wie Säye Skye in der Eröffnungssequenz den von Hip-Hoppern abwertend benutzen Begriff bitch für eine Frau zitiert und wendet. Mit seinem Look zitiert er ebenfalls den Stil der Hip-Hopper, um ihn anders zu wenden und letztlich in Farsi zu rappen. Die queere Transformation des Hip-Hops wendet sich gerade mit einem Begriff wie bitch gegen den abwertenden Sprachgebrauch im Westen wie in der fundamentalistisch-islamischen Welt des IS. Dient bitch im Englischen doch seit 1400, also dem Mittelalter, um die Bezwingung, Herrschaft und Nutzung einer Frau (oder eines homosexuellen Mannes) durch einen Mann zu beschreiben.[7] Anders gesagt: epistemologisch dient der Begriff dazu, eine Superiorität der Männlichkeit kenntlich zu machen.

 

Konstruktionen von Geschlechter- und Machtverhältnissen spielen nicht zuletzt in den queeren Filmen des Teddy Award eine entscheidende Rolle. Die Machtverhältnisse unter den Geschlechtern werden aufgedeckt oder so wie in der Rede von Markus Pabst satirisch auf den Kopf gestellt. Pabst verlas seine Rede, ganz Artist der Machtverhältnisse, in diesem Jahr kopfüber mit den Füßen am Trapez hängend. Wie wäre es denn, wenn plötzlich Homosexualität oder Diversität die Norm sind und sich Heterosexuelle für ihre Orientierung outen müssen? Dabei geht es weniger darum die Machtverhältnisse nur umzudrehen, vielmehr sollen diese allererst kenntlich gemacht und vermieden werden. Das ist ebenso witzig, wie auch ein wenig peinlich.     

 

Shermin Langhoff, Intendantin des Gorki Theaters, hielt eine engagierte Laudatio auf Falk Richter als Special Teddy Awardy. Sie war in Begleitung von Mehmet Ateşçi, der in Small Town Boy von Falk Richter spielt[8], gekommen. Und ließ sich mit ihm von dem Aktivisten, Moderator und Partner Falk Richters, Alfonso Pantisano, auf dem Roten Teppich fotografieren. Shermin Langhoff erinnerte an den Hays Code, mit dem seit 1922 die Darstellung von Homosexualität im Hollywood-Film nur in diffamierender Weise stattfinden durfte. Zwar wird im Motion Picture Production Code nicht ausdrücklich Homosexualität als verboten benannt, aber bestimmte mehrdeutige Ausdrücke durften nicht vorkommen und Homosexualität musste wie in Alfred Hitchcoks Rope (1948) musste so besetzt und geschnitten werden, dass erstens zwei eher unbekannte, homosexuelle Schauspieler Farely Granger und John Dall schließlich die Rollen der homosexuellen Mörder übernehmen und zweitens die Mörder mit psychopathischen Zügen kenntlich gemacht werden mussten.

 

Die Erinnerung an die lange und modifizierte Wirkung des Hays Codes im us-amerikanischen Film gegen Homosexuelle durch Shermin Langhoff war eine wichtig. Der Motion Picture Production Code, der von Will H. Hays und von 1934 bis 1954 von Joseph Breen aus- und bearbeitet wurde, war ein konservatives, rassistisches, sexistisches und nationalistisches Regelwerk, das sehr wohl Bild und Sprache bis zum Lippenlesen formte und zensierte. Dadurch konnten keine Rollenmodelle für positive Darstellungs- und Erzählweisen entwickelt werden. Gegenüber früheren Phasen wurde der amerikanische Film dadurch naturalisiert. So war beispielsweise verboten, weiße Menschen als Sklaven vorkommen zu lassen. Die Selbstkontrolle der amerikanischen Filmindustrie entwickelte so ein ausgeklügeltes Regelwerk, um die Superiorität des weißen Mannes nicht nur zu sichern, sondern allererst herzustellen und abzusichern.[9] 

 

Shermin Langhoff machte mit ihrer Laudatio deutlich, dass die Filmproduktion und das Theater nicht etwa Gesellschaft darstellen. Vielmehr produzieren sie Bilder und Geschichten, die entweder geschlechtliche Machtverhältnisse im Sinne von Rasse, Herkunft, Abstammung, Sexualverhalten und Klasse erzeugen und bestätigen oder diese entlarven und positive Perspektiven aufzeigen. Wie allerdings an Falk Richters Small Town Boy deutlich gemacht wurde, gibt es nicht nur einen positiven Entwurf vom schwulen Leben in der Großstadt Berlin.[10] Entscheidend allerdings ist, dass die Auseinandersetzung damit überhaupt ermöglicht wird. Langhoff erinnerte auch an die verstörende Erfahrung, dass viele Schwule sich als Wähler der AfD zugewandt haben, die ihnen vermeintlich Schutz bietet.

 

Es besteht nicht der geringste Anlass auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin das Politische in den queeren Filmen aus dem Ausland zu suchen. Politisch wurde der Teddy Award in diesem Jahr insbesondere mit der Verleihung des Special Teddy Award an Falk Richter und mit der durchdachten Laudatio von Shermin Langhoff. Das Politische ist nicht da draußen, sondern mitten in der Community, die bis hin zu katholischen Konvertiten und AfD-Wählern aus Islamophobie in Deutschland alles an politischen Verirrungen und Korruption zu bieten hat. Der Teddy Award und die Teddy Award Foundation haben sich insofern klar positioniert. Filme anschauen, ohne sich über staatliche Zensur und kapitalistischer Selbstzensur Gedanken zu machen, sollte klar überdacht werden.

 

Das Panorama und der Teddy Award ermöglichen nicht zuletzt mit Popo Fan und dem Teddy Jury Award für A Dog Barking at the Moon von Xiang Zi Zensurbedingungen sichtbar und kritisierbar zu machen. Xiang Zi sagte in ihrer Dankesrede, die sie mit dem Hinweis auf ihren Wodkakonsum schützte, dass sie in ihrem Skript für die Zensurabteilung das chinesische Wort für „lover“ und nicht das für „boyfriend“ gebraucht habe. Der Zensor habe sich wahrscheinlich nicht denken können, dass der Lover des Familienvaters ein „boyfriend“ sein könnte. Ob Popo Fan und Xiang Zi ohne weiteres in der Volksrepublik China weitere Filme werden drehen können, bleibt derzeit offen. 

 

Torsten Flüh

 

PS: Alle Dankesreden können schon jetzt auf https://www.youtube.com/user/TeddyAwards/videos angesehen werden.

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[1] Siehe: Torsten Flüh: Glamourfaktor und Gesellschaftskampf. Zur 28. Teddy Award Gala in der Komischen Oper und auf Arte. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Februar 2014 22:43.

[2] Teddy Award: Interview with Director Nadav Lapid on ‘Synonymes’ 14.02.2019.

[3] Siehe ausführlicher: Torsten Flüh: Artistical grandissimo. Der helle Wahnsinn im Wintergarten-Varieté. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. Juli 2014 21:16.

[5] Ebenda.

[6] Get Well Soon & Sam Vance-Law feat. RTOEhrenfeld - "Nightmare No. 2" | NEO MAGAZIN ROYALE Am 15.11.2018 veröffentlicht.

[7] Siehe dazu Bitch auf Wikipedia.

[8] Siehe: Torsten Flüh: Geschlecht, Wahn und Wirtschaft. Zu Small Town Boy von Falk Richter im Gorki und dem Special Teddy Award. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2019 18:54.

[9] Siehe Motion Picture Production Code (Wikipedia)

[10] Siehe in Torsten Flüh: Geschlecht … [wie Anm. 8] 

Für eine Kulturforschung der Sexualitäten - Zu Tim Blannings neuer Biographie FRIEDRICH DER GROSSE. König von Preußen.

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Sanssouci – Biographie – Sexualität 

 

Für eine Kulturforschung der Sexualitäten 

Zu Tim Blannings neuer „Biographie“ FRIEDRICH DER GROSSE. König von Preußen. 

 

Das Literaturgenre der akademischen Biografie ist tot. – Der Verlag C. H. Beck untertitelt FRIEDRICH DER GROSSE König von Preußen mit „Eine Biographie“. Denn der emeritierte Professor für Neuere europäische Geschichte an der Universität Cambridge hat 2015 bei Allen Lane in London seine große und umfassende Biografie zu Friedrich II. vorgelegt, für die er von der Sunday Times als „ideale(r) Biograph()“ gefeiert wurde – „The Victorians loved Frederick the Great, but a new study lays bare his dark side“.[1] Nun ist die deutsche Ausgabe erschienen, die unlängst in der ZEIT von der Biografin Maria Theresias, Barbara Stollberg-Rilinger, für die „souveräne() Distanz“ und die „feine() Ironie“ gelobt worden ist. Stollberg-Rilinger betont vor allem, dass erstmals die „Homosexualität des Monarchen akribisch“ im Format einer Historikerbiografie „in den Blick“ gerückt werde.[2] Wie gelingt Tim Blanning die Inklusion der „Homosexualität“ in die Biografie der einst nationalen Leitfigur?

 

In dieser Besprechung wird das biografische Buch mit Fotos von einer Exkursion in das noch winterliche Areal von Sanssouci am 17. Februar 2019 konstelliert. Die Bäume und Büsche sind kahl. Die Statuen im Park wie der Antinous sind in Holzkästen eingehüllt. Die Fontäne und die Brunnen sprudeln noch nicht. Die Bildergalerie mit Friedrichs Sammlung von Gemälden und Statuen ruht bis 1. Mai im Winterschlaf. Die Exkursion beginnt auf dem Ruinenberg, der nach Friedrichs Wünschen 1748 Technik mit Landschaftsarchitektur, Natur und Kultur verknüpfen sollte. Von der pompösen Auffahrt zum Sommerschloss Sanssouci blickt man in der Regel hinauf zum Berg mit dem künstlichen Ensemble eines Rundtempels, einer kleinen Pyramide, Resten einer Tempelfront, als winke Rom oder das klassische Griechenland Athens herüber. Gleichzeitig verbergen die Ruinen ein riesiges Wasserbassin, das die Fontänen und Brunnen im Park sprudeln lassen sollte.   

 

Mit über 700 Seiten beansprucht Blannings Buch eine umfassende Kenntnis und Deutung des öffentlichen und privaten Lebens wie der „Identität“ Friedrich II. von Preußen.[3] Daniel Johnson nennt es in der Sunday Times gar die „dark side“, die freigelegt werde. Vielleicht hat jedes Zeitalter, jede Nation, jede sexuelle Identität ihr (eigenes) Friedrich-Bild. Johnsons Titel der Rezension legt das mit der Revision eines Bildes von Friedrich II. im Zeitalter der Königin Viktoria zumindest nahe. Die neue Studie soll die dunkle Seite des Charakters von Friedrich dem Großen enthüllen. Wie wird das möglich sein? Und welche Funktion erfüllt dafür die Thematisierung der Homosexualität? Wie korrespondieren Soldatentum und Sexualität, Kriegshandwerk und Kunstpraxis, Feldzüge, Finanzpolitik und Familie miteinander? Welche Funktionen hatten das Sommerschloss Sanssouci und dessen Park? Welchen Auftrag hatte die Sexualität in der Inszenierung von politischer Macht?

 

Den vielfältigen literarischen Produktionen oder Literaturen von Friedrich II. in teilweise anonym oder unter Pseudonym publizierten Schriften, Gedichten, Gesetzen, Dekreten, Briefen, Pamphleten, Libretti für Opern, Historiografie z.B. der Denkwürdigkeiten der Geschichte des Hauses Brandenburg (1747/48), gar Musikkompositionen wird von Blanning als historische Quelle Aufmerksamkeit geschenkt. Kaum ein anderer Herrscher schrieb so viel wie der Preußenkönig. Das Schreiben in Französisch oft in eigensinniger Orthografie wurde von seiner Umgebung als einem Philosophieren benannt und ihm als Titel beigegeben. Blanning zitiert dafür umfangreich und wiederholt Reinhold Kosers zweibändige Biografie Friedrich der Große von 1904.[4] Als Direktor des Preußischen Geheimen Staatsarchivs hat Koser auch die Briefwechsel mit Voltaire zwischen 1908 und 1911 herausgegeben.

 

Das Erzählformat der Anekdote und die Briefe Dritter werden häufig für eine Argumentation zur Beschreibung von „Identität“, „Persönlichkeit“ und „Selbstinszenierung“ herangezogen. An Quellen und ständigen Umschriften mangelt es schon dem literarischen Nachlass der selektierten und gereinigten 30 Bände desŒuvre de Frédéric le Grand (1846-1856) und den 46 Bänden der Politischen Correspondenz (1879-1939), beide aus dem Preußischen Geheimen Staatsarchiv, nicht.[5] Seither konnten weitere verschollene oder unterdrückte Schriften wie 2011 das programmatische Gedicht La Jouissance (Der Genuss) gefunden werden.[6] Zwar gebraucht Friedrich in seinen Schriften 61 Mal den sexuellen Begriff der jouissance[7], aber das so betitelte Gedicht war dann wohl doch für die Œuvre-Ausgabe zu heikel. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff volupté (Wollust), der sozusagen offiziell 73 Mal nachgewiesen werden kann.[8] Der Historiker Tim Blanning versucht insofern einen ungewöhnlich ausufernden literarischen Nachlass auf ca. 550 Seiten plus ca. 200 Seiten Anmerkungen und Apparat enthüllend zu deuten.

 

Unterschwellig konfiguriert das Wissen von Friedrich II. weiterhin eine Wahrnehmung des Eigenen als Identität. Im November führte ich eine heterogene Gruppe von der St. Elisabeth-Kirche an der Invalidenstraße zum Thema „Friedrich Schleiermacher als Armenverweser“ durch das Armutsquartier jenseits der Berliner Stadtmauer zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Bei der Überquerung der Ackerstraße erklärte ich den Straßennamen mit dem finanzpolitischen Projekt Friedrich II. kurz nach 1740, in dieser Straße den Zimmerleuten aus dem Voigtland vor der Stadt Land zu schenken, um sie in Preußen anzusiedeln, damit sie dort mit Kartoffeln Ackerbau betrieben und ihr Geld nicht in die exterritoriale Heimat verschickten. Da meldete sich ein gut gekleideter Herr aus der Gruppe, um darauf aufmerksam zu machen, dass man als Stadtführer in Anwesenheit von Österreichern immer vorsichtig sein müsse, Friedrich II. positiv zu erwähnen. – Wenigstens ein österreichisches Bildungswissen über Friedrich II. meldete sich da mit verdecktem Hinweis auf dessen Überfall des österreichischen Schlesien, um auf eine durchaus persönliche Empfindlichkeit hinzuweisen.

 

Tim Blanning eröffnet nun insbesondere mit dem familialen und psychologischen „Unterbewusstsein“ seine „Biographie“.[9] Die Anekdote von einem Albtraum in der Nacht vom 28. Januar 1760, die er seinem Schweizer Sekretär Henri de Catt im Winterquartier des sächsischen Freiberg erzählt habe, bietet Blanning den Einstieg, um auf die Rolle des Vaters in Friedrichs „Unterbewusstsein“ hinzuweisen.[10] Die Konstellation von Vater und Sohn wird von ihm zur Schlüsselszene der „zentralen Bedeutung“ der „kulturelle(n) Selbstinszenierung für seine Identität, seinen Anspruch und seine Leistungen“ gemacht. Der Vater kehrt als „Gespenst“[11] und Gesetz wieder, um das Denken und Handeln seines Sohnes nach den Modi von Widerspruch, Erfüllung und Überbietung zu strukturieren. Friedrich II. wird nach Blanning durch seinen Vater diszipliniert und traumatisiert, so dass er sein Leben lang diesem nicht entkommen wird. 

Die Atmosphäre seines circle intime war homosozial und homoerotisch sowie, was Friedrich selbst betraf, wohl auch homosexuell.[12]   

 

Für die Erzählung von Friedrich II. bringt Blanning eine etwas eigenwillige Traumatheorie in Anschlag, die im Verhältnis des Vaters zu ihm und umgekehrt begründet wird. Um seinen Vater als dynastischen Vorgänger zu übertrumpfen, „überfiel er eine offensichtlich friedliebende Frau und verbrachte den Rest seines Lebens mit dem Versuch, an seiner Beute festzuhalten […] So viel ging von dieser grundlegenden ersten Handlung aus, dass sein Bewusstseinszustand, der dem langen Trauma seiner Jugend und frühen Mannesjahre folgte, eine legitime, wenn nicht wesentliche Dimension ist“.[13] Was sind die Folgen dieses psychologischen Ansatzes eines „langen Trauma(s)“? Müsste ein Trauma nicht eher kurz und punktuell eintreten? Im 2. Kapitel, Wie Friedrich gebrochen wurde, beschreibt Blanning ausführlich, was oft aus vagen Quellen anekdotisch mitgeteilt wird. Die Unterkapitel Friedrich und sein Vater ebenso wie Vater und Sohn sowie Friedrichs misslungene Flucht als auch Friedrichs Unterwerfung gliedern eine psychofamiliale Traumatologie.[14]

 

Das Geschlechterbild der Männlichkeit spielt für diese Erzählung bei Blanning eine entscheidende Rolle, obwohl er gerade nicht dessen Konstruktionen freilegt, sondern sie naturalisiert und pathologisiert. Statt Maskulinität zu thematisieren, wird eine Vererbungsgeschichte erzählt. So soll der Vater, Friedrich Wilhelm I., an der „Erbkrankheit“ der „Porphyrie“ aus dem Hause Tudor gelitten haben.[15] Während die Stoffwechselerkrankung Porphyrie in der deutschen, dynastischen Geschichtsschreibung eine verschwindend geringe Rolle spielt, nimmt sie für King Georg III. aus dem Hause Hannover seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in Großbritannien eine stärkere Erklärungsfunktion ein. Blanning spitzt diese für Friedrich Wilhelm I. quasi zu, wodurch an die Stelle von Religion und Wahn ein medizinisches Vererbungsmodell tritt, mit dem das Verhältnis zwischen Sohn und Vater erklärt wird. 

Es handelt sich im Fall von Friedrich Wilhelm I. mit Sicherheit, in dem von Georg III. wahrscheinlich um Porphyrie, eine Erbkrankheit, die von den Tudors durch Jakob I. und seine Tochter Elisabeth von der Pfalz ans Haus Hannover weitergegeben wurde.[16]     

 

Friedrich II. konnte nicht wissen, dass sein Vater unter Porphyrie litt, zu der „Schlaflosigkeit und Albträume(), Verfolgungswahn, geschwollene() Genitalien, … Schaum vor dem Mund“ nach Blanning gehören.[17] Die „Unterwerfung unter Gottes Barmherzigkeit“ ließe sich nach ihm durch die Erbkrankheit als Ursache der Körperbeschwerden erklären.[18] Auf diese Weise wird das Verhältnis von Vater und Sohn pathologisiert. Denn die Geschichte von Friedrichs Fluchtversuch nach England, um „seine() Heiratspläne in die Tat umzusetzen“[19], wird mit dem darauffolgenden Wutausbruch des Vaters zu einer Geschichte der medizinischen Ursache umgewandelt.[20] Dieses Erklärungsmodell ist deshalb so verhängnisvoll, weil die Flucht nach England wegen der „Heiratspläne“ nun die Geschichte um Friedrichs Freund Katte völlig verschiebt.

 

Die Erzählung von der Hinrichtung des Freundes Katte, gilt seit jeher als eine zentrale von der Homosexualität Friedrich II. Sie wurde durch mündliche Überlieferung oder auch als Gerücht zum Dreh- und Angelpunkt für die Identifikation der und mit der Homosexualität des berühmten Königs. Für Generationen von Männern, die Männer begehrten, wurde Friedrich II. zum Zeugen, dass angesehene Männer, sogenannte Große, das inkriminierte Begehren geteilt hatten. Die Rede von der Homosexualität Friedrichs blieb allerdings so elastisch, dass selbst Cécile Beurdeley noch 1977 in dem populärwissenschaftlichen Sammelband L’Amour Bleu – Die homosexuelle Liebe in Kunst und Literatur des Abendlandes zwar auf Voltaire und seine wechselnde Positionierung zur Homosexualität eingeht. Indessen zitiert sie Voltaire mit einem schmeichelnden Vers aus dem Brief an Friedrich den Großen vom 15. Juni 1743.[21] Dass mit „Cäsar“ auf den einunddreißigjährigen König in wechselnden Positionen beim Sex angespielt wird, lässt sich leicht lesen. Gleichwohl blieb die kunst- und literaturwissenschaftliche Anlage des Buches ungenau und mehrdeutig.[22] 

J'aime César entre les bras     

De la maîtresse qui lui cède,

Je ris et ne me fâche pas

De le voir, jeune et plein d'appas 

Dessus et dessous Nicomèdes. [23] 

Ich sehe Cäsar gern in den Armen

Seiner Geliebten, die sich ihm hingibt,

Lache aber und ärgere mich nicht,

Wenn er jung und voller Anmut

Auf oder unter Nikodemus liegt. [24]


  

An der Erzählung von Hans Hermann von Katte und wie sie von Blanning erzählt wird, kristallisiert sich heraus, wie mit den Quellen verfahren wird. Die Hinrichtung des geliebten Freundes vor den Augen des Sohnes wird zum Trauma und zentralen Konflikt zwischen Vater und Sohn sowie um dessen Sexualität. Denn es ist eine Frage der Übertragung des Begehrens, das unmissverständlich nach den Regeln des Vaters funktionieren muss. Gleichzeitig handelt es sich um eine narzisstische Eifersucht auf die mangelnde Liebe des Sohnes. Friedrich wird von Blanning mit der Anführung der Memoiren seiner Schwester Wilhelmine zunächst heterosexualisiert, um mit Hilfe von Freunden zu fliehen, die durch den „rachsüchtigen Irrsinn“ des Vaters mit „seinem Sohn … sexuell gewesen“ seien.[25] Warum aber ist diese verworrene und widersprüchliche Erzählung von Friedrichs Sexualität so wichtig? Die von der Schwester vermutlich aus zweiter Hand, wenn nicht frei erfundene Episode des Beischlafs mit einer Sängerin in Dresden, wird von Blanning mit der Geste eines Tatsachenberichts angeführt.

 

Die sexuelle Praxis entscheidet nach Blanning über die Identität. Sie ist ihm der Kern, um Friedrichs Charakter und Handlungen zu erklären. Demgegenüber gehörten sexuelle Praktiken spätestens seit Ludwig XIV. und seinem Hof von Versailles zur Darstellung und Ausübung staatlicher Macht, die sich von der Macht der Kirche emanzipierte. Sexuelle Praktiken und Promiskuität gehören zum Hof des Sonnenkönigs. Es geht insofern weniger um die heterosexuelle Identität Ludwig XIV. – „Kein europäischer Herrscher war ein enthusiastischerer Heterosexueller als der priapische Ludwig XIV.“ (Blanning, S. 223) –  als um die demonstrative Überschreitung katholischer Moralgesetze, die in der Wollust/volupté/voluptas bzw luxuria eine Todsünde sehen. Genuss/Jouissance ist verwerfliche Wollust, die nach Dante Alighieris Göttlicher Komödie ganz zu Beginn im 2. Höllenkreis bestraft wird. Die Wollust des Königs führt insofern seinen Bruch mit der Kirche vor und schmälert ihre Macht. Die Hohenzollern waren nicht nur an die christliche, katholische oder lutherische Kirche, sondern seit 1613 an den reformistischen Calvinismus gebunden. Mit der Parochialkirche erhielt der calvinistische Hof von Berlin erst 1703 eine eigene Kirche.

 

Der Calvinismus wird an der gleichwohl barocken, aber schlichten Architektur der Parochialkirche in Berlin sichtbar. Friedrich Wilhelm I. wird 1713 König von Preußen, als die Parochialkirche gerade noch ein Glockenspiel von seinem Vater, Friedrich I., erhalten hatte. Der Calvinismus geht von einer vorbestimmten völligen Verderbtheit des Menschen aus und verzichtet auf Kirchenlieder, während Paul Gerhardt an der lutherischen Nikolaikirche 1640 das epochale Berliner Gesangbuch zusammengestellt hatte. Dagegen werden nur die Psalmen im calvinistischen Gottesdienst gesungen. Anders gesagt: Die calvinistischen Prediger, die die Wahrnehmung oder Weltsicht von Friedrich Wilhelm I. bestimmten, ließen nur Christus und die Worte der Bibel gelten, um den Menschen von vornherein in ein Schuldverhältnis zu Gott und Christus zu setzen. Eine Porphyrie ist insofern kaum für die Ängste, Genügsamkeit, Kontrollwahn und Lustfeindlichkeit von Friedrichs Vater notwendig gewesen. Vielmehr wird Friedrich Wilhelms Bild der Männlichkeit vom Calvinismus geprägt gewesen sein.  

 

Welches Maß an Unterwerfung der Calvinismus durch die Prädestinationslehre erforderte, lässt sich beispielsweise mit der Belegung der Krypta unter der Parochialkirche formulieren.[26] Die Nähe der Grablege zum Altar bestimmte die Kosten. Denn die Auferstehung nach dem Tod ließ sich durchaus mit Frömmigkeit und Vermögen versichern und beschleunigen. Die Funktion des frommen Vaters wäre es, mit aller Härte eben dies für sich, seine Frau und Kinder zu erreichen. Die Ausbrüche Friedrich Wilhelms als Vater gegenüber seiner Familie ließen sich also durchaus in diese Richtung lesen. Die Dynastiegeschichte krankt daran, dass der Souverän eben als solcher über sein eigenes Leben und Leiden gesehen wird. Das wird indessen von vornherein im Calvinismus mit der Prädestination vereitelt. Vor diesem historischen Hintergrund bekommt das Verhältnis von Vater und Sohn sowie Thronfolger einen anderen Zug. Soll man es einen Diskurswechsel nennen?

 

Die Rede von der Wollust als Beschreibung sexueller Praktiken nimmt um 1700 eine entscheidende Funktion für das Herrschaftsmodell des Absolutismus ein. Sanssouci – „SANS, SOUCI.“, wie es zur Gartenseite auf dem Lustschloss kryptisch geschrieben steht – lässt sich auch als ein Ort der volupté lesen, an dem sich niemand um die einstige Todsünde sorgen muss. Sanssouci und sein Park inszenieren in mannigfacher Weise die Wollust und den Genuss. Der Germanist, Historiker und Philosoph Heinz Dieter Kittsteiner hat 2001 die sozusagen Buchstäblichkeit der Aufschrift und Benennung des Sommerschlosses mit Ironie entfaltet.[27] Aus dem Komma und dem Punkt der Aufschrift ließe sich eine ganze Philosophie der Männlichkeit lesen. Denn das Komma als französisch virgule verweise nach Kittsteiner mit dem Lateinischen Stamm vir auf das Männliche und die „Mannsform“.[28] Friedrich immerhin schrieb nach seinem Herausgeber Koser immer „Sans-Souci“ und zwar 513 Mal in seinem Œuvre.[29] Die Sorge, souci, kommt nur in ihrer Abwesenheit vor. Auch verneint Friedrich auffällig häufig, dass er sich um etwas sorge mit soucie.[30]

 

An der offensichtlichen Aufschrift mit ihren 9 Buchstaben und 2 Satzzeichen wird gleich einem Logogryph vorgeführt, was sich lesen lässt. Vor allem aber auch, was sich aus all den Schriften und Berichten nicht lesen lässt. Gibt das Logogryph einen Wink auf die Instabilität der Zeichen? Friedrich II. war das Buchstaben- oder Zeichenrätsel nicht fremd. Am 8. Dezember 1757 schreibt er aus Dürrgoy, einem Vorort von Breslau, in einem Postscript an seine Schwester und Vertraute Wilhelmine in Bayreuth: 

Je n'ai point reçu les lettres de Voltaire. En voici une en logogriphe. Tout le corps des Würtembergeois est pris et dissipé./ 

Ich habe die Briefe von Voltaire nicht erhalten. Hier ist einer als Logogryph. Der ganze Körper der Württembergischen wird genommen und zerstreut.“[31]

 

Als Logogryph wäre es ziemlich simpel, wenn Friedrich damit die Vernichtung des von Frankreich verpflichteten württembergischen Schuldnerheeres im Siebenjährigen Krieg meinte. Indessen gibt es einen Wink, dass ihm die beliebte barocke Schrifträtselform des Logogryphs mit ihren Umstellungen von Schrift- und Satzzeichen vertraut war. In wieweit erstreckt sich das Logogryph als Rätselform auf seine Schriften selbst? Zum „ganzen Körper“ oder den Truppen „der Württembergischen“ könnten eben auch Frankreich und Voltaire gehören. Wie kann „corps“ gelesen werden? Oder hat Friedrich die Briefe von Voltaire sehr wohl erhalten, sie genommen und zerstreut oder verschwendet? In welche Reihenfolge müssen die Schriftzeichen gebracht werden? Oder lässt sich mit dem „corps des Würtembergois“ gar eine sexuelle Anspielung lesen? Als Logogryph markiert, geraten die Zeichen, Worte und Briefe ins Schwanken. Das ganze Œuvre ein Logogryph, wo eine „Identität“ und „Selbstinszenierung“ enthüllt werden soll?  

 

Blanning zitiert selten neue Primärquellen. Das ist ein methodologisches Problem. Vielmehr gehen die Publikationen zum Friedrich-Jahr 2012 mit dem Katalog zur Ausstellung Friederisiko im Neuen Palais nun in seine „Biographie“ ein.[32] So zitiert er denn auch das verschollene und nun wiedergefundene Gedicht La Jouissance, um ihm keine weitere Funktion beizumessen, als dass „(n)ichts in diesem Gedicht“ darauf hinweise, „dass Friedrich selbst Algarottis Partner war“.[33] Das ist denn auch kaum der springende Punkt an dem Gedicht. Vielmehr proklamiert es auf der Krönungsreise nach Königsberg nicht etwa an der Seite seiner Ehefrau, sondern an der Seite von Algarotti eine Umwertung der Wollust – „Göttliche Wollust! Herrin der Welt!“ – für die neue Regentschaft. Mehr noch – und an dieser Stelle zeigt sich dann, dass Blanning nicht nur Winckelmanns Schrift zum Torso von Belvedere nie gelesen hat, sondern auch Winckelmanns berühmten Brief an seinen Freund Berendis aus Potsdam nicht kennt – Blanning zitiert akademische Sekundärliteratur, wo eine Relektüre der gezielt mehrdeutigen Originaltexte notwendig wird. 

Divine volupté! Souveraine du monde!

Mère de leurs plaisirs, source à jamais féconde,

Exprimez dans mes vers, par vos propres accents

Leur feu, leur action, l'exstase de leurs sens!

Nos amants fortuné, dans leur transports extrêmes,

Dans les fureurs d'amour ne connaissaient qu'eux-mêmes:

Baiser, jouir, sentir, soupirer et mourir,

Ressusciter, baiser, revoler au plaisir.

...

Göttliche Wollust! Herscherin der Welt!

Mutter ihrer Vernügen, stets fruchtbare Quelle,

Bezeuge in meinen Versen, durch Deine Betonungen

Ihr Feuer, ihr Tun, die Ekstase ihrer Sinne!

Unsere glücklichen Liebenden, in ihren äußersten Übertragungen,

Im Überschwang der Liebe kannten sie nur noch sich selbst:

Küssen/Ficken, genießen/Orgasmus haben, seufzen und sterben,

Wiederauferstehn, küssen/ficken, um wieder Vergnügen zu werden.

...*

* Die doppeldeutigen Übersetzungen von baiser und jouir, von dem das Substantiv jouissance generiert wird, sind nach gängigen Wörterbüchern abgesichert. Friedrich II. gebraucht sie exakt im Sinne dieser Doppeldeutigkeit.

 

Man könnte es eine Praxis des Akademismus nennen, dass eher auf namhafte frühere Biografen zurückgegriffen wird, als dass heute die im Internet leicht zugängliche Primärquelle als Digitalisat hinzugezogen wird. Winckelmann pries in dem Brief von 1748 an Berendis „den göttlichen Monarchen“, an dessen Hof er „Wollüste genossen (habe), die ich nicht wieder genießen werde“.[34] Der Brief ist durch Goethe in Winckelmann und sein Jahrhundert von 1805 überliefert und als Digitalisat an der Universität Heidelberg verfügbar. Es könnte durchaus sein, dass diese neue Verfügbarkeit von Quellen nicht zuletzt das Genre der Biografie verändert oder gar unterläuft. Auch die neuartige Verfügbarkeit von Bildmaterial wie von Sanssouci und z. B. der 2018 restaurierten Neptungrotte mit ihrer Ausstattung von zu Friedrichs Zeiten holländischen Muscheln und einer Girlande aus künstlichen Anthurien, die an Geschlechtsteile erinnern können, verschiebt das Wissen von sexuellen Praktiken.  

 

Johann Joachim Winckelmann wird für Blanning zum Gewährsmann für eine Sakralisierung der Kunst. „Durch die Vermählung pietistischer Introspektion mit dem sinnlichen Heidentum schuf Winckelmann eine ästhetische Religion.“[35] Nicht Winckelmann initiiert Friedrich II. in eine „ästhetische Religion“, sondern Winckelmann beschließt nach seinem Genuss der Wollüste in Potsdam und wohl auch Sanssouci, wo er „Athen und Sparta … gesehen“ hatte, nach Rom zu gehen. Die Wollust-Religion in Potsdam wird von Winckelmann am Dresdner Hof mit Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke (1756) und später in Rom mit Geschichte der Kunst des Altertums (1767) in eine Kunstwissenschaft verwandelt. Doch die Tempel des Ruinenbergs und die nach dem Günstling des Kaisers Hadrian benannte Knabenstatue Antinous hatte er zuerst in Sanssouci gesehen. In Ganymed verwandelt wird dieses Knabenbildnis als eine Fälschung seines Malerfreundes Raphael Mengs 1812 in den Abbildungen zu Winckelmann's Gesammelte Werke wiederkehren.

 

 

All das geschieht nicht zuletzt in einem Netzwerk homoerotischer und homosexueller Kunstliebhaber, so dass Friedrich II. vom wohl bekanntesten, berühmtesten und erfolgreichsten Homosexuellen Europas Prinz Eugen von Savoyen nach dessen Tod die Statue des Antinous aus dessen Nachlass zu einem enormen Preis von 5000 Talern kaufte und vor seinem Arbeitszimmerfenster auf der Terrasse von Sanssouci aufstellen ließ. In die Anschaffung der Sammlung Stosch ist auch Winckelmann involviert. Blanning erzählt all dies detailliert und kenntnisreich. Aber unter den falschen und verdrehten Voraussetzungen.[36] 

Ärgerlich ist nicht nur, dass Blanning die Kultur als „Prozess der Selbstverwirklichung“[37] Friedrichs sieht, sondern dass er die Homosexualität auch noch als „Phänomen“[38] beschreibt. Und man erschrickt dann doch ein wenig, wenn es in Bezug auf den „enthusiastische(n) Heterosexuelle(n)“ Ludwig XIV. heißt, „(w)as vom einundzwanzigsten Jahrhundert aus tuntenhaft wirkt, könnte den Bewohnern des achtzehnten Jahrhunderts untadelig männlich erschienen sein“.[39]„Tuntenhaft“?! Bitte?! Das ist dann doch eher finsteres 20. als 21. Jahrhundert. Oder dem Übersetzer, Andreas Nohl, muss da stilistisch etwas ausgerutscht sein. Ärgerlich und weit hinter dem Forschungsstand wird der „Chinesische Pavillon“ „der damaligen Mode der Chinoiserie“ zugeschlagen.[40] Blanning wurde für Frederick the Great: King of Prussia 2016 die Brtish Academy Medal verliehen. Seine Inklusion der Homosexualität in die „Biographie“ als Nachbereitung des Friedrich-Jahres 2012 erweist sich als prekär, weil die Homosexualität zum zeitlosen „Phänomen“ erklärt wird, ohne dass die sprachlichen Transformationen von jouissance, baiser, jouir, volupté und plaisir auch nur ansatzweise thematisiert und berücksichtigt werden. Sexualitäten sind aufs Engste mit Diskursen verknüpft. 

 

Torsten Flüh 

Tim Blanning 

FRIEDRICH DER GROSSE 

König von Preußen 

Eine Biographie 

ISBN 978-3-406-71832-8 

Erschienen am 14. Februar 2019 

718 S., mit 32 Abbildungen und 19 Karten 

Hardcover 34,- €

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[1] Daniel Johnson: Frederick the Great: King of Prussia by Tim Blanning. In: The Sunday Times October 4 2015, 1:01am.

[2] Barbara Stollberg-Rilinger: Der eine Körper des Königs. In: DIE ZEIT 11. Februar 2019, 20:22 Uhr DIE ZEIT Nr. 7/2019, 7. Februar 2019.

[3] Tim Blanning: Friedrich der Große. König von Preußen. München: C.H.Beck, 2018, S. 11.

[4] Ebenda „Abkürzungen“ S. 361.

[5] Siehe: Œuvre de Frédéric le Grand – Werke Friedrichs des Großen Digitale. Ausgabe der Universitätsbibliothek Trier. (Homepage)

[6] Siehe Torsten Flüh: Neues von Friedrich II. Jens Bisky und Cay Friemuth schreiben Bücher zu Friedrich dem Großen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Dezember 2011 00:09.

[7] Siehe Suchergebnisse „jouissance“. In: Œuvre … [wie Anm. 5] jouissance.

[8] Ebenda volupté.

[9] Tim Blanning: Friedrich … [wie Anm. 3] S. 9.

[10] Reinhold Koser zeichnete auch für die Herausgabe der Memoiren und Tagebücher von Henri de Catt 1884 verantwortlich.

[11] Tim Blanning: Friedrich … [wie Anm. 3] S. 9.

[12] Ebenda S. 11.

[13] Ebenda S. 13.

[14] Ebenda S. 43-98.

[15] Ebenda S. 45.

[16] Ebenda.

[17] Ebenda.

[18] Ebenda.

[19] Ebenda S. 61.

[20] Ebenda S. 63.

[21] Bezeichnenderweise wurde dieser Brief erst 1970 im Bd. 92 der von The complete works of Voltaire publiziert worden. Siehe Nachgewiesen.

[22] Cécile Beurdeley hat mehrere kunsthistorische Schriften veröffentlicht. Doch als Wissenschaftlerin ist sie weithin unbekannt geblieben. Das könnte auch heißen, dass es sich um ein Pseudonym handelt.

[23] Cécile Beurdeley: L’Amour Bleu. Die homosexuelle Liebe in Kunst und Literatur des Abendlandes. Köln: Taschen, 1994, S. 136. (Zuerst Fribourg 1977)

[24] Ebenda S. 299.

[25] Tim Blanning: Friedrich … [wie Anm. 3] S. 64.

[26] Hier beziehe ich mich auf eine Führung und einen mündlichen Vortrag durch die Krypta.

[27] Heinz Dieter Kittsteiner: Das Komma von SANS, SOUCI. Ein Forschungsbericht mit Fußnoten. Manutius, Heidelberg 2001.

[28] Ebenda S. 41.

[29] Siehe Suchergebnisse „souci“. In: Œuvre … [wie Anm. 5] souci.

[30] Ebenda soucie.

[31] Friedrich der Große: Politische Correspondenz, 16 Bd. 9570. A LA MARGRAVE DE BAIREUTH A BAIREUTH. Dürrgoy, au faubourg de Breslau, 8 décembre 1757.

[32] Siehe zur Ausstellung Friederisiko: Torsten Flüh: Risiko gewinnt. Friederisiko im Neuen Palais in Potsdam eröffnet. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. April 2012 22:32.   

[33] Tim Blanning: Friedrich … [wie Anm. 3] S. 96.

[34] Johann Wolfgang Goethe: Winckelmann und sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsätzen herausgegeben von Goethe. Tübingen: Cotta, 1805. (S. 3).

[35] Tim Blanning: Friedrich … [wie Anm. 3] S. 179-180.

[36] Ebenda S. 225-228.

[37] Ebenda S. 175.

[38] Ebenda S. 230.

[39] Ebenda S. 223.

[40] Ebenda S. 208.

Der Star, die Stadt und die Schere - Ulrike Ottingers Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse im Panorama

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Presse – Dandy – Stadt 

 

Der Star, die Stadt und die Schere 

Ulrike Ottingers Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse (1984) im Retro des Panoramas auf der 69. Berlinale 

 

Im Internationalen Forum der Internationalen Filmfestspiele Berlin hatte am 18. Februar 1984 Ulrike Ottingers faszinierend vielschichtiger Film Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse Weltpremiere. Der Film feierte am 14. Februar sozusagen sein 35jähriges Jubiläum mit einer Spätvorstellung um 21:30 Uhr im Cinemaxx am Potsdamer Platz. Mit dem Film, im Titel als Kritik an der Boulevardpresse angekündigt, sprengte Ulrike Ottinger diverse Genregrenzen. Anknüpfend an Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray werden nicht nur die Geschlechterrollen vertauscht, das West-Berlin zu Beginn der 80er Jahre in Szene gesetzt und die kolonialismuskritische Oper Die Eroberung der glückseligen Inseln durch Don Luis de la Cerda am Felsenstrand von Fuerteventura aufgeführt, vielmehr werden Zukunftsszenarien entworfen, die heute aufmerken lassen. Wie ist es heute mit der Macht von Facebook?

 

Vor der Vorführung sprach die Drehbuchautorin, Regisseurin, Kamerafrau und Ausstatterin Ulrike Ottinger von der Faszination, die Berlin auf sie ausübte, als sie Ende der siebziger Jahre von Paris nach West-Berlin zog. In ihrer Berlin-Trilogie Bildnis einer Trinkerin (1979), Freak Orlando (1981) und Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse verwandelte sie den Stadtraum in eine mythologische Szenerie. Doch es war nicht nur der architektonische Stadtraum, vielmehr gehörten die Menschen der Berliner Szene wie Erika Rabau dazu, die fast in allen Filmemacher*innen-Filmen wenigstens als Extra auftrat, oder Magdalena Montezuma als Schicksalsgöttin, die im Jahr der Uraufführung verstarb. Filmemachen war und ist oft ein Soziotop. Michel Foucault hätte wohl von einer Heterotopie mit eigenen Regeln gesprochen.

 

Während Wim Wenders erst 1987 mit Der Himmel über Berlin seine Berlin-Mythologie entwickelte, natürlich mit Erika Rabau als Extra, hatte Ulrike Ottinger früher und radikaler den Stadtraum als Mythos entdeckt. In Bildnis einer Trinkerin gibt es noch Sequenzen, in denen ein Berliner Café an Paris erinnert. Freak Orlando transformiert die Industriebrachen am Westhafen in mythische Schauplätze. Und in ihrem Dorian Gray-Film finden die Redaktions- und Medienkonzernsitzungen von Frau Dr. Marbuse (Delphine Seyrig) unter den dramatisch ausgeleuchteten, kugelförmigen Faultürmen des Klärwerks Ruhleben statt.[1] Zwar werden in fast jedem Film Drehorte in oft ganz andere Schauplätze verwandelt – in Bourne Supremacy (2004) wurden Straßenzüge in Mitte zu Moskau –, aber Ulrike Ottinger weckte auf einzigartige Weise das mythologische Potential West-Berlins mit seinen Ruinen, Nachkriegslücken und dem Schinkel-Brunnen im Park von Jagdschloss Glienicke.   

 

West-Berlin kam gleichfalls bei anderen Filmemachern wie Rosa von Praunheim mit Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt (1977), Lothar Lambert beispielsweise in 1 Berlin-Harlem (1974), der auf der Berlinale 2016 im Panorama gezeigt wurde, Uwe Frießner in Das Ende des Regenbogens (1979) oder Wieland Speck in Westler (1985) als Schauplatz vor, doch keine/r hat den Stadtraum derart ins Mythologische verwandelt wie Ulrike Ottinger – Abwasserkanäle wurden zu geheimnisvollen Anfahrtswegen für die Medienkonzernleiter.[2] Filmemachen bewegte sich in den siebziger und achtziger Jahren immer im Bereich des Low oder No Budget. Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse wurde immerhin von den ARD-Fernsehanstalten Sender Freies Berlin und dem Westdeutschen Rundfunk in Köln koproduziert. Bei den Anderen bekommt die Stadt im Film eher einen dokumentarischen Charakter.

 

Der Bahnhof Zoo als Hauptbahnhof West-Berlins und zugleich exterritorialer Raum, weil er im Besitz der DDR-Reichsbahn war, entwickelte sich zu einem Ort sozialer Wahrheit. Alkoholismus, Drogenkonsum und strafbarer Klappensex unter Männern in der Bahnhofstoilette machten den Bahnhof als Drehort berühmt und begehrt. In den fünfziger Jahren hatte die west-berliner Polizei keinen Zugriff auf Männer, die sich in der Toilette strafbar machten. Noch in den 80er Jahren wurden öffentliche Herrentoiletten z.B. in Hamburg mit Einwegspiegeln überwacht. Hinter den Spiegeln fotografierten fleißig Polizisten für Karteien auf Vorrat. Das war im Bahnhof Zoo nicht möglich! In Bildnis einer Trinkerin von Ulrike Ottinger gibt es auch Szenen am Bahnhof Zoo. Denn es ging um die soziale Frage, die mit dem Star der Filmemacher*innen Magdalena Montezuma im Film allegorisch auftrat, eben als „Soziale Frage“. Die „Trinkerin vom Zoo“ war wirklich eine, die dort mit Einkaufswagen existierte und Lutze hieß.

 

Wie bereits Bildnis einer Trinkerin andeutet, ging es um eine bisweilen schmerzhafte Überschneidung von Dokumentation und Fiktion. Sie (Tabea Blumenschein) trank auch, war aber gleichzeitig Stilikone und Muse der Produzentin und Multikünstlerin Ottinger. In Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresseübernahm Tabea Blumenschein als Andamana neben Veruschka von Lehndorff in der Titelrolle und der feministischen Aktivistin Delphine Seyrig aus Paris als Frau Dr. Marbuse eine weitere Hauptrolle. Eine Liz Mohn im Bertelsmann Konzern oder eine Friede Springer als Verlegerin mit der Macht eines Milliardenvermögen gab es um 1980 nicht. Der Medienzar der Boulevardpresse hieß Axel Springer und regierte vom Springer-Hochhaus an der damaligen Kochstraße direkt an der Mauer zu Ost-Berlin. Mit Frau Dr. Marbuse als Medienzarin wurden die Machtverhältnisse und „Rollenerwartungen“ gegendert. Oder wie Ulrike Ottinger es 1984 formulierte: 

Für mich würde eine emanzipierte Gesellschaft darin bestehen, daß sie keine Rollenerwartungen  mehr an irgend jemanden stellt. Dann käme es auch nicht zur Diffamierung von bestimmten Minoritäten, wenn man Achtung haben könnte vor unterschiedlichsten Verhaltensweisen, Bräuchen, Arbeiten, Formen der Sexualität.[3]

 

Im Dorian Gray-Film spielen Rahmen und Vorhänge eine wichtige visuelle wie dramaturgische Rolle. Dorian Gray lebt hinter einem weißen Vorhang auf einer Chaiselongue. Dort schläft, frühstückt, liest die Zeitung und empfängt er Gäste. Frau Dr. Marbuse öffnet mit ihrer Entourage den Vorhang auf mehrdeutige Weise. Doch hinter einem Vorhang verbirgt sich ebenso das Naturtheater zur Kolonialoper auf Fuerteventura. Die Vorhänge werden zur Seite gezogen und laden ein, sich faszinieren zu lassen. Der Vorhang ist in den Filmen und Inszenierungen von Ulrike Ottinger nicht einfach ein Requisit, dessen es im Theater bedarf, vielmehr übt er eine Funktion aus in einer Dialektik von Verbergen und Enthüllen.[4] Der Enthüllungs- oder Boulevardpresse geht es immer um das Versprechen, das Private und Wahre zu enthüllen. Die Titel werden stets in einer Semantik der Enthüllung formuliert wie im Englischen mit „lays bare the dark side“.[5] Der rote Vorhangstoff bläht sich bedeutungsvoll im Wind. Ein Zeremonienmeister kündigt die Kolonialoper an. 

Der Vorhang öffnet sich – dahinter die Natur, in Ton und Bild. Und davor die Akteure in einer wilden unberührten Landschaft, in höchst künstlich überzogener Operagestik – ganz bewußt exaltierter großer Gesten in der großen Landschaft – also das Bild im Bild im Bild – seine Unendlichkeit, es ist ja auch der Spiegel, der sich unendlich fortsetzt, das ist der Kontrast Natur und Kunst, aber Natur im Rahmen gefangen, also nicht nur Rahmen der Kamera…[6]


© Ulrike Ottinger

Dass die Enthüllung ein kapitalgenerierendes Versprechen insbesondere der Boulevardpresse damals wie heute auf entsprechenden Online-Magazinseiten ist, hat Ulrike als Drehbuchautorin wie als Regisseurin und Kamerafrau zum Thema ihres Films gemacht. Einerseits kreiert sich Frau Dr. Marbuse mit Dorian Gray „unsere eigene() Person(), Persönlichkeit(), Skandale, Sensationen, Katastrophen“, damit sich „(u)nser Konzern … einen Menschen schaffen“ kann, „den wir nach unseren Vorstellungen formen und nach unseren Belieben führen“[7], wie sie es im Film selbst als Programm ausgibt. Andererseits hat Ottinger in einem Vortrag an der Freien Universität 1983 während der Produktionszeit zum „Zwang des Genreskino(s)“ die Frage zu „(i)nstutionalisierte(m) Sehen“ gestellt: „Ist ein Überleben außerhalb der Konserve noch möglich?“ Denn genau diese Fragen zeichne das Filmemachen aus, was heute trotz größerer Diversität nicht weniger gelten könnte. Kino- und Fernsehfilme ob der Öffentlich-rechtlichen Sender oder für Netflix werden heute nach Taktungen für den internationalen Markt produziert.  

Sich mit der Rezeption seiner Arbeit zu beschäftigen, ist für die Filmemacher eine Frage des Überlebens geworden.[8]


© Ulrike Ottinger 

Insbesondere in Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse reflektiert Ulrike Ottinger die Zwänge narrativer Formate im in der Regel fotografiebasierten Enthüllungsjournalismus und Kinofilm. Beispielsweise hat Andy Warhol den fotografischen Enthüllungsjournalismus trickreich mit Exposures (1979) und seinem Paparazzismus künstlerisch praktiziert.[9] Zu Beginn der achtziger Jahre handelte es sich dabei ausschließlich um analoge Fotografien auf Papier bei einem weitestgehend noch bildlosen Internet. Für Frau Dr. Marbuse ist es 1984 noch in einer Sequenz aus ihrer Konzernmachtzentrale möglich, die Vernichtung eines ihr unliebsamen Fotos anzuordnen, was im Negativ- und Positivzeitalter weit besser möglich war als heute. Die Zwänge werden denn auch mit den Namen der „drei Begleiterinnen von Frau Dr. Marbuse“, Susy, Golem und Passat angesprochen. Die allegorischen Namen für „die Sekretärin Susy = Suchsystem, die Computerspezialistin Golem = großspeicherorientierte, listenorganisierte Ermittlungsmethode, die persönliche Referentin Passat = Programm zur halbautomatischen Selektion und von Suchworten aus Texten“[10] formulieren neue Zwänge im Zeitalter von Computer und Suchsystem. Susy (Barbara Valentin), Golem (Magdalena Montezuma) und Passat (Irm Hermann) waren insofern nicht nur auf verschiedene Weise sexy, sondern auf einer weiteren Ebene Allegorien auf das anbrechende Computerzeitalter mit seinen Zwängen und Algorithmen.


© Ulrike Ottinger 

Um die Sehzwänge zu durchbrechen, basieren Ulrike Ottingers Filme auf Dreh- oder Filmbüchern, die an die Praktiken der Montage und Collage erinnern. Harte Schnitte werden im Dorian Gray zur am meisten verwendeten Praxis. Milchglasscheiben werden zu Orakelspiegeln, Der Schinkel-Brunnen von Glienicke wird zu einem chinesischen Luxus-Restaurant mit schwimmenden Speisen. Betonrohre werden zu Opiumhöhlen und eine Pumpanlage aus dem 19. Jahrhundert wird zum „Abnormitätenbordell“, in das Frau Dr. Marbuse Dorian Gray führt, damit Skandalfotos generiert werden können. Im Filmbuch korrespondieren alte kolorierte Postkarten von zu Seeräubern verkleideten Weißhaubenkakadus mit einer japanischen Freak-Postkarte aus Shanghai. Jenseits der Sehzwänge generieren sich unendlich viele Schichten von Bildern und Postkarten, die im Film unsichtbar bleiben oder ganz anders sichtbar werden. 

36. Im Abnormitätenbordell 

DORIAN GRAY wird in einen weichen Leder-Fauteuil gedrückt. FRAU DR. MARBUSE hinter seinem Fauteuil beugt sich zu ihm hinunter und flüstert ihm ins Ohr: 

FRAU DR. MARBUSE:          Gedulden Sie sich einen Moment, Dorian. 

Es fängt gleich an. 

Jemand drückt ihm einen eisklirrenden Drink in die Hand. Ein Matrose mit der Miniaturausgabe einer Pagode als Käfig – darin ein bunter krächzender Papagei – bietet diesen DORIAN GRAY zum Kauf an. Er greift sich an den Kopf. Ihm ist schwindelig und er sinkt hilflos in den Sessel zurück. Vor ihm erscheinen SIAMESISCHE ZWILLINGE, die einen erotischen indischen Tempeltanz tanzen. Sie kommen immer näher…[11]      


Ausschnitt (T.F.) Ulrike Ottinger: Floating Food S. 005.

Für ihre Ausstellung Floating Food hat die Bildkünstlerin 2011 die Speiseszene am Schinkel-Brunnen von Glienicke wieder aufgenommen. Die Praxis der Montage generiert in dieser Szene ein flirrendes Bild. Weniger inspirierte Filmregisseure hätten die Szene einfach in einem Luxusrestaurant gedreht. Ulrike Ottinger montiert den klassizistischen, eigentlich kleinen Brunnen mit chinesischen Darstellerinnen, die Speisen auf Tellern und Platten ins Wasser setzen und mit langen Stöcken an die Gäste heranführen. Die Speisen selbst lassen sich kaum identifizieren. Werden dort Augen serviert? Die üppigen Speisen werden von Frau Dr. Marbuse und Dorian Gray höchstens probiert und kaum gegessen. Die Speisen werden zu einem Fest für die Augen.

 
Ausschnitt (T.F.) Ulrike Ottinger: Floating Food, S. 007.

Die Montage, die von Ottinger auf sprachlicher, visueller wie akustischer Ebene eingesetzt wird, kombiniert Fundstücke auf neuartige und überraschende Weise. Schinkel wird mit China und dem Dandy wie mit der Boulevardpresse kombiniert. Das ist überraschend und wird im Film zu einem traumartigen Szenario mit einander überlappenden Sichtbarkeiten. Die Szenerie am Brunnen wird durch die schwimmenden Speisen sehr ruhig und lässt sich kaum einordnen. Wie auf den Platten oder Tafeln werden unterschiedliche Gemüse und gefärbte Teigtaschen sowie Meeresfrüchte zu einem Bild von Speisen arrangiert. Eine Krabbe, weiße Rettichscheiben, eine aufgeschnittene Honigmelone, rote Paprikascheiben, Möhren, Bohnen, vielleicht ein Stück von einem Huhn oder ein getrockneter Tintenfisch und darauf eine kleine Wasserschildkröte, die lebt. Hier wird getafelt, wie man im Deutschen sagen kann. Doch es geht nicht darum, das alles zu essen oder gar zu verstehen. In gewisser Weise können die Kombinationen aus Meeresfrüchte, Obst, Gemüse, Fleisch und Wasserschildkröte eine Allegorie auf Ulrike Ottingers Fotografie genannt werden. Tafeln einer visuellen Wissenschaft wie bei Georges Didi-Hubermans Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft.      


© Ulrike Ottinger 

Ottinger entwickelt mit der Montage eine Ästhetik der Schere. Sie schneidet damit nicht nur Motive aus, um sie neu und anders zusammenzusetzen, die offene Schere als Allegorie hält die Bedeutungen gleichfalls offen. Vielleicht ist Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse ihr am stärksten durchkomponierten und konzeptualisierter Film. Der Raum, in dem der Presseball stattfindet, sprengt die Konventionen des Sehens. Der Raum ist auf höchst ästhetische Weise mit Zeitungen und Zeitungsausschnitten tapeziert. Natürlich findet ein Presseball oder gar der Bundespresseball niemals in einem Raum aus Zeitungen statt. Man macht alles für die Zeitungen, doch will das nicht vor die Augen gehalten bekommen. Ottinger transformiert insofern den Begriff Presseball auf eine ganz andere Weise. Der Raum aus Zeitungen mit allen Pressevertretern und ihren „Menschen“, die man heute Promis nennt, funktioniert auf ebenso narzisstische wie beängstigende Weise. 

Beim Presseball wollte ich einen Raum ganz mit Zeitungen gestalten, wo wirklich alles zur Zeitung wird – wie bei König Midas, bei dem alles zu Gold wurde, was er in die Hand nahm.[12]


© Ulrike Ottinger 

Die Ästhetik der Schere in Wort, Bild und Ton hat auf der anderen Seite eine ungeheuerliche Verdichtung der Filmsprache zur Folge. Auf dem Presseball tragen die Redakteur Zeitungswesten und man trinkt aus Zeitungsgläsern, während man nicht über die Zeitung spricht. Die Filmsprache kommt nicht zuletzt dadurch zustande, dass Bild und Ton, sagen wir, asynchron montiert werden. Diese kann, wie schon erwähnt, durch Bilder im Bild generiert werden, wenn etwas der Rahmen zur Kolonialoper aus Elementen der Gemälde von Gustave Moreau und anderen montiert worden ist. Einerseits gibt dieser Maler einen Wink auf das Fin de Siècle wie Dorian Gray selbst. Andererseits montiert Gustave Moreau in seinen Gemälden mythologische Szenerien mit erotischen Fantasien. Die Bilder überlagern einander. Bei Ottinger werden sie in einen visuellen und auditiven Prozess hineingezogen, die unterschiedliche Ebenen von Zeit und Geschichte zur „Filmsprache“ verkoppeln. 

Es sind nicht nur die Details der Bilder, sondern auch die Details des Tons, Musik, Geräusche, Geräusch-Musik-Montagen, die die Filmsprache ausmachen.[13]

 

Die Filmsprache wird beispielsweise mit der Kolonialoper besonders dicht, zugleich offen und vielschichtig. Wenn der Vorhang zur Kolonialoper Die Eroberung der glückseligen Inseln durch Don Luis de la Cerda aufgeht, dann könnten Don Luis, Infant von Spanien (Veruschka von Lehndorff) und Andamana (Tabea Blumenschein) auch den Gemälden von Gustave Moreau entsprungen sein. Sie wären dann sowohl Abkommen des Fin de Siècle wie des Mittelalters, als 1344 Papst Clemens VI. Luis de la Cerda zum Verwalter und christianisierenden Herrscher der Kanarischen Inseln ernannte. Zugleich wird die Musik (Peer Raben) von den Naturgeräuschen des Meeres untermalt, wie man sagen könnte. Doch Don Luis singt währenddessen einen mehrdeutigen Text. 

DON LUIS      Ich, 

                   Don Luis de la Cerda, 

                   Infant von Spanien 

                   und neu kreierter Fürst 

                   der Glückseligen Inseln. 

                   Ich, 

                   ich, 

                   mit Recht genannt der Glücksprinz, 

                   stehe hier auf meinem Land. 

                   Ich, 

                   ich … 

                   mein Königreich …[14]


© Ulrike Ottinger

Die Kolonialoper wird bei Ulrike Ottinger mit wenigen Schriftzügen zur Kolonialismus- und Subjektkritik. Oder anders gesagt: Subjetkritik wird hier zugleich Kritik am Kolonialismus des 14. Jahrhundert. Don Luis stottert nicht nur mit der Wiederholung von Ich, vielmehr inthronisiert er sich als „neu kreierter Fürst“ auf narzisstische Weise, während Andamana sich nicht durch die Besitznahme vorstellt. Sie definiert sich darüber, wie sie genannt wird und gibt Don Luis auf zugleich witzige Weise zu verstehen, dass „hier“ schon kürzere Namen reichen. Die Kolonialoper als durchaus ernsthaftes Sujet wird witzig, ohne dass das als Bild allein sichtbar werden würde. 

Andamana  Was ist das für ein umständlicher Name? 

                   Ich heiße Andamana 

                   und das ist für hier schon ein langer, 

                   ein fürstlicher Name. 

                   Meine Freundinnen heißen kurz 

                   Iko oder Oki, Mali oder Canari.[15]  


© Ulrike Ottinger 

Die Kolonialisierung der Inseln wird von der Autorin als eine der Frau durch den Mann vorgeführt. Das heißt zweierlei, erstens geschieht die Kolonialisierung als Modell männlicher Macht. Zweitens bezieht sich diese Kolonialisierung nicht nur auf andere Menschen oder Rassen, sondern das Modell, das durch eine Frau verkörpert wird, erstreckt sich auf das Geschlecht in der Bedeutungsvielfalt von Herkunft, Rasse, Sexualität und Körper. Die Zuschreibung von „Rollenerwartungen“ funktioniert unabhängig vom geschlechteten Körper. Der Blick kann ebenso kolonisieren wie töten. Denn es geht nicht nur darum, die Glückseligen Inseln zum Herrschaftsgebiet der Katholischen Kirche in Rom zu erklären. Es sollen und müssen auch andere Stimmen und Blicke zum Schweigen gebracht oder abgetötet werden.


© Ulrike Ottinger 

Durch die Doppelbesetzung der Hauptdarsteller*innen Veruschka von Lehndorff als Dorian Gray und Don Luis sowie Delphine Seyrig als Frau Dr. Marbuse und Großinquisitor von Sevilla beginnen die Rollen zu flimmern. Frau Dr. Marbuse schaut sich gar von einer Naturfelsengrotte mit Dorian Gray die Oper an. Sie spiegeln sich in der Kolonialoper auf vertrackte Weise. Mit der Nennung des Namens Dorian Gray wird die Erzählung von einem Dandy aufgerufen, dessen Portrait an seiner statt abgeschirmt von der Welt altert. Ulrike Ottinger hat diese nicht zuletzt homoerotische Erzählung nicht einfach adaptiert, sondern durch Kombination mit anderen Erzählungen transformiert. Was werden wir gesehen haben, wenn Dorian Gray am Schluss auf seiner Chaiselongue mit Zeitung in der Hand liegt, auf der die Schlagzeile gedruckt ist: DORIAN GRAY TOT 

 

Torsten Flüh 

 

Ulrike Ottinger 

Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse 

Deutschland 1984 

35 mm Farbe 

150 Minuten  

zum Bestellformular DVD 

_______________________       


[1] Siehe auch: Michael Schaper: Schäferhund als Chauffeur. In: Kinemathek 86, 32. Jahrgang, Oktober 1995, S. 173.

[2] Ebenda.

[3] Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse. Informationsblatt Nr. 3 des 14. Internationalen Forums des Jungen Films Berlin 1984. In: Kinemathek 86 ebenda S. 170.

[4] Vgl. auch Torsten Flüh: Magie der Archive. Floating Food und Unter Schnee von Ulrike Ottinger. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. September 2011 12:37.

[5] Siehe Torsten Flüh: Für eine Kulturforschung der Sexualitäten. Zu Tim Blannings neuer „Biographie“ FRIEDRICH DER GROSSE. König von Preußen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Februar 2019 18:52.

[6] Dorian Gray … [wie Anm. 3] S. 166.

[7] Ebenda S. 164-165.

[8] Ulrike Ottinger: Der Zwang zum Genrekino. In:  Kinemathek 86 … [wie Anm. 1] S. 37.

[9] Siehe dazu auch: Torsten Flüh: Photographie als Schrift. Saarbücken: VDM, 2007, S. 131-148.

[10] Dorian Gray … [wie Anm. 3] S. 168.

[11] Transkribiert nach Fotografie der Doppelseite aus dem Filmbuch.

[12] Dorian Gray … [wie Anm. 3] S. 169.

[13] Ebenda S. 168.

[14] Ulrike Ottinger: Die Eroberung der Glückseligen Inseln durch Don Luis de la Cerda. In: dies.: Floating Food. (Herausgegeben vom Haus der Kulturen der Welt) Köln: Walther König, 2011, S. 045.

[15] Ebenda.

Aufwühlende Bilder vom Zuschauen und Mitmachen - Nachbetrachtung zur Ausstellung Einige waren Nachbarn im Paul-Löbe-Haus mit Leichter Sprache

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Holocaust – Vereinfachung – Ausstellung 

 

Aufwühlende Bilder vom Zuschauen und Mitmachen 

Nachbetrachtung zur Ausstellung Einige waren Nachbarn im Paul-Löbe-Haus mit Leichter Sprache 

 

Die ursprünglich am United States Holocaust Memorial Museum in Washington DC entwickelte Ausstellung Einige waren Nachbarn: – in Leichter Sprache– Wie haben sich Menschen während des Holocaust verhalten? wurde im Februar für 22 Tage im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages gezeigt. Die Direktorin des Museums, Sara J. Bloomfield, kam zur Einführung nach Berlin und der Präsident des Deutschen Bundestages, Dr. Wolfgang Schäuble, begrüßte die Wanderausstellung am Morgen des 31. Januar im Foyer des Paul-Löbe-Hauses, dessen Architektur wie „ein kraftvoller „Motor der Demokratie““ wirken soll. Abgeordnete, Gäste und Besucher*innen des Deutschen Bundestages durchquere den hellen Platz von der Westseite des Gebäudes neben dem Reichstagsgebäude.

 

Der Berichterstatter erhielt eine Einladung zu einer Führung für Mitglieder des Verbandes der Ausstellungsgestalter e.V., kurz VerA. Denn das Paul-Löbe-Haus als „Motor der Demokratie“ bietet eine zentrale Ausstellungsfläche. Die Ausstellung Einige waren Nachbarn war insofern nicht nur eine über den Holocaust, vielmehr bot sie in ihrer Konzeption zugleich einen Einblick in Ausstellungsgestaltung und -vermittlung. Die Wanderausstellung will mit der seit 2014 im Deutschen Bundestag geförderten Leichten Sprache Menschen einbeziehen, die durch Analphabetismus und kognitive Behinderungen häufig marginalisiert oder gar ausgeschlossen werden. Da es mit der überschaubaren Ausstellung von historischen Fotos insbesondere um visuelle Wahrnehmung im politischen Kontext geht, bot und bietet diese einen exemplarischen Ansatz für Fragen der Teilhabe.

 

Nach vorheriger Anmeldung mit Namen, und Geburtsdatum sowie unter Angabe von Datum und Uhrzeit des Besuchs einer Ausstellung im Deutschen Bundestag kann jeder die Ausstellungen in den Gebäuden wie dem Reichstagsgebäude oder dem Paul-Löbe-Haus besuchen. Für die speziell als Wanderausstellung gestaltete, bildbasierte Ausstellung wurden Plakate mit kurzen, doch relativ komplexen Texten entworfen. Zusätzlich hatte das Referat für Öffentlichkeitsarbeit des Deutschen Bundestages „Informationen in Leichter Sprache“ drucken lassen. Was ist Leichte Sprache? Inwiefern korrespondiert die Leichte Sprache mit dem Gesamtkonzept der Ausstellung? Welche gestalterischen Mittel werden eingesetzt? Mit Jonas Togler als Mitglied von VerA (Verband der Ausstellungsgestalter e.V.) und Mitarbeiter des Ausstellungstechnikanbieters molitor in Berlin sowie Klaus Müller als deutscher Repräsentant von USHMM gab es einen fachkundigen Einblick.

 

Schulklassen, Mitarbeiter*innen des Deutschen Bundestages, Abgeordnete, internationale und nationale Gäste, Interessenvertreter*innen und Besuchergruppen gehen durch das Atrium des Paul-Löbe-Hauses meist zielorientiert zu einem abgestimmten Termin. Nach der Abgabe des Personalausweises müssen die Besucher*innen einen Hausausweis gut sichtbar tragen, der den Zugang zu weiteren Bereichen regelt. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, lautet der 1. Satz im 2. Absatz des Artikel 20 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Der transparente Raum mit der östlichen Ausrichtung zur Spree gleich neben und durch Gänge verbunden mit dem Reichstagsgebäude, in dem das Parlament seinen Sitz hat, wird er zu einem ebenso unspektakulären wie repräsentativen Platz der freiheitlich demokratischen Grundordnung, kurz fdGO, der Bundesrepublik Deutschland. Hier soll praktiziert werden, was die fdGO ausmacht.  

 

Das Paul-Löbe-Haus könnte man einen Vorhof des Parlaments nennen. Was im Bundestag öffentlich gesprochen und diskutiert wird, ist in irgendeiner Form der Gespräche und Abstimmungen durch das Paul-Löbe-Haus zirkuliert. Für die Besucher*innen wie dem Volk lassen sich diese Prozesse kaum darstellen. Denn die Transparenz, der die Architektur von Stephan Braunfels verpflichtet ist, lässt sich zwar durch Protokolle etc. nachlesen. Aber sie lässt sich schwer darstellen, wenn man nicht allein die vorherrschende Glasarchitektur für Transparenz hält. Transparenz wird allererst durch Leseprozesse hergestellt. Und genau an dieser Schnittstelle der Transparenz von  Sprache, Sichtbarkeit und Lesen situiert sich die Ausstellung, die in nicht leichter Sprache heißt: Einige waren Nachbarn: Täterschaft, Mitläufertum und Widerstand während des Holocaust.

 

Die Einzigartigkeit des Holocausts in der Geschichte der Menschheit kann nicht bestritten werden. Doch die „Bilder“, ein Film und die Zeitzeugeninterviews der Ausstellung sollen nicht nur an den Holocaust erinnern, sie sollen auch gemeinschaftliche Handlungsweisen von und während Genoziden deutlich machen. Die Ausstellung soll einfache Fragen aufwerfen: „Wie war der Holocaust möglich?“ Sie soll in einer leicht zugänglichen Art Besucher*innen mit Handlungsweisen konfrontieren, die meistens in Genoziden wirksam werden und eine gewisse Eigendynamik entwickeln. „Warum haben nicht mehr Menschen geholfen?“ Die neun Stellelemente mit 22 Grafiktafeln sowie einer Videostation mit Kopfhörern sollen keine zu hohen Anforderungen an die Aufmerksamkeit stellen. Ausstellungsdesign und -technik überschneiden sich mit Ausstellungsdidaktik. Insofern hat die Ausstellung einen gewissen Modellcharakter zwischen Information und praktischer Anwendung. Die Elemente müssen stabil und transportabel, zugleich für unterschiedliche Zielgruppen in einer diversen Demokratie zugänglich sein.

 

Das Format der Ausstellung als Kombination aus Bild- und Textelementen überdenkt hier nicht zuletzt Bildungskonzepte in Bezug auf die Demokratie. Während Ausstellungen häufig eine staatlich geregelte Schulbildung in Text und Bild voraussetzen, geht es nun darum, den Zugang für eine statistisch erfasste Bevölkerungsgruppe in der Demokratie zu ermöglichen. Seit August 2014 erscheint die Wochenzeitung „Das Parlament“ mit einer Beilage in Leichter Sprache, weil „(j)eder siebte Deutsche zwischen 16 und 64 Jahren … nur einzelne Wörter oder einzelne Sätze lesen und deren Inhalt erfassen“ kann.[1] Das ist ein markantes Problem für die Staatsform der Demokratie, die auf mündige Teilnahme an politischen Entscheidungen ihrer Bürger angewiesen ist. Deshalb gibt es nun eine eigene Startseite Leichte Sprache auf den Internetseiten des Deutschen Bundestages. Doch was ist Leichte Sprache, die durch Großschreibung als Name und Begriff markiert wird?              

Seit 2016 hat Inclusion Europe, die „Europäische Organisation für Menschen mit intellektueller Behinderung und ihre Familien“, ein eigenes Logo für „leichtes Lesen“, das auch auf das schmale Heft „Informationen in Leichter Sprache“ gedruckt ist. Auf der Frankfurter Buchmesse 2017 hatten „E-Read-Experten“ auf einen neuen Analphabetismus durch Digitalisierung aufmerksam gemacht.[2] Mangelndes oder eingeschränktes Leseverstehen hat heute ebenso neuartige wie vielfältige Ursachen und kann nach Andreas Baumert jeden treffen. Auch „den Gebildeten, kann es schon morgen erwischen, Hirnschlag, Unfall in der Wohnung, am Arbeitsplatz, im Straßenverkehr; irgendein Geschehen, eine Erkrankung rauben dem heute noch Gesunden das Können, einen geschriebenen Text auf dem gewohnten Niveau zu verstehen.“[3] Leichte Sprache soll also ein „leichtes Lesen“ ermöglichen, das Teilhabe durch verstehen ermöglicht. Die Redaktion der Wochenzeitung Das Parlament nennt das eine „Kunst“. 

Die Kunst besteht darin, komplexe Zusammenhänge auf den jeweiligen Kern zu reduzieren. Dabei muss allerdings der Sinn der Aussage erhalten bleiben. Die Erklärung darf also nicht so verkürzt werden, dass die Vereinfachung die Botschaft manipuliert.[4]

 

Nicht nur das. Lesen ist eine vertrackte Angelegenheit, um es einmal so zu formulieren. Es ist nicht nur komplex, vielmehr noch subjektiv. Beispielsweise kann ein Text in Leichter Sprache, eine/n Leser*in unangenehm berühren, wenn sie/er ihn für geradezu beleidigend einfach empfindet. Ein Leserbrief in einer Tageszeitung, der ironisch formuliert ist, kann zu heftigem Protest führen, wenn die Ironie nicht erkannt wird. Und natürlich ist für Sprachschüler die oft ironische Schreibe bzw. Schreibweise des SPIEGEL eine extreme Herausforderung an das Leseverstehen. Doch was ist ein „jeweilige(r) Kern“ einer „Aussage“, wie ihn die informationsorientierte Parlamentszeitung anschreibt? Die Frage nach Leichter Sprache ist komplexer und schwieriger, als es der Begriff verspricht.

 

Andreas Baumert gehört zu den führenden Wissenschaftlern für Leichte Sprache in Deutschland. Wie kann Einfache Sprache formalisiert werden? Baumert bildet eine Grafik auf seinem Buch ab, bei der auf der linken Seite „Unterstützte Kommunikation“ und nach mehreren Stufen „Standardisierte Einfache Sprache – Deutsch“ auf der rechten Seite „Einfache Sprache“ herauskommt. Die einfache grafische Darstellung mit der Tendenz zum Bild zeigt demnach eine stufenweise Standardisierung von Sprache, die zur Vereinfachung führt. Regeln für Sprachen folgen nicht nur den jeweiligen Grammatiken und Wörterbüchern, sie werden beispielsweise durch „Redaktionsleitfäden und Stilratgeber“ für Zeitungen, Fernsehen oder andere Medien weiterhin standardisiert.[5] Erst kürzlich erregte das „Framing Manual“ für die ARD des „Berkeley International Framing Institute“ der Linguistin Elisabeth Wehling heftigen Widerspruch.[6] Doch Einfache Sprache soll mehr sein: 

es ist die Konstruktion einer standardisierten einfachen Sprache (controlled language). Alle Wörter, die benutzt werden dürfen, alle grammatischen und anderen Regeln sind definiert.[7]

 

Die controlled language als standardisierte einfache Sprache gibt zu denken. An welche Konzepte des Lesens und Verstehens dockt Baumert an? Baumert schreibt einleitend, dass er über Sprachphilosophie und Künstliche Intelligenz bei Manfred Geier promoviert habe[8], der bis 1998 Professor für Linguistik an der Universität Hannover war. Bereits 1989 veröffentlichte er das Buch Kritische Grammatik und Künstliche Intelligenz (Beitrag zur Bedeutungstheorie). Das Konzept der Einfachen Sprache ist nicht zuletzt mit der controlled language und controlled natural language verkoppelt, wie sie für Korrektur- und Sprachprüfprogramme, Übersetzungsprogramme, Chatbots und Googles Dialogflow, der Künstlichen Intelligenz aus dem Callcenter am Telefon eingesetzt, weiterentwickelt und erprobt wird. 

Geben Sie den Benutzern neue Möglichkeiten für die Interaktion mit Ihrem Produkt, indem Sie interaktive Benutzeroberflächen für Sprache und Text erstellen, z. B. Voice-Apps und Chatbots, die auf KI basieren. Verbinden Sie sich mit Nutzern auf Ihrer Website, Ihrer mobilen App, dem Google Assistenten, Amazon Alexa, Facebook Messenger und anderen beliebten Plattformen und Geräten.[9]

 

Die Einfache Sprache/controlled natural language der Chatbots wird von Baumert somit aktuell übertragen auf Menschen mit, sagen wir, Lese- und Verständnisschwierigkeiten. Bei Dialogflow schreibt Mandi Galluch als Digital Experience Program Leader: „Dialogflow ist benutzerfreundlich, intuitiv und macht einfach Sinn. Das Natural Language Processing (NLP) ist das Beste, was wir versucht haben.“[10] Durch Dialogflow sprechen die Chatbots als Telefonanrufer so natürlich, „intuitiv“ und menschlich, dass der/die Angerufene nicht merkt, dass sie/er mit keinem Menschen spricht, was als „benutzerfreundlich, intuitiv“ und einfach sinnvoll empfunden werden soll. Dementsprechend wird Lesen bei Baumert zur Frage für ein „Semantisches Gedächtnis“. Denn „empirische Untersuchungen des gesunden wie abweichenden Verhaltens und seit den sechziger Jahren Computerexperimente (Künstliche Intelligenz)“ hätten nach Baumert gezeigt, dass „traditionelle() Theorien und Modelle … aufgrund empirischer Daten modifiziert“ werden konnten.[11] Was versteht und normiert Baumert als „gesunde(s) ... Verhalten“?

 

An dieser Stelle kann keine ausführliche Diskussion oder Analyse der Einfachen Sprache als Sprachmodell für die Digitalisierung oder Programmierung von Künstlicher Intelligenz geleistet werden. Baumert formuliert indessen als Ziel eine SESD oder Standardisierte Einfache Sprache – Deutsch, die vier verschiedene Dokumenttypen mit vier Leserkategorien und Wortlisten, Regeln sowie „Wissensbasis“ kombiniert und verschaltet. Dadurch wird ein quasi algorithmisches Modell für eine zielgruppenorientierte und -differenzierte Einfache Sprache konstruiert.[12] Abschließend fordert Baumert für die Entwicklung der SESD begleitend „eine Art Entscheidungshilfe in ethischen Fragen“. „Ähnlich dem Presserat und vergleichbaren Einrichtungen benötigt auch SESD eine Ethikkommission, die Verwerfungen in Datenbank und Netz zu glätten hilft.“[13] Denn wie bereits vor einem Jahr anlässlich eines Vortrags von Microsoft-Vorstand Brad Smith diskutiert, lassen sich Ethikrichtlinien mit Kant programmieren. Allerdings mit dem feinen Bedenken, dass damit wiederum ein bestimmtes Konzept von Ethik angewendet werden wird.  

 

Eine Lösung für eine produktive Vereinfachung in Text und Bild gibt es noch nicht. Doch der Wunsch nach Vereinfachung, um demokratische Prozesse zu stärken, ist paradoxerweise deshalb gestiegen, weil eben Chatbots mit einfacher Sprache heute stärker als Zeitungen und Presserat politische Entscheidungen und Stimmungen auf Twitter, Facebook oder ähnlichen Plattformen generieren. Wie lässt sich diesem Dilemma begegnen? Bedient die Vereinfachung dann nicht eine Bedeutungspraxis, der sie entgegenzuwirken vorgibt? Die Plakate oder Poster für die Ausstellung Einige waren Nachbarn: Täterschaft, Mitläufertum und Widerstand während des Holocaust wurden vom USHMM in Washington DC nicht zuletzt deshalb entwickelt, um Menschen mit einer geringen „Wissensbasis“, wie Baumert es nennt, zu erreichen. Geschahen „Täterschaft“ und „Mitläufertum“ aus mangelndem Wissen? Oder basierten sie auf falschem Wissen? Welche Rolle spielt das Wissen, wenn man meint, durch Design und Vereinfachung mehr Menschen anzusprechen?

 

Die Ausstellung will weniger über die Ursachen und Kontexte informieren, als die Besucher*innen mit Fragen konfrontieren. „Soll ich das Risiko eingehen, zu helfen?“ Wie hättest Du Dich verhalten? Wo sehe ich mich in den Gruppen auf den Fotos? Besonders erschütternd ist ein kurzer Film aus einem namenlosen Dorf von einem namenlosen Filmer. Ein junger Mann und eine junge Frau werden gedemütigt, weil ihre verbotene Liebe entdeckt wurde. Sie werden durch das Dorf getrieben und kahlgeschoren bis auf eine Haarsträhne, die man als Ringelschwanz eines Schweines erkennen kann. Sie werden wegen ihrer Liebesbeziehung zu Schweinen herabgewürdigt. Diese nicht ganz zufälligen Dokumentaraufnahmen, bei denen der Filmer sich auf die Gedemütigten mit der Kameraperspektive konzentriert, lassen sich kaum aushalten. Welche Fragen müssen formuliert werden? Worauf gibt, dass überhaupt gefilmt wurde, einen Wink? Wer bis 1945 eine Filmkamera besaß und bedienen konnte, gehörte unbedingt zur Elite des Dorfes, wenn nicht der Region. Die Kameraeinstellung und -handhabung verstärkt buchstäblich die Taten und das Mitlaufen. Der Filmer macht mit, will das zeigen und will es steigern.

 

Doch sind derartige Praktiken der Verstärkung nicht längst im Internet insbesondere unter Jugendlichen allgemein üblich geworden? Das sogenannte Handyfoto, der Handyclip von gemeinsamen Vergewaltigungen bis zu Tötungen hat nicht nur für Tina Übels Roman Last Exit Volksdorf schon 2011 eine nicht nur fiktive Rolle gespielt. Und Hamburg-Volksdorf war und ist ganz und gar kein Ort, wo es an Bildung fehlt. In Volksdorf ist fast nichts prekär. Eher beschreibt Übel aus Insider-Kenntnis eine bundesrepublikanische Bildungsidylle mit Gymnasium. 

Alles in allem aber, Lindner läßt seine wohlwollendes Auge auf der Riege der Jugendlichen ruhen, zur Leichtathletik tragen sie Shorts und Trägertops, die Mädchen aus der zehnten inzwischen zudem alle BH, kann er über die Jahre nicht feststellen, daß die Kinder insgesamt dicker werden, wie man öfters liest; bis auf die Ausnahmen, die es immer gegeben hat, sehen sie gut aus, schlank, einige austrainiert, Laura zum Beispiel, die Hockey spielt und auch in Leichtathletik brilliert. Anderswo mag das zutreffen, hier in Volksdorf achten die Eltern auf ihre Kinder, achten auf gesundes Essen, auf moderaten Fernsehkonsum.[14]

 

Die WanderausstellungEinige waren Nachbarn wird in der nächsten Zeit durch die Republik touren. Dafür ist sie konzipiert. Die Stellelemente sind robust und lassen sich gut transportieren. Vielleicht wird die Ausstellung gar für Schulklassen und Menschen, die den Holocaust heute neuerlich aus dem Gedächtnis der freiheitlich demokratischen Grundordnung verdrängen wollen, mit ihren eigenen Medienpraktiken konfrontieren, die Ausgrenzung, Demütigung, Verfolgung von Einzelnen oder ganzen Gruppen zur Folge haben. Doch der pädagogische Enthusiasmus zur Vereinfachung bleibt ambivalent. Denn am Horizont des pädagogischen Wunsches scheint eine - hoffentlich noch lange aufgeschobene - Ununterscheidbarkeit von Mensch und Maschine bzw. Künstliche Intelligenz als Menetekel auf. 

 

Torsten Flüh

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[1] Siehe: Deutscher Bundestag: „Das Parlament“ nun auch in „Leichter Sprache“. Berlin jbi/11.08.2014.

[2] Siehe auch: Der neue Analphabetismus der Digitalisierung. E-Read-Experten sprechen im Kulturstadion auf der Frankfurter Buchmesse übers Lesen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. Oktober 2017 17:07.

[3] Andreas Baumert: Leichte Sprache – Einfache Sprache. Literaturrecherche, Interpretation, Entwicklung. Hannover: Bibliothek der Hochschule Hannover, 2016, S. 5. (Open Access).

[4] Deutscher Bundestag: „Das … [wie Anm. 1].

[5] Andreas Baumert: Leichte … [wie Anm. 3] S. 6.

[6] Vgl. z.B. Detlef Esslinger: Elisabeth Wehling verteidigt sich. In: Süddeutsche Zeitung 23. Februar 2019, 12:30 Uhr.

[7] Andreas Baumert: Leichte … [wie Anm. 3] S. 6.

[8] Ebenda.

[9] Dialogflow: Overview (Eigene Übersetzung).

[10] Ebenda.

[11] Andreas Baumer: Leichte … [wie Anm. 3] S. 28.

[12] Ebenda S. 215.

[13] Ebenda S. 217.

[14] Tina Übel: Last Exit Volksdorf. München: C.H. Beck, 2011, S. 86-87. 

Vertrauen auf das Misstrauen - Zum Wikimedia Salon Das ABC des Freien Wissens mit V wie Vertrauen

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Vertrauen – Demokratie – Community 

 

Vertrauen auf das Misstrauen 

Zum Wikimedia Salon Das ABC des Freien Wissens mit V wie Vertrauen 

 

Am Dienstagabend unterhielt sich die Medienjournalistin Vera Linß im ALEX-Studio mit Tania Röttger, Michael Seemann aka msprO und Alice Wiegand über das Thema Vertrauen – Wer rettet die Demokratie – Institutionen oder Communities? ALEX als Offener Kanal wie Wikimedia sind nicht-kommerzielle Community-Plattformen, die vom meist unentgeltlichen Engagement aus der Community abhängig sind. ALEX versteht sich als „crossmedialer Community-Sender“ und bei Wikimedia teilen „ehrenamtliche Autorinnen und Autoren … in der freien Online-Enzyklopädie Wikipedia kostenlos ihr Wissen, indem sie Fehler verbessern, Fotos einbinden, Informationen aktuell halten und ganze Artikel schreiben“(Wikimedia). Wikimedia finanziert sich als Verein aus Spenden. ALEX ist eine Einrichtung der Medienanstalt Berlin-Brandenburg.

 

Beide Medien sind insofern von Communities und dem Engagement aus ihnen heraus abhängig. Sie sind allerdings bereits bis zu einem gewissen Grad institutionalisiert, weil sie rechtliche Strukturen wie die Vereinsform und Stiftungsform bei Wikimedia erreicht haben. Das von Vera Linß moderierte Salongespräch setzte nun beim „Vertrauensverlust“ im und durch das Internet oder World Wide Web an, das von Tim Berners-Lee am 12. März 1989 am CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung, erfunden und öffentlich gemacht wurde. Damit feiert es sein 30jähriges Jubiläum. Das World Wide Web sollte zunächst die Academic Community insbesondere der Physiker weltweit vernetzen und ihr einen Austausch von Daten ermöglichen. Wie lässt sich also das Verhältnis von Vertrauen, Demokratie und Communities bedenken?

 

Tim Berners-Lee erfand das WWW für eine relativ kleine, durchaus elitäre Community, um es für die Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Es basierte auf Vertrauen innerhalb einer wissenschaftlich definierten Gemeinschaft von Forschern, könnte man sagen. CERN widmet der Erfindung des World Wide Web durch Berners-Lee eine eigene Website, auf der die erste Website der Welt überhaupt unter dem Titel The birth of the Web abgebildet ist. Als Header der Seite gibt es ein Foto mit dem jungen Physiker an einem japanischen EIZO Computerbildschirm mit einer Text-Datei des World Wide Web. Am 30. April 1993 machte CERN die World Wide Web-Software zur „public domain“. Die www-Software war fortan zum öffentlichen Austausch von Wissen und Wissenschaft eingerichtet worden. So gesehen generierte die Software eines vertrauenswürdigen, jungen Physikers ein Netzwerk für die Zirkulation von Wissen.

 

Gefährdet das World Wide Web die Demokratie oder befördert es sie? Alice Wiegand als langjähriges Vorstands-Mitglied der Wikimedia Foundation und Open-Data-Expertin äußerte mehrfach im Gespräch die Befürchtung, dass das Engagement in Communities nachlasse. Communities als linke, locker vernetzte Interessenzusammenschlüsse generierten seit den 80er Jahren ganze Massenbewegungen, durch die nicht nur demokratische Prozesse in Institutionen wie Universitäten – „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ – schon seit dem 9. November 1967 angestoßen wurden. Sie veränderten nachhaltig die Diskurse beispielsweise über die Kernenergie, wie sie als Kernforschung am CERN weiterentwickelt werden sollte, weshalb Berners-Lee das Internet erfand. Alice Weigand erinnert in ihren Redebeiträgen wiederholt an diese Geschichte der Communties, die letztlich im März 2011 nach der dreifachen Katastrophe von Fukushima dazu geführt hat, dass eine Bundeskanzlerin der konservativen und atomkraftfreundlichen CDU die Energiewende zur Staatsraison erklärte.

 

 

An dieser Stelle könnte es hilfreich sein, Jodi Deans Blog Theory von 2010 zu berücksichtigen. Denn das Engagement für die Demokratie durch „Blogging“ hat sich nach Dean längst in einen „communicative capitalism“ verwandelt.[1] In gewisser Weise ist Wikipedia strukturell auch ein Blog, insofern als sich das Wissen dort permanent aktualisieren muss und neu verknüpft wird. Weiterhin sind Tania Röttger und Michael Seemann Blogger. Die Daten wie sie mit dem World Wide Web in der Academic Community ausgetauscht werden sollten, sind mittlerweile vor allem zur Ware eines „communicative capitalism“ geworden. Künstliche Intelligenz als Vernetzung und Prozessualisierung von Daten und Datenbanken wird z.B. durch Brad Smith und Sabine Bendix seit 2018 zur Kernfrage der Wirtschaftspolitik mit Microsoft formuliert. Dean hat für ihre Theorie zwei methodologische Probleme herausgearbeitet. 

The temporal take-over of theory displaces sustained critical thought, replacing it with the sense that there isn't time for thinking, that there are only emergencies to which one must react, that one can't keep up and might as well not try.

    The second side of the problem, the form of theory's presentation, likewise highlights how communicative capitalism fragments thought into ever smaller bits, bits that can be distributed and sampled, even ingested and enjoyed, but that in the glut of multiple, circulating contributions tend to resist recombination into longer, more demanding theories.  

Im „communicative capitalism“ wird es nach Dean nicht nur schwierig, eine nachhaltige Theorie zu entwickeln, weil sie von der Zeitlichkeit des Bloggens vereitelt wird. Die Darstellungsform der Theorie wird ebenfalls vom „communicative capitalism“ fragmentiert. Deshalb wird es unter anderem schwierig, Ferdinand Tönnies „Theorie der Gemeinschaft“ auf den Begriff der Community anzuwenden, worauf zurückzukommen sein wird. Jodi Deans Formulierung eines „communicative capitalism“ gibt zugleich einen Wink auf das Vertrauen in die Semantik bzw. einer vermeintlichen, zeitlichen Stabilität der Zeichen. Denn das Vertrauen als Substantivierung des Verbs vertrauen ist zunächst einmal eine Verstärkung des Trauens, das auf eine längere Zeitlichkeit für die Zukunft angelegt ist. Nach dem Wörterbuch der Gebrüder Grimm wird Goethe mit der Formulierung zitiert „mein vertrauen in dich ist unerschütterlich“. (Wörterbuchnetz) Vertrauen wäre demnach eine Praxis der Kontinuität. Und natürlich vertrauen die meisten Menschen heute Wikipedia, weil es dort relativ nachhaltige Regeln für die Formulierung von Wissen gibt.

Im Internet generieren sich durch soziale Medien oder Plattformen heute sehr schnell neue Kampagnen, die loser und widersprüchlicher als Communities sind. Das hängt vielleicht eher mit einer neuartigen Amnesie der Like-Daumen zusammen, als mit einem gedächtnisgestützten Vertrauen zusammen. Dafür gibt es ein aktuelles Beispiel zur deutschen Sprache. Ein befreundeter, erfolgreicher, langjähriger SPD-Politiker, kein Anfänger, teilte auf Facebook plötzlich die Kampagne „Schluss mit dem Gender-Unfug!“ des Vereins Deutsche Sprache e.V. als Mitunterzeichner*in, erntete dafür viele Likes und positive Kommentare. Bei Marc Jongen haben da bestimmt die Deutscher-Sekt-Korken, Rotkäppchen und der Wolf, geknallt. Der Wolf hat Rotkäppchen gefressen. Denn Sprache ist politisch.

Der AfD-Bundestagsabgeordnete Marc Jongen setzt sich an der Seite von Erika Steinbach seit längerem, unermüdlich für die deutsche Sprache ein und hat sich schon am 23. Mai 2016 in der ZEIT vehement für das Deutsch ohne Zutaten stark gemacht, wie mit Das Nachleben der Diskursfriedhöfe thematisiert wurde.[2] Unter den bunt zusammengewürfelten „Bekannte(n) Mitglieder(n)“ des VDS taucht Jongen zwar nicht auf, aber Erika Steinbach und Otto von Habsburg (†) tun es auch. Caroline Fetscher hat im Tagesspiegel die Gender-Unfug-Kampagne als Alarmismus richtig eingeordnet.[3] Doch die Kleist-Preis-Trägerinnen Katja Müller-Lange im Tagesspiegel[4] und Sibylle Lewitscharoff gehören ebenfalls zu den Erstunterzeichner*innen der „Petition“. Wahrscheinlich gefällt ihnen die Gesellschaft des Mitunterzeichners Hans-Georg Maaßen, der der „konservativen Werteunion“ der CDU beigetreten ist. Deutscher-Sekt-Korken!

Es ist eine Vertrauensfrage, mit der über Parteigrenzen hinweg, durch eine Petition eine Community generiert wird. Für die Schluss-Petition zum „Gender-Unfug“, die ganz der Linie des AfD-Kulturpolitikers und Obmanns im Ausschuss für Kultur und Medien, dem Dozenten für Philosophie Marc Jongen entspricht, kommen via Mailinglisten und Teilen der Petition auf Social Media sehr unterschiedliche Menschen zusammen, die über eine vermeintliche Schnittmenge eine Community bilden. Vertrauen generiert vielleicht noch stärker als früher Ad-hoc-Communities. Der Kulturwissenschaftler Michael Seemann aka msprO hat auf seiner Website bzw. seinem Blog msprO.de schon die Aufzeichnung des Wikimedia Salons eingebettet. Er erklärt Communities nach Ferdinand Tönnies als Gemeinschaft. Tönnies veröffentlichte 1887 Gemeinschaft und Gesellschaft als eine „Abhandlung des Communismus und des Socialismis als empirischer Culturformen“.[5] 

In den 1980er Jahren erlebte die „Abhandlung“ als linke Politiktheorie ein gewisses Revival z.B. durch Wilfried Röhrich an der Universität Kiel. Doch schon im Seminar erregte der die Gemeinschaft auszeichnende „Wesenwille“ eine gewisse Skepsis, weil er „als eine reale oder natürliche (Einheit)“ verstanden werden soll.[6] Der Neologismus „Wesenwille“ wird als „das psychologische Aequivalent des menschlichen Leibes oder das Princip der Einheit des Lebens, sofern dasselbe unter derjenigen Form der Wirklichkeit gedacht wird, welcher das Denken selber angehört (quatenus sub attributo cogitationis concipitur)“ definiert.[7] Die Analogie mit dem menschlichen Körper als Einheit gestaltet das Prinzip der Einheit von „Wesenwillen“ einer Gemeinschaft aus, die in einer weiteren Transformation zu einer Gesellschaft mit einer „ideelle(n) oder gemachte(n) (Willkür)“ wird.[8] Man könnte den „Wesenwillen“ einen in gewisser Weise naturalisierten immanenten Willen der „Gemeinschaft“ nennen.

Lassen sich aktuelle, kampagnenorientierte Communities als Gemeinschaft nach Tönnies verstehen, wie es Michael Seemann im Wikimedia Salon vorschlägt? Bilden die Tausenden, die am 5. März vor der CDU-Zentrale gegen die geplante EU-Urheberrechtsreform hinsichtlich der sogenannten Upload-Filter protestierten schon eine Community oder Gemeinschaft? Es war sozusagen ein Protest aus der Community heraus mit Tafeln wie „ERROR 404 DEMOKRATIE NOT FOUND“. Die Berliner Netzpolitiker in der SPD hatten auf einem informellen Treffen zuvor ebenfalls eine Resolution gegen die Upload-Filter verabschiedet, um damit die Partei beratend für das Thema zu gewinnen. Wäre diese überschaubare Gruppe schon eine Community oder spricht sie für einen „Wesenwillen“? Die Praxis in der Community zeigt nach einer zarten Empirie vielmehr, dass eine solche Community vielmehr außerordentlich heterogen und gar zerstritten in Meinungsfindungsprozessen ist.

Welche Berücksichtigung findet das Vertrauen in der „Theorie der Gemeinschaft“ bei Tönnies? Er formuliert das Vertrauen als Grundlage des „Contracte(s)“ und als Moment „dem Wesenwillen angehörig“. Das Vertrauen wird zu Anfang der Theorie in § 7 von Tönnies einerseits auf natürliche Verhältnisse wie der Nachbarschaft ebenso wie auf familiären Verwandtschaft bezogen, um dann hinsichtlich der Verträge im Handel seine Wirkung zu entfalten. Einfache Verträge basieren „auf Vertrauen und Glauben“ mit dem Namen Kredit. 

So sind nun die einfachen Contracte des Handelsverkehrs, als worin die Tauschenden und Geschäfte-Machenden immer als Gleich-Berechtigte einander gegenüberstehen; und so dass ihre innere Gleichgültigkeit gegen einander keineswegs der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit ihrer Verträge entgegen ist, vielmehr dieselbe begünstigt, und von dem reinen Begriffe als Bedingung gefordert wird. Scheinbar beruhen Contracte, sofern nicht Zug um Zug geleistet wird, auf Vertrauen und Glauben, wie der Name des Credits anzeigt; und dieses Moment, dem Wesenwillen angehörig und darauf sich beziehend, kann bei unentwickeltem derartigem Verkehre wirklich wirksam sein und bleiben.[9] 

Vertrauen und Glauben bilden bei Ferdinand Tönnies sozusagen einen Kitt für ebenso natürliche wie willkürlich Verträge, könnte man sagen. Doch Communities basieren heutzutage weder in der einen noch in der anderen Bestimmung auf Vertrauen und Glauben. Es ist eher ein geteiltes Misstrauen gegen z.B. Entscheidungen der gewählten Politiker als Volksvertreter als Repräsentanten im Urheberrecht wie den Uplaod-Filtern, die von Medienlobbyisten betrieben worden sein könnten. Das Misstrauen verwandelt sich in einen Verdacht überwiegend junger Menschen, dass damit der Zensur Tür und Tor geöffnet werden könnte. Oder sind Upload-Filter nicht schon längst im Einsatz, wenn ein privates Video mit Musik auf YouTube hochgeladen werden soll und das Video wegen der Musik nicht veröffentlicht werden darf. Das Video ist zwar privat, doch die Musik wird dank Künstlicher Intelligenz sofort als unter Urheberschutz stehend beim Upload erkannt.  

Tania Röttger als „Leiterin Faktencheck“ arbeitet mit „Fakten für die Demokratie“ bei CORRECTIV.org mit. Fakten sollen gegen Fake-News durch eine gemeinnützige GmbH erarbeitet werden. Können Fakten die Demokratie gegen Fake-News im World Wide Web verteidigen? Röttger berichtet im Salon, dass sie mit ihrer Arbeit noch am Anfang stehe. Doch im Faktencheck sind bereits einige aktuelle Checks mit den Bewertungen „Richtig“, „Teilweise Falsch“, „Größtenteils Falsch“, „Falsch“ und „Größtenteils Richtig“ vom 13. März und früher zu finden. Können Faktenchecks das Vertrauen in das World Wide Web und die Demokratie (wieder)herstellen? Diese Frage ist bisher in einer Theorie der Demokratie so nicht formuliert worden. Hans Vorländer hat allerdings 2014 in seinem historischen Abriss der Wege zur modernen Demokratie auf die „Politik der kleinen Schritte“ in England und das Vertrauen der Repräsentierten in die Repräsentanten im 17. Jahrhundert hingewiesen. 

Das Verhältnis zwischen Repräsentierten und Repräsentanten beruhte zum einen auf Zustimmung, zum anderen auf Vertrauen.[10]   

Die angelsächsische wie die amerikanische Demokratiepraxis funktioniert heute noch auf einem von Vertrauen geprägten Repräsentationsverhältnis, was im Salongespräch auch Michael Seemann anmerkte. Am stärksten ist diese Vertrauenspraxis vielleicht im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten von Amerika ausgeprägt, das sich durch seine Sprecherin Nancy Pelosi seit Anfang November 2018 als Kontrollinstanz gegen den Präsidenten und die Mehrheit der Republikaner im Senat positioniert. Doch wie wird Vertrauen hergestellt? Wird es durch Fakten in einer Zeit des Fake-News produzierenden Präsidenten gewonnen? Jeder Tweed des Präsidenten verdreht auf meist kuriose Weise die Fakten, die allerdings von der Hälfte der amerikanischen Wähler bereitwillig und mit größtem Vertrauen geglaubt werden. Man könnten einen eigenen, endlosen Faktencheck auf jeden Tweed anwenden, um feststellen zu müssen, dass der Clown gerade deshalb den Diskurs beherrscht. Wahrscheinlich ist Misstrauen gegen die Macht der Regierenden in einer Demokratie wichtiger als blindes Vertrauen. 

 

Torsten Flüh

 

 

Das ABC des Freien Wissens

V wie Vertrauen

Wer rettet die Demokratie -

Institutionen oder Communities? 

Alex Berlin (1:14:43) 

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[1] Jodi Dean: Blog Theory. Feedback and Capture in the Circuit of Drive. Cambridge: Polity Press, 2010, S. 2. Vgl. auch die Überlegungen zu „democracy“ und „communicative capitalism“ in Torsten Flüh: Myth-making und Roland Barthes' Semioklastik. Zu Radical Myth-making: The Cinema of Alain Guiraudie and Albert Serra im Roten Salon. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Juni 2018 17:55.

[2] Torsten Flüh: Das Nachleben der Diskursfriedhöfe. Falk Richters Fear an der Schaubühne am Lehniner Platz. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. Mai 2016 18:48.

[3] Caroline Fetscher: Das führt nur in neue Sackgassen. In: Der Tagesspiegel 09.03.2019, 21:24 Uhr.  

[4] Katja Müller-Lange: Es heißt Sprache, nicht Schreibe! In: Der Tagesspiegel 13.03.2019, 09:28 Uhr.

[5] Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen. Leipzig: Fues, 1887. (Deutsches Textarchiv)

[6] Ebenda Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. [99] § 1. In: Deutsches Textarchiv abgerufen am 14.03.2019.

[7] Ebenda § 2.

[8] Ebenda § 1.

[10] Hans Vorländer: Politik der kleine Schritte – England. In: ders.: Wege zur modernen Demokratie. In: Bundeszentrale für politische Bildung. 6.1.2014. 


"Hören Sie das Geräusch?!" - Zum Programm und Eröffnungskonzert von MAERZMUSIK festival für zeitfragen

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Zeit – Musik – Geschichte

 

 

„Hören Sie das Geräusch?!“

Zum Programm und Eröffnungskonzert von MAERZMUSIK festival für zeitfragen 

Die Geschichte erinnert sich nicht, vielmehr wird sie als eine Praxis des Vergessens ausgeübt. Weit mehr als das, was von der Geschichtsschreibung z. B. „eines universalen Fortschritts der Musik einer kleinen Avantgarde“, wie Berno Odo Polzer es auf der Pressekonferenz zu MaerzMusik formuliert, vermerkt wird, fällt dem Vergessen anheim. Im Fall des französischen Komponisten rumänischer Herkunft Horaţiu Rădulescu hat das ganz konkret mit einer eigensinnigen Partitur für Clepsydra (1981/1982) zu tun. Für das Eröffnungskonzert musste das „Gekritzel“, wie es der Pianist Ernst Surberg verrät, erst einmal erforscht und transkribiert werden, damit die 16 Spieler in der Weltpremiere der Originalversion Rădulescus Opus 47 auf 8 präparierten Klavieren überhaupt spielen können.

Frederic Rzewskis 50-minütige Komposition The People United Will Never Be Defeated aus 36 Klaviervariationen schienen ebenfalls fast vergessen. Am Freitagabend trat der 80jährige Komponist mit einem Konvolut loser Notenblätter unter dem Arm auf die Große Bühne des Hauses der Berliner Festspiele, setzte sich auf den Hocker vor dem offenen Steinway & Sons Konzertflügel und – stand wieder auf. „Hören Sie das Geräusch?!“ Entschlossen die Arme mit den Fäusten in die Hüften gestemmt forderte er: „Kann man das abstellen!“ Schreckenssekunde. Man entgegnete ihm kollektiv, dass das die Klimaanlage sei, die laufen müsse, damit das Publikum nicht ersticke. Er setzte sich und spielte nicht 50, sondern exakt 100 Minuten seine Klaviervariationen nach den vorbereiteten Notenblättern. Standing Ovations! – Am kommenden Sonntag um 13:00 Uhr wird Frederic Rzewski im Kraftwerk Mitte während der Veranstaltung The Long Now das Konzert wiederholen.

The People United Will Never Be Defeated lässt sich als serielle Musikgeschichte verstehen. Die Komposition spielte als chilenisches Widerstandlied El pueblo unido, jamás será vencido („Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden“), während der Herrschaft des Pinochet-Regimes seit 1973 selbst eine geschichtsträchtige Rolle. Als Nueva Canción Chilena steht das Lied in der Tradition der sozialistischen Folklore wie sie letztlich von Hanns Eisler und Bertold Brecht konzipiert worden war.[1] Rzewski zitiert denn auch das Solidaritätslied – „Vorwärts und nie vergessen …“ - von Eisler und Brecht in seinen Variationen. Doch die Variationen verarbeiten 1975 ebenfalls in ihrer Abfolge die Kompositionsverfahren und -geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Musikgeschichte wird auf diese Weise quasi vom Komponisten ebenso als politische erzählt und verarbeitet. Dies gilt so weit, als sie mit Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen verglichen werden.


© Camille Blake 

Fulminant und durchaus überraschend eröffnete auf diese Weise das Festival mit einer fast klassischen Geschichtspraxis. Wie Geschichte gemacht wird und funktionieren kann, wird nicht in einer Chronologie, sondern in der seriellen kaum Originalität beanspruchenden Kompositionsweise der Variationen vorgeführt. Letztlich ließen sich die Prinzipien der Variationen als Künstliche Intelligenz programmieren, denn auch die Goldberg-Variationen aus dem Barock sind einem gewissen mathematischen Kompositionsschema verschrieben. Zugleich wird mit der Erinnerung an El pubelo unido, jamais será vencido an die Notwendigkeit von politisch-einheitliche Aktion und Geschichtsfortschritt erinnert. Auf diese Weise wird Rzewskis relativ häufig gespielte Variationskomposition selbst zum Zeugnis eines wenigstens vermeintlichen Fortschritts in der Musik.


© Camille Blake 

Es ist nicht nur der technische Schwierigkeitsgrad als Mythos des Virtuosen, der das Stück für Pianist*innen interessant macht. Die Anforderungen des Spielens an die Pianist*innen - Rzewski komponierte das Stück für Ursula Coppens, die viele Stücke der zeitgenössischen Musik in den 70er Jahren spielte -, sind es nicht allein. Vielmehr noch ist es die Überschneidung von melodischer Folklore und modernen Kompositionsverfahren, die Geschichte für die Zeit der Performanz hervorbringen. Rzewski verwandelt die Popularität des Nueva Canción in ein Feuerwerk der Virtuosität, womit diese zugleich popularisiert wird. Es gibt in der Komposition insofern zwei Bewegungen, die für ein sozialistisches Konzept der Musik fast programmatisch zu nennen sind. Die Popularität generiert einerseits ein Wissen von der Musik, das man vielleicht eine Gehörbildung nennen könnte, für das Volk. Anderseits entspricht die Virtuosität einem modernen Leistungsprinzip, für das nicht zuletzt die Schnelligkeit entscheidend wird.


© Camille Blake

Frederic Rzewski macht kein Aufheben von seiner Virtuosität. Als Virtuose ist Rzewski weniger, denn als politischer, linker Aktivist entschiedener aufgetreten. Der 1938 in Westfield, Massachusetts, geborene Komponist und Aktivist mit jüdisch-polnischen Vorfahren versteht seinen Vortrag offenbar mehr als Aktion denn als Vorführung der technischen Beherrschung des Klavierspiels.[2] Es wurde nicht ganz deutlich, wie die zum Beispiel von Yuji Takahashi eingespielten 58:05 Minuten auf fast 100 anwuchsen. Virtuosität erzeugt wie 2017 bei dem jungen Pianisten Igor Lewitt im Konzertsaal Begeisterungsstürme. Die an vorletzter Stelle gesetzte Cadenza vor dem Thema als Reprise fiel keinesfalls so ausladend aus, dass sie 40 oder mehr Minuten ausgemacht hätte. Anders gesagt: woher die annähende Verdopplung der Aufführungszeit kam, bleibt ein gewisses Geheimnis. Vielleicht kam es dem Komponisten nie auf den Aspekt der Virtuosität wirklich an. Oder im Konzertbetrieb führte das Wissen um den Mythos des Virtuosen zur Beschleunigung?

Natürlich spielt die Zeit als Tempi in der Musik eine wesentliche Rolle. Doch bekanntlich hat sich die Messung eben dieser Zeit erst mit dem Metronom im 19. Jahrhundert etabliert. Die Tempi und Stimmungen wurden vermessen. Gefühlund Forschung in der neuen Musik, wie bei ultraschall 2019, werden einem Regime der Zeitmessung unterworfen, das zugleich verständliche und seit dem 19. Jahrhundert vor allem berechenbare Gefühle erzeugen soll.[3] Diese Metronomkultur als Zeitmessungsregime lässt sich durchaus mit Frederic Rzewskis Aufführung von The People United Will Never Be Defeated bedenken. Zeit – das sollte auch in weiteren Aufführungen von MaerzMusik 2019 berührt werden – lässt sich eben nicht nur mit Praktiken des Messens und Bestimmens erfahrbar machen.        

Horaţiu Rădulescus Clepsydra spielt bereits vom Titel her auf die Zeitmessung an, um nun eine durchaus andere Erfahrung von Zeit als bei Rzewski hervorzubringen. Das von Ernst Surberg als „Gekritzel“ bezeichnete Kompositions- wie Aufschreibeverfahren der Partitur stellt eine besondere Herausforderung an die Musiker*innen dar. Denn Klepsydra bezeichnet im antiken Griechenland ein besonderes, mehr oder weniger variables Zeitmessverfahren mit einer Art Wasseruhr. Eigentlich heißt Klepsydra Wasserdieb von κλέπτειν kléptein ‚stehlen‘. Daher ließe sich mit Klepsydra zugleich an einen Zeitdieb denken. Bei einer Klepsydra fließt Wasser von einem Behälter in einen anderen. Wasser fließt eigentlich recht schnell. Doch es fließt je nach Vorrichtung immer gleichmäßig schnell. Vermutlich war es diese Beobachtung, die im antiken Griechenland eine relativ kurze Zeit zum Beispiel in der Gerichtspraxis zur Einteilung und Bestimmung vorsah. Doch Rădulescus eigensinnige Partitur unterläuft auch moderne Zeitmessverfahren.  

Die kryptische Notationspraxis oder das „Gekritzel“ des selten aufgeführten und 2008 in Paris verstorbenen Komponisten Rădulescu, produzierte ein Werk, das dennoch von Surberg u.a. transkribiert und in gewisser Weise wohl auch transformiert werden musste. Es musste insofern in eine Zeitstruktur transformiert werden. Auf jeden Fall wurden die 8 Klaviere speziell gestimmt und präpariert, um quasi in Streichinstrumente umgewandelt zu werden. Das stellte die Produzenten wiederum vor eine besondere Herausforderung, weil Leihgeber von Klavieren und Flügeln keinesfalls wollen, dass ihre Instrumente verstimmt oder einfach anders gestimmt werden. Rădulescu sprengte damit die musikalischen Genres, um eine eigenwillige Geschichte zu modellieren. Wenn man an Giorgio Agambens Zeitkritik mit Zeit und Geschichte anknüpft, dann hat „selbst der historische Materialismus … es bisher versäumt, einen Zeitbegriff zu entwickeln, der mit dem Begriff der Geschichte vergleichbar wäre“.[4] Zeit bleibt rätselhaft.

Stattdessen wird in der Geschichte ein Zeitkontinuum hergestellt, das einen Begriff von Zeit verfehlen muss. Auf diese umfangreichen Verfahren hat Giorgio Agamben in seinem Homo sacer-Projekt aufmerksam gemacht. Deshalb lädt Berno Odo Polzer mit seiner fünften Ausgabe von MaerzMusik zur Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Geschichte ein, um sie mit Clepsydra zum Forschungs- wie Aufführungsprojekt zu machen. Die „Sound Icons“, wie Rădulescu offenbar die präparierten Klaviere bzw. Flügel nannte, bilden eine Art Klangskulptur. Aus Kapazitätsgründen spielen jeweils zwei Musiker an einer Sound Icon. Man darf den Neologismus vermutlich genau in der Überschneidung von Musikinstrument und Bildender Kunst verstehen. Diese Überschneidung zweier Kunstbereiche zielt auf eine Sinnlichkeit, die durch das Verfahren der Montage angelegt wird. Samuel Dunscombe und Ernst Surberg verdichten diese Montagekunst zu einem einzigartigen Klangerlebnis.

Was sich mit Clepsydra als Spektralmusik hören lässt, ließe sich als Übersinnliche Spektren formulieren, wie sie vom Ensemble PIANOPERCUSSION von Ya-Ou Xie verfolgt wird. Sie sind sowohl sinnlich als auch übersinnlich. So geht es Râdulescu auch um „l’émanation de l’émanation“, die Emanation der Emanation. Sie spielt sowohl auf ein Hervorgehen auf dem Klangkörper wie auf eines aus dem göttlichen Einen an. Gleichzeitig wird diese Emanation durch eine Praxis erzeugt, die klassische Instrumente wie das Piano auf eine einzigartige Weise transformiert. Das Verfahren wird ebenso spielerisch wie vieldeutig. Formal handelt es sich um eine 16-stimmig-Partitur, die nun in der Weltpremiere nach einer digitalen Stoppuhr von den Performern abgespielt wird. In der Eröffnungssequenz kann eine Art Urwald mit Vogelstimmen hörbar werden, was allerdings wohl schon zu konkret verstanden wäre.

© Camille Blake 

 

 

Torsten Flüh

 

MaerzMusik

bis 31. März 2019

 

TheLong Now

30. und 31. März 2019  

______________________________   

 

[1] Vgl. zu Hanns Eisler und seinem Komponieren auch: Torsten Flüh: Displaced People. Zu part file score von Susan Philipsz im Hamburger Bahnhof. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. Februar 2014 20:58.

[2] Vgl. zum Mythos des Virtuosen auch: Torsten Flüh: Neuer Rock und Klangzauber. ultraschall 2018: Ensemble Nikel rockt und das Rundfunk Sinfonieorchester Berlin dreht an der Klangspirale. In: NIGHT OUT @ BERLIN  6. Februar 2018 22:04.

[3] Siehe Torsten Flüh: Gefühl und Forschung in der neuen Musik. Zu den Konzerten des Notos Quartetts und des ensemble recherche sowie Chaya Czernowin bei ultraschall 2019. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Februar 2019 16:56.

[4] Giorgio Agamben: Time and History. In: ders.: Infancy and History. The Destruction of Experience. London/New York: Verso, 1993, S. 91. (Eigene Übersetzung) (monoskop.org)

Wiederkehr und Umordnung der Archive - Zu Tele-Visions in der Betonhalle und A Utopian Stage im Savvy Space

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Archiv – Forschung – Diskurs



Wiederkehr und Umordnung der Archive

Zu Tele-Visions in der Betonhalle und A Utopian Stage im Savvy Space des Kulturquartiers silent green 

Im Rahmen von MaerzMusik, festival für zeitfragen, geht es gleich um mehrere Archive. Archive sind geschichtsträchtige Orte. Was in Archiven zusammengetragen wird, bildet die Grundlage für Geschichten, die erst noch erzählt werden müssen. Sie konzipieren bereits ein Sammlungsgebiet, für das nach unterschiedlichen Kriterien gesammelt werden soll. Deshalb gibt es nicht nur Kriterien und Praktiken des Einschlusses, vielmehr schließen sie auch mögliche Sammlungen aus. Berno Odo Polzer hat mit Tele-Visions nun ein Konzept für eine kritische Mediengeschichte der neuen Musik im Fernsehen zwischen den 50er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt. Auf 6 Projektionsflächen werden in der Betonhalle bis 31. März jeweils zwischen 14:00 und 0:00 Uhr sehr unterschiedliche Musik-Fernsehformate gezeigt.  

Bonaventura Soh Bejeng Ndikung hat als Direktor von Savvy Contemporary Vali Mahlouji eingeladen, um in den Savvy Räumen im silent green A Utopian Stage zu zeigen. Mahlouji betreibt in Ermangelung eines Archivs eine Archäologie der letzten Dekade der iranischen Monarchie unter Schah Mohammad Reza Pahlavi insbesondere hinsichtlich des Kunstfestivals von Shiras zwischen 1967 und 1977. Nachdem Ayatollah Chomeini 1977 insistierte, dass in Shiras „unanständige Szenen gezeigt“ werden, wurde das interkulturell ausgerichtete Festival, bei dem sich die sogenannten Erste und Dritte Welt künstlerisch begegnen und inspirieren sollten, eingestellt. Handelte es sich also beim Kunstfestival-Shiras, auf dem Komponisten wie Iannis Xenakis und Karlheinz Stockhausen eine wichtige Rolle spielten, um ein elitäres Event der Schah-Monarchie? Oder wurde A Utopian Stage geschaffen, bei der erstmals Künstler*innen aus Afrika und Asien gleichberechtigt auftraten?  

Berno Odo Polzer forscht bereits seit 2009 in Fernseharchiven, als er für das Festival Wien Modern mit Andreas Lewin ein Filmprogramm zusammenstellte. Nun präsentiert er „Schätze aus über 20 Fernseharchiven, die die Geschichte der musikalischen Avantgarde der 1950er bis 1990er Jahre erzählen“.[1] In Anbetracht der mehr als 250 Filme, die über „200 Stunden Bewegtbilder“ auf 5 Projektionsflächen generieren, plus einer z.B. von George Lewis, Anke Charton, Diedrich Diederichsen & Nicolas Siepen kuratierten, darf man wohl von einer Großerzählung sprechen. Ganz lässt sich diese große Erzählung bei fünffacher Simultaneität kaum erfassen. Vierfünftel werden immer uneinholbar vorbeirauschen. Das ist vielleicht ein Problem des Archivs, dass es immer zur Überfülle tendiert. Jacques Derrida hat einmal die Frage mit Mal d‘Archive auf folgende Weise formuliert:

Muß man nicht damit beginnen, das Archiv von dem zu unterscheiden, worauf es allzu häufig reduziert wird, namentlich die Erfahrung des Gedächtnisses und die die Rückkehr zum Ursprung, aber auch das Archaische und das Archäologische, die Erinnerung oder die Ausgrabung, kurz, die Suche nach der verlorenen Zeit?[2]

Natürlich ist erst einmal die renovierte Betonhalle nicht six feet under the green, sondern etliche Meter mehr unter dem Rasen vor dem ehemaligen Krematorium Wedding spektakulär. Geschaffen für Archivierung wie Verflüchtigung, um es einmal so zu formulieren. Anfang Dezember 2009 wurde über die Nutzung der Liegenschaft des Landes Berlin schmunzelnd von einem „High End Chill Out“, Pimp up your crematory, gesprochen. Da ahnte der Berichterstatter nicht einmal, dass sich unter dem Rasen eine gigantische Halle befand. Ohne all zu sehr ins Detail gehen zu wollen, diente die Halle von geradezu industrieller Größe zur Aufbewahrung. Nun hat sie sich in einen beeindruckenden Veranstaltungsort voller Leben verwandelt. Nachdem in den vergangenen Jahren eine schalldämmende Decke verstärkt und der Rasen neu ausgesät wurde, dürfte sich die Betonhalle erst recht zum Hot Spot entwickeln.

Die Umbenennung der Trauer- in Kuppelhalle und die kühlheiße Betonhalle bei gleichzeitiger Dokumentation der Geschichte machen das silent green zu einem Kristallisationsort der aktuellen Diskurse. Deshalb lässt sich auch die Frage stellen, inwiefern Diskurse Archive umschreiben oder das Archiv selbst in einen diskursiven Ort verwandeln. Das Harun Farocki Institut als Mieter im silent green versteht sein Archiv „nicht als einen abgeschlossenen Bestandsondern als offene, sondern als offene, im Laufe der Zeit wachsende Sammlung von Materialien unterschiedlichster Materialität und Funktion“.[3] Archiv und Diskurs verknüpfen sich im Kulturquartier silent green auf mannigfache Weise, um damit mehr oder weniger direkt an die Kritik des Archivs durch Derrida anzudocken:

Äußerlichkeit des Ortes, topographische Bewerkstelligung einer Technik der Konsignation, Errichtung einer Instanz und eines Ortes von Autorität (der Archant, das archeion, das heißt häufig der Staat und gar ein patriarchischer oder fratriarchischer Staat), so sähe die conditio des Archivs aus. Dieses ergibt sich also niemals im Verlauf des Aktes intuitiver Anamnese, die, lebendig, unschuldig oder neutral, die Ursprünglichkeit eines Ereignisses wiederaufleben ließe.[4]

Der Begriff des Archivs eröffnet insofern einen ebenso faszinierenden wie widersprüchlichen Denkraum. Denn das „Archiv kann den möglichen Verlust gegen den es aufgeboten wird, nicht bannen: ihm ist die drohende Gefahr eingeschrieben“.[5] Derrida schreibt von der „Konsignationsmacht“ des Archivs als „Akt des Konsignierens im Versammeln der Zeichen“. Sie „strebt an, ein einziges Korpus zu einem System oder zu einer Synchronie zusammenzufügen, in dem alle Elemente die Einheit einer idealen Konfiguration bilden“.[6] Eingedenk dieser Vereinheitlichung sind nicht zuletzt die Fernseharchive mit ihren Musikgeschichten und einem Protagonisten wie Karlheinz Stockhausen kritisch zu erforschen. Zwar laden die eleganten Sitzmöbel vor den Projektionsflächen zum entspannten Fernsehen ein, aber eigentlich müsste statt einer Virtual Reality-Brille ein mikroskopisch-kritisches Okular aufgesetzt werden.

Forschen heißt Fragen stellen. Deshalb hat Berno Odo Polzer für Tele-Visions eine ganze Reihe von Fragen zur Geschichte der neuen Musik im Fernsehen formuliert. „Welchen Geschichtsnarrativen begegnen wir?“[7] Einerseits lädt er damit die Besucher*innen der Fernsehfilm-Ausstellung ein, selbst zu Forscher*innen zu werden. Andererseits übertrifft die Frage nach den „Geschichtsnarrativen“ deutlich das durchschnittliche Abiturniveau. Die folgende Frage – „Was ist die jeweilige Positionalität ihrer Erzähler*innen?“ –, wäre dann eher schon eine für fortgeschrittene Semester der Medienanalyse. Nicht dass der Berichterstatter dem nicht folgen möchte und eventuell könnte, aber mit derartigen Fragen wird dann doch eher eine Geste des Ausschlusses produziert. Um eine „Positionalität“ einer Erzähler*in formulieren zu können, muss man ehrlicher Weise den gleichen Film mindestens dreimal sehen.

Fragen müssen formuliert und gestellt werden. Aber dann hätte sich der Berichterstatter doch ein wenig mehr „Guidance“ z.B. durch ein Essay gewünscht. Das fehlt indessen im 112seitigen Fernsehprogrammheft. Ohnehin scheint das Programmheft nicht unbedingt zum Lesen gedacht zu sein, weil es in einem winzigen Schriftgrad gesetzt wurde. Es gibt kurze Inhaltsangaben zu den Filmen wie beispielsweise Ich werde „Die Töne“. Die Weltschau des Karlheinz Stockhausen. Der Film von 1971, der im WDR gezeigt wurde, ist 31 Minuten lang und wird noch einmal 29. März um 20:50 Uhr gezeigt. Vielleicht ist „Weltschau“ wirklich ein Bildungsbegriff der 70er Jahre. Eine „Weltschau“ musste es schon sein. Heute dürfte das bei jungen Menschen nicht mehr so en vogue sein.

Stockhausens Ideen zur Gesellschaft und Musik sind hier zu einer 30-minütigen Montage verarbeitet. Der Film besteht aus einem montierten Monolog des Komponisten…[8]   

Als Fernsehbild ist über der Inhaltsangabe ein Still platziert, auf dem Stockhausen in extremer Untersicht mit seinen Händen vor dem Objektiv gestikulierend gezeigt wird. Die Hände sind ins Riesenhafte verzerrt. Nun lässt sich zumindest in der visuellen Semantik der Kameraeinstellungen sagen, dass eine extreme Unter- oder Aufsicht immer eingesetzt wird, wenn Machtverhältnisse visualisiert werden sollen. Als Regisseur wird Hans G. Helms genannt, der als Schriftsteller, Komponist und Ideologiekritiker seit den 50er Jahren bekannt wurde. Er kannte Stockhausen offenbar schon seit den 50er Jahren. Der Titel scheint das praktische Vermögen der „Weltschau“ zu bestätigen. Wie ist dann der zweite Teil der Inhaltsangabe zu lesen?

Als Zeitdiagnose durchaus ernsthaft argumentiert und mit Hang zum Verschwörerischen, Esoterischen und Apokalyptischen, wird der musikalische Kosmos von Stockhausen interessant gerahmt und filmisch verspielt dargestellt, ohne dass seine Musik gespielt wird.[9]

 

Ist das jetzt ein redaktioneller Text von Polzer und/oder Siepen? Oder handelt es sich um einen Archivierungstext– möglicherweise von Hans G. Helms? Darüber gibt das Heft keine ausdrückliche Auskunft. Als eine Art Anleitung zum Sehen zitiert der Text auffällig den starken Stockhausen-Jargon. Müssen wir denn heute weiter von einem „musikalischen Kosmos“ Stockhausens sprechen? Dann bestätigt man auch all die anderen Welträume von i.d.R. (männlichen) Komponisten. Müsste man heute nicht analytischer über die Welt der Zeichen und Töne bei Karlheinz Stockhausen sprechen und schreiben? Der russische Kosmismus, wie er 2017 im Haus der Kulturen der Welt inszeniert und erforscht wurde, ist möglichweise diskurspraktisch nicht so weit von Stockhausens Rede vom Kosmos entfernt. Telemusik, Mantra und Inori lassen sich heute kaum noch als „Weltschau“ mit spirituellem Anspruch verstehen.[10]

Es ist nicht ganz einfach, eine Haltung zum Ausstellungsprojekt zu entwickeln. Zweifellos gibt es Schätze aus den i.d.R. verschlossenen Archiven zu sehen, wie die Filme aus der Reihe „Bernstein at Harvard“, wenn er etwa 1973 in der Norton Lecture über „The Unanswered Question“ und „The Delights and Dangers of Ambiguity“ spricht. Doch um einen anderen Diskussionspunkt drückt sich Polzer mit der Exklusivität seiner Ausstellung herum. Die Filme sind nämlich meistens in den Archiven z.B. der Öffentlich-Rechtlichen nahezu hermetisch verschlossen. Dass die Rundfunk- und Fernseharchive der mit der allgemeinen Rundfunkgebühr bezahlten Filme nicht einmal reguliert zugänglich sind, grenzt wenigstens an einem Skandal.

Das lässt sich nur als Staatsmacht benennen, auf die beim Archiv bereits Jacques Derrida und Michel Foucault aufmerksam gemacht haben. Aus vermeintlich urheberrechtlichen Gründen wehren sich die Juristen der Rundfunk- und Fernsehanstalten seit Jahren, die Archive digital zugänglich zu machen. Wenn man einmal die Gelegenheit hat mit einem Hausjuristen der Sender zu sprechen, wie es der Berichterstatter in einer Veranstaltung der Netzpolitiker in der SPD hatte, wird durch die Argumentation schnell klar, dass es weniger um Entgelte für Autoren und Urheber als vielmehr um eine Entscheidungsmacht des Staates geht. Diese Staatsmacht gerade im Fernseharchiv wäre auch mit der neuen Musik zu diskutieren gewesen. Polzer spricht sie in seiner Eröffnungsrede kurz an, um sie dann wie das weiße Kaninchen wieder im Zylinder verschwinden zu lassen.

Die Staatsmacht und die Archive spielen für die Ausstellung A Utopian Stage von Vali Mahlouji eine entscheidende Rolle. Denn die Rundfunk- und Fernseharchive des National Iranian Radio and Television, der von 1966 bis 1979 produzierte und sendete, sind in der Islamic Republic of Iran Broadcasting aufgegangen. Sie sind entweder hermetisch verschlossen und/oder von den Revolutionswächtern gesäubert worden. Deshalb hat Mahlouji als Exiliraner nun eine „Archäologie der letzten Dekade“ der Monarchie im Iran begründet und durchgeführt. Den zweiten Akt seiner Ausstellung nennt er: Shiraz-Persepolis: The Excavated Archives.[11] Bonaventure Soh Bejeng Ndikung hebt in seiner Einleitung zur multimedialen Ausstellung vor allem die Kraft des kulturellen Zusammentreffens oder Zusammenstoßes (encounter) hervor.

The encounter, that was the Shiraz Arts Festival, was well described by Vali Mahlouji when he said that the spontaneous jam sessions which took place between the legendary African American drummer, Max Roach, and Iranian tabla players; but also, the meetings that resulted as Mahasti Afshar has described in „Iannis Xenakis‘ Persephrasa and Persepolis (1969 and 1971, respectively), and Bruno Maderna’s Ausstrahlung, a spiritual journey through history that integrated recitations of Persian poetry (also in 1971); …[12]  

Ndikung sieht im „encounter“ als „a meeting of adversaries, a kind of confrontation, even a combat“ die produktive Kraft des Shiraz Arts Festival.[13] Gleichzeitig ging das Schah-Regime keinesfalls zimperlich um mit seinen Staatsfeinden, denen ein produktiver Zusammenstoß mit der Staatsgewalt verwehrt blieb. Die Opposition in der iranischen Monarchie, die die deutsche Boulevardpresse schon deshalb liebte, weil Reza Pahlevi mit Soraya 1951 die Tochter der Berlinerin Eva Karl heiratete, war in den 70er Jahren vielfältig oder auch zerstritten, so dass schließlich ein fundamentalistischer Islamismus obsiegte. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung sieht indessen die Funktion des Festivals in einer damals einzigartigen Praxis des encounter von Erster und Dritter Welt oder von Nord und Süd. Er hebt die Spontaneität ganz wie Mahlouji hervor, mit der neuartige Formen der Kunst im Festival ermöglicht wurden. Allerdings gab es seit den frühen 70er Jahren wiederholt Einwände von linken Kritiker*innen außerhalb und innerhalb des Irans.[14]

Die Bruchstellen zwischen den durchweg avantgardistischen Künstlern des Festivals wie z.B. Iannis Xenakis und den Oppositionellen im Iran werden von Mahlouji während der Führung mit Pressevertreter*innen nicht thematisiert. Vielmehr entwickelt der Kurator ein nahezu bruchloses Narrativ der internationalen und durchaus meist linken Avantgarde, mit dem er an einen Diskurs gegen die westliche, weiße Vorherrschaft in der Kunst und Musik anknüpft. Die Funktion beispielsweise der Spiritualität bei Karlheinz Stockhausen lässt sich indessen alles andere als nur positiv zu bewerten. Gerade Sri Aurobindo und die Mutter, an die Stockhausen anknüpft, lassen sich heute auch kritisch sehen. Die Spiritualität bei Stockhausen verspricht, auf prekäre Weise durchaus Diverses zu vereinen.

In 1972, the festival brought several destinctive European and American experimental practioners into proximity with the Asian traditions to which they were indebted. (…) Karlheinz Stockhausen’s compositions aimed at reaching a state of inner ascetism and spirituality correlating with philosophies of Hinduism.[15]

Vali Mahjouli knüpft an Aby Warburgs visuellen Atlas an, wenn er verspricht einen „interactive and ongoing Cultural Atlas“, der eine fragmentierte Geschichte des langen 20. Jahrhunderts zaubert (conjures).[16] Dieser „Cultural Atlas is a live object“. Ohne Georges Didi-Huberman ausdrücklich für sein Konzept des „Cultural Atlas“ anzugeben, erinnert das Konzept sehr an dessen Atlas oder die unruhige Wissenschaft.[17] Mahjouli remontiert ganz im Sinne Hubermans das Bild- und Erzählmaterial des Shiraz Arts Festival.

Das Unerschöpfliche an Warburgs Wissen rührt nicht nur von der Überfülle des ikonographischen Materials her, das wir im Mnemosyne-Atlas vorüberziehen sehen, von den babylonischen Tonlebermodellen bis zu den Pressefotografien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er rührt auch – und vor allem – von jener Fähigkeit zur Blickverschiebung her, die aus Warburg einen richtiggehenden »Seher der Zeiten« macht, eine Remonteur der verlorenen Zeiten (die zwar verloren, aber bis in unsere intimste Zeitgenossenschaft hinein wirksam sind).[18]

A Utopian Stage fasziniert nicht zuletzt deshalb als Ausstellung und Atlas der letzten Dekade in den 70er Jahren, weil alle damals und heute bekannten Namen fallen. Andy Warhol nannte es name dropping. Die 73 Medien werden ausgestellt und es fallen die Namen David Tudor, Merce Cunningham, Andy Warhol, Karlheinz Stockhausen, Shanta Rao etc. Doch eine genauere Beschreibung der Zusammenstöße finde nicht statt.  

 

Torsten Flüh

 

MaerzMusik

bis 31. März 2019

 

Tele-Visions

A Critical Media History of New Music on TV (1950s-1990s)

silent green - Betonhalle    

bis 31. März 2019 14:00-0:00 Uhr

 

A Utopian Stage

Savvy Contemporary

bis 27. März 2019 14:00-19:00 Uhr

_______________________________  



[1] Berno Odo Polzer: Vorwort. In: ders., Nicolas Siepen: Tele-Visions. A Critical Media History of New Music on TV (1950s-1990s). Berlin: Berliner Festspiele, 2019, S. 3.

[2] Unterstreichungen im Original. Jacques Derrida: Waschzettel / Zur gefälligen Beachtung. In: ders.: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. (Übersetzung Hans-Dieter Gondek, Hans Naumann) Berlin: Brinkmann + Bosse, 1997, S. 1-2 (ohne Seitenzahl). (Zuerst als Mal d’Archive. Paris: Galilée, 1995.)

[4] Jacques Derrida: Waschzettel… [wie Anm. 2], S. 2.

[5] Hans-Dieter Gondek/Hans Naumann: Mal d’Archive. Ebenda S. 7/8.

[6] Jacques Derrida: Dem Archiv … [wie Anm. 2], S. 18.

[7] Berno Odo Polzer: Vorwort… [wie Anm. 1].

[8] Ebenda S. 58.

[9] Ebenda.

[10] Vgl. dazu Torsten Flüh: Spiritualität und elektronische Geisterkunst. Zum Stockhausen-Zyklus mit Telemusik, Mantra und Inori beim Musikfest. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. September 2018 17:09.

[11] Vali Mahlouji: Concept. In: Savvy Contemporary: A Utopian Stage curated by Vali Mahlouji. Berlin: Savvy, 2019, S. 5.

[12] Bonaventure Soh Bejeng Ndikung: Introduction. In: Ebenda S. 3.

[13] Ebenda.

[14] Die Kritik wurde beispielsweise von befreundeten linken Oppositionellen gegenüber dem Berichterstatter deutlich erneuert. Sie ist selbst auf Wikipedia relativ gut dokumentiert: https://de.wikipedia.org/wiki/Schiras-Kunstfestival 

[15] Vali Mahlouji S. 7.

[16] Ebenda.

[17]Georges Didi-Huberman: Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft. Paderborn: Fink, 2016. Vgl. zum Atlas und Didi-Huberman auch: Torsten Flüh: Unendliche Erhebungen. Georges Didi-Huberman spricht über Endless Uprisings. The Image as a Medium of Desire in seiner Mosse-Lecture. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 17, 2017 20:31.

[18] Ebenda S. 301-302.

Von der Zeitlichkeit des menschlichen Wesens - Zu Jennifer Walshes und Timothy Mortons Musikperformance Time Time Time bei MaerzMusik

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Zeit – Wissen – Sein

 

Von der Zeitlichkeit des menschlichen Wesens

Zu Jennifer Walshes und Timothy Mortons Musikperformance Time Time Time bei Maerzmusik

 

Sie sind winzig. Kaum zu erkennen liegen sie versteinert auf einem weißen Tuch, das auf einem Tablett am Eingang zum Haus der Berliner Festspiele ausgebreitet ist. Was ist das? Was hat das mit dem, nennen wir es, Musiktheaterstück Time Time Time zu tun, das gleich als Deutsche Erstaufführung im Rahmen von MaerzMusik, festival für zeitfragen, gezeigt und gespielt werden wird? Die Komponistin ebenso wie Stimmkünstlerin Jennifer Walshe und der amerikanische Literaturwissenschaftler Timothy Morton werden ein Stück aufführen, das die Zeit in Bezug zum menschlichen Wesen und seinem Wissen von sich selbst behandelt. Mit den winzigen Versteinerungen geht es um viel Zeit. Die Besucher*innen werden auf einem kleinen Zettel eingeladen, „den Ammoniten während der Performance bei sich zu tragen und anschließend zu behalten“.

 

 

Um meinen Ammoniten zu fotografieren, braucht es fast ein Mikroskop. So winzig er auch sein mag, verkörpert er das Wissen von dem „vorzeitlichen Kopffüßler und 140 Millionen Jahre(n)“. Insofern hat der Ammonit Zeit gespeichert. Wenn er in die Aufführung von ca. 70 min. mitgenommen wird, dann ist das für ihn eine unvorstellbar winzige Dauer. Doch er wird da gewesen sein. So wie der Mensch als Geschlecht seit einer winzig kurzen Zeit auf der Erdoberfläche existiert. Der Ammonit und ich als menschliches Wesen verbringen die Zeit der Performance miteinander. Das ist fast so wie Timothy Morton während der gesamten Aufführung im Schneidersitz auf einem Kissen auf der Bühne sitzt, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Der Zeit-Philosoph teilt für fast nichts seine Zeit mit den Performer*innen und dem Publikum.

 

 

Time Time Time ist als eine forschende Text- und Sound-Collage angelegt. Auf der Bühne ist an Tischen eine Art Zeit- und Soundlabor eingerichtet mit einer Leinwand, auf der verschiedene Projektionen der Zeit erscheinen. Jennifer Walshe hat für die Leinwand ein Video aus vielartigen Fragmenten montiert, die mit dem Klang korrelieren. Aufnahmen aus einem Labor für Zeitforschung. Im Abspann wird sie Prof. Paul Barrett vom Natural History Museum, London, ebenso wie Dr. Anne Curtis vom National Physical Laboratory, UK, The Prelinger Archive und dem NASA Space Visualization Studio wie vielen anderen Danken. Unter anderem erscheint die Abbildung „Quantum Mechanics and Closed Timelike Curves“ von Florin Moldoveanu vom Department of Theoretical Physics and Nuclear Engineering in Bukarest. Es erscheinen Visualisierungen der Zeit und Zeitprobleme.

 

 

Jennifer Walshe, Áine O‘ Dwyer, Lee Patterson und M. C. Schmidt experimentieren und performen an Labortischen mit Objekten, Laptops und Mischpulten. Die Duos Streifenjunko und Vilde & Inga korrespondieren mit Saxofon, Trompete, Violine und Kontrabass von den Seitenrängen des Hauses. Stimmen und Harfe werden mit Soundexperimenten von Lee Patterson und Electronics gemischt und gesteuert. Beispielsweise gibt der Klangexperimentator mit einem Teelöffel ein weißes Pulver in ein Wasserglas, das mit kleinen Mikrophonen abgehört wird. Er betreibt geradewegs eine „Feldforschung“, mit der „die Reichweite des Feldes, von der Makro- bis zur Mikrosonik,“ erforscht. Denn er „ist darauf spezialisiert, die ungehörten, verborgenen Geräusche, die in einer Vielzahl von Medien in der Umgebung zu finden sind, zu zeigen“. Das Soundspektrum reicht „von festen Materialien bis zu wässrigen“.[1]  

 

 

Für das Soundlabor zur Zeit auf der Bühne bringt Jennifer Walshe also gleich mehrere Avantgard-Künstler*innen zusammen. Was hörbar wird an bislang „ungehörten, und verborgenen Geräusche(n)“, hat nicht nur mit der Fähigkeit des Menschen zu hören zu tun. Vielmehr wird mit der „Feldforschung“ von Patterson ein Bereich des Hörens eröffnet, den er bislang nicht wahrnehmen konnte. Die Wahrnehmung des Menschen hat auch etwas mit seiner Geschichte und nicht nur mit seiner Physiologie zu tun. Das physiologische Problem des Ungehörten wird durch Patterson verschoben, indem es technisch erstmals und für einmal hörbar gemacht wird, ohne dass der Mensch im Publikum es distinkt wahrnehmen und einordnen kann. Das übt eine hohe Faszination aus und spricht die Frage nach der Zeit in ihrer Dimension als Geschichte an.

© Camille Blake

 

Was ist Geschichte? Giorgio Agamben hat einmal in einem kleinen Büchlein formuliert, dass „Geschichte, in der Form, wie wir sie kennen, (…) stets nur Aufschub von Geschichte (war)“.[2] Er gibt damit zu bedenken, „in das Herz selbst von Geschichte und Zeit“ als „Alternative“ zu einer Wahrnehmung unserer Zeit als „Zeitalter“ vorzudringen. Vielleicht ist Geschichte für die Selbstwahrnehmung des Menschen zugleich unerlässlich und restriktiv. Die Geschichte des Ammoniten und das winzige Ich. Die Gattung der urweltlichen Kopffüßler und der Kopfmensch. Wenn nach Agamben das Herz von Geschichte und Zeit unaufhörlich schlägt, dann besteht „nur an dem Punkt, wo ihr Puls innehält, … Hoffnung, die in ihr verschlossene Gelegenheit zu ergreifen, bevor sie erneut an ein historisch-epochales Geschick sich verrät“. Darin sah Agamben 1985 eine Chance, wenn man so sagen kann, seiner „Generation“[3], anstatt in „Begriffe wie Postmoderne, Neue Renaissance oder ultrametaphysische Menschheit“ als „Körnchen Fortschrittsgläubigkeit“ zu verfallen.[4]   

In der hartnäckigen Gewohnheit, uns Zeit zu lassen, entgleitet und die Bedeutung dieser Gabe, wie in unserem Drang, das Wort zu ergreifen, der Grund der Sprache selbst sich entzieht.[5]



© Camille Blake

 

Nicht zuletzt die Evolution als Fortschritt in der biologischen Entwicklung vom Kopffüßler oder Cephalopoda zum Kopfmenschen lässt sich als Geschichte kritisch bedenken. Jennifer Walshe und Timothy Morton verarbeiten diese Ebenen in den Texten und der Performance von Time Time Time. Morton performt eine an den Zen-Buddhismus erinnernde Meditationshaltung. Er schweigt. Wie sehr er „das unbezwingliche Geplapper der Seele zu leeren, auszutrocknen und in Sprachlosigkeit zu versetzen“, wie es Roland Barthes formulierte[6], vermag, wissen wir nicht. Doch er nimmt die Haltung ein, die während des schier „unbezwinglichen Geplapper(s)“ von Zeit auf der Bühne wenigstens einen Kontrapunkt setzt. Morton und Walshe verfahren mit den Zeitwissenschaften des Menschen, die er betreibt wie sie ihn formen, ebenso analytisch wie „flexibel“.

Ich benutze wissenschaftliche Forschung genauso wie ich mit interessanten Gegenständen oder Sounds umgehe, flexibel und locker … Natürlich betreibe ich mit meiner Arbeit keine „Philosophie“ … Timothy Morton sieht das übrigens genauso. Er denkt wie ich, nämlich dass wir einfach zwei Menschen sind, die über das Leben sprechen. Und über das Leben sprechen, bedeutet über Zeit zu sprechen.[7]  



© Camille Blake

 

Die Zeitgeschichtenüberstürzen einander. Mit ca. 70 Minuten geht es um recht vielfältige Geschichten von Zeit zwischen dem Beginn des Lebens mit cephalopodischen Ammoniten im Erdzeitalter des Unterdevon und dem Ende der Kreidezeit, der Zeit, wie sie durch das Britische Empire mit der Greenwich Mean Time gesetzlich 1880 eingeführt und von 1884 bis 1924 als Weltzeit verbindlich war, oder der Anti-Aging-Creme im Supermarktregal. Ganz abgesehen von minutiösen Garzeiten bei Kochrezepten und Fitness-Training-Zeiten bei McFit etc. Abfahrts- und Ankunftszeiten bei Bus, Tram und Bahn ebenso wie Flugzeiten durchdringen und beherrschen die Lebenspraktiken.

Wenn uns niemand danach fragt, wissen wir, was (die Zeit) ist. Oder zumindest wissen wir, was eine der verschiedenen Versionen davon ist. Tiefe ökologische Zeit, evolutionäre Zeit, Zeitreise, Längengrad, Zeitausdehnung und -kontraktion, alternative Zeitachsen und Paralleluniversen. Polyphasischer Schlaf, Anti-Aging-Cremes, biologische Uhren, Neuronengruppen in unserem Gehirn und Schwarze Löcher.[8]



© Pieter Kers

 

Vor kurzem hat sich der Kurator Hans Ulrich Obrist mit Timothy Morton anlässlich einer Ausstellung zu Visionen der Zukunftüber Zeit unterhalten. Morton kritisiert insbesondere das ökologische Modell des zeitgenössischen Denkens, das er als eines der Landwirtschaft herausgearbeitet hat.   

Wissen Sie, der Kapitalismus, der Feudalismus, der Kommunismus, was auch immer, alles beruht auf diesem Modell der Landwirtschaft, das sich zu dieser Zeit im Fruchtbaren Halbmond und auch in Lateinamerika und Asien entwickelte, und wir waren in ihm und haben auch alle anderen Lebensformen. Und sehr erfolgreich und effizient, basierend auf der Philosophie, die dort fest verankert ist, haben wir es geschafft, das sechste Massensterben zu bewirken, und wenn wir das nicht weiter verfolgen wollen, könnten wir daran interessiert sein, etwas entwickeln zu tun, was nicht der Fall ist, und das bedeutet, dass es vor allem viele, viele verschiedene Wege gibt, viele, viele verschiedene politische Systeme, es gibt keinen einheitlichen Weg und es bedeutet wirklich, eine andere philosophische Sichtweise zu akzeptieren, nach der die Dinge nicht sind nur ein Klumpen von [macht ein Geräusch, um auf etwas Namenloses und Undefinierbares hinzuweisen], das darauf wartet, dass ich entscheide, was sie sind, weil ich ein Mensch bin, goo goo g'joob: „Ich bin das Walroß, ich kann alles in alles verwandeln, alles ist ein Urinal, wenn ich es unterschreibe - das ist die Version der Kunsttheorie, richtig - wenn ich es mit meiner Unterschrift unterschreibe, ist es Kunst -, richtig?[9]  



© Pieter Kers

 

Timothy Morton hat das Konzept der hyperobjects formuliert, das mit der Philosophie und der Ökologie verknüpft ist. Dabei versteht er die Ökologie als Zusammenschaltung oder Verflechtung (interconnection) aller Lebensformen. Dazu gehören die hyperobjects, die als Neologismus an die Hyperlinks oder Links in der Verknüpfungspraxis des Internets erinnern können und wohl auch sollen. Entscheidend ist dabei, dass Mortons Ökologie auf einer Praxis der Interconnection als Zusammenschaltung mehrerer unabhängiger Netzwerke basiert, die sich wie die Intertextualität in der Literaturwissenschaft verstehen ließe. Die hyperobjects nehmen in diesem Denken der Ökologie eine besondere Funktion hinsichtlich ihrer Zeitlichkeit ein. Ihre Raumzeit ist „massiv größer“ und „die leistungsfähigsten Computer“ können sie „in Echtzeit modellieren“.

Sie können sie denken, aber Sie können sie nicht sehen, Sie können sie nicht berühren, und dies sind die Hyperobjekte. Und eine davon ist natürlich die Biosphäre. Man sieht Hasen, man sieht Hans Ulrich, aber man sieht die Biosphäre nicht. Trotzdem ist es echt und es hat eine Art Abwärtskausalität bei Hasen und Hans Ulrich. Sie können es sich denken, aber Sie können es nicht sehen oder anfassen, es hält sehr lange an, ist in Bezug auf die Raumzeit massiv größer als Sie, es übertrifft Sie, und das nenne ich ein Hyperobjekt. Und es gibt all diese anderen Hyperobjekte, wie globale Erwärmung, wissen Sie, es sind nicht nur Daten, es ist eine Sache, es ist eine sehr hochdimensionale Sache, die Sie nicht als begrenzten 3-D-Menschen sehen können. Die leistungsfähigsten Computer der Erde können es in Echtzeit modellieren. Sie können es also nicht wirklich sehen, Sie können es nicht wirklich anfassen, aber es ist real und Sie können es irgendwie bei dem Wetter fühlen, aber es ist nicht das Wetter, wissen Sie?[10]  

© Pieter Kers

 

Die Modellierung der Hyperobjekten in Echtzeit durch die „leistungsfähigsten Computer der Erde“ gibt einen Wink über ihre Natur. Es sind eben jene Zusammenschaltungen, die die Hyperobjekten als Reales und wohl auch als Macht, wie es Michel Foucault formuliert hätte, modellieren. Dabei ist das Modellieren eine andere Praxis als das Kreieren. Man könnte vielleicht sogar sagen, dass die Performance Time Time Time, in der Weise wie sie unsichtbar und unhörbar modelliert wird, ein Hyperobjekt aus einer Zusammenschaltung der „schnelle(n) digitale(n) Zeit von Matmos’ M. C. Schmidt und Walshe; d(en) tiefen geologischen Rhythmen des Instrumentenbauers Lee Patterson; d(en) unterschwelligen Drohnen der irischen Experimentalistin Áine O’Dwyer“ an der Harfe; den „tektonischen Klangplatten der norwegischen Ensembles Streifenjunko und Vilde & Inga; d(em) Publikum, dessen Entropie demonstriert, dass die Zeit tatsächlich vergeht …“.[11] 


 

Das Publikum steuert über Wärmekameras die Dauer der Performance. Das lässt sich zwar während der Aufführung nicht so genau überprüfen. Aber es wird konzeptuell so versprochen. Die Mitwirkenden gehören wie Jennifer Walshe zu den wichtigsten Avantgarde-Künstler*innen. M. C. Schmidt, Áine O’Dwyer, Streifenjunko, Vilde & Inga sowie Lee Patterson haben selbst eigene Musikpraktiken entwickelt. Das unterscheidet die Performance auch von einer Oper, wie sie Jennifer Walshe zunächst angedacht hatte. Stattdessen hat sie die eigenständigen Künstler*innen eingeladen, um etwas mit ihr zu produzieren, das mit Publikum für einmal in einer bestimmten Zeit stattfindet.

 

Torsten Flüh

 

Jennifer Walshe & Timothy Morton

Time Time Time

Interview

Weitere Aufführungen

 

MaerzMusik 2020

Festival für Zeitfragen

20. bis 29. März 2020

________________________


[1] Sounds of Europe: Lee Patterson: Discription of Work with field recording. (Sounds of Europe)

[2] Giorgio Agamben: Idee der Prosa. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 82.

[3] Die Erstveröffentlichung des italienischen Textes fand 1985 als Idea della prosa bei Giangiacomo Feltrinelli statt. Ebenda S. 4 (ohne Seitenzahl).

[4] Ebenda S. 81.

[5] Ebenda S. 82.

[6] Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1981, S. 102.

[8] Ebenda.

[9] Timothy Morton & Hans Ulrich Obrist. The following conversation was held on the occasion of the Serpentine Galleries’. Extinction Marathon: Visions of the Future. (2014) In: Dis. (Übersetzung Torsten Flüh)

[10] Ebenda.

[11] Programmdetail wie Anm. 7.

Schrecken der Nachträglichkeit und Zeitgespür - Zur Berliner Aufführung von Die Stadt ohne Juden (1924) mit Musik von Olga Neuwirth

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Roman – Antisemitismus – Pogrom

 

Schrecken der Nachträglichkeit und Zeitgespür 

Zur Berliner Aufführung von Die Stadt ohne Juden (1924) mit Musik von Olga Neuwirth 

 

Wien– Berlin: Der Journalist und Romanautor Hugo Bettauer nennt 1922 in seinem „Roman von übermorgen“ bereits im zweiten Satz Wien als Schauplatz. Im Rahmen von MaerzMusik, festival für zeitfragen, beginnt Josef Bierbichler die Lesung mit der Rede des Bundeskanzlers Dr. Schwertfeger vor dem Parlamentsgebäude. Bierbichler liest, man könnte sagen, bodenständig. Doch als er liest, weiß das Publikum noch nicht, dass es ein Text von 1922 ist. Schwertfegers Rede klingt, als hielte ein Herr Gauland oder ein Herr Meuthen oder eben die entsprechenden Herren in der aktuellen Regierung des wunderschönen – „Felix Austria“ – Alpenlandes sie.

Die Sprache und die Argumentation der Antisemiten haben sich auf gespenstische Weise nicht geändert, wenn es darum geht, Menschen, Bürger gar, auszugrenzen und zu vertreiben. Sie gleichen buchstäblich denen der Identitären Bewegung eines Martin Sellner aus Wien, von dem jetzt bekannt geworden sein soll, dass er als Jugendlicher Hakenkreuze an eine Synagoge geklebt habe. Es wird eine Bedrohung eines genuinen Volks konstruiert, das es so niemals gegeben hat. Schwertfeger lobt die Juden erst, um dann die Notwendigkeit ihrer Vertreibung zu rechtfertigen. Der „Roman von übermorgen“ klingt gefährlich nah. Josef Bierbichler verstärkt den Schrecken durch seine Glaubwürdigkeit. Die Lesung aus dem Roman von Bierbichler und Samuel Finzi rückt den Film Die Stadt ohne Juden von 1924 unangenehm nah an aktuelle politische Redeweisen.  

Die Lesung und die Filmvorführung mit neuer hochsensibler Musik von Olga Neuwirth für Die Stadt ohne Juden im Haus der Berliner Festspiele wirken gespenstisch. Das Gespenst des Antisemitismus wechselt seine Erscheinungsformen. Der Wiener Martin Sellner, Co-„Leiter“ der Identitären Bewegung Österreich sieht sogar ganz hübsch aus und kann sich durchaus artikulieren, obschon extrem schräg. Man braucht nicht all zu viel Fantasie, um im Islamhass des Massenmörders von Christchurch Strukturen des Antisemitismus zu erkennen. In beiden Fällen speist sich der Hass aus Fantasien der Selbst-Reinigung. Und das wird mit den ersten Sätzen der Rede von Schwertfeger klar. Der 1924 von Hans Karl Breslauer in Wien verfilmte Roman wird in ein vages „Utopia“ verlegt. Doch die antisemitischen Narrative glichen und gleichen sich in Wien wie in Berlin.


© Camille Blake

Das christlich-europäische Gespenst des Antisemitismus oder Judenhasses mündete seit der frühen Neuzeit wiederholt in Pogrome. Insofern ist Hugo Bettauers „Roman von übermorgen“ zugleich einer von vorgestern. Beispielsweise ist der Frankfurter Fettmilch-Aufstand von 1614 gut dokumentiert und wurde bereits seit 1890 von J. Kracauer in der Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland aufgearbeitet.[1] Er wurde vor allem deshalb gut dokumentiert, weil es zu einem kaiserlichen Prozess gegen die aufständischen Frankfurter unter der Führung des Lebkuchenbäckers Vinzenz Fettmilch kam. Die Untersuchungen der „Kaiserlichen Commission“ umfassten über „90 Foliobände“, wie Kracauer angibt.[2] Am 23. August 1614 wurde zunächst die Frankfurter Judengasse angegriffen, zerstört und geplündert, woraufhin 1380 Juden die Stadt verlassen mussten. Nach einem langwierigen Prozess wurden Fettmilch und seine Handwerkskumpane am 28. Februar 1616 hingerichtet und die Juden feierlich in die Judengasse zurückgeführt.


© Camille Blake

Diesen groben Verlauf des Fettmilch-Aufstandes vorauszuschicken, erscheint notwendig, weil der vermeintliche „Roman von übermorgen“ geradewegs dem gleichen Pogromablauf folgt. Die Frankfurter Juden, und das konnte Hugo Bettauer durch kursierende Erzählungen wissen, feiern noch heute am 28. Februar das Freudenfest Purim Vinz. In modifizierter Weise hatte sich allerdings um 1920 ein Antisemitismus in Wien verbreitet, der eine Wiederholung der Vertreibung der Juden denkbar machte. In gewisser Weise bekam die „alte“ Geschichte bei Hugo Bettauer und in der Verfilmung von Breslauer nun einen satirischen Zug. Breslauer lässt Wien durchschimmern. Doch eigentlich geht es um die Argumentationsmuster für Pogrome, wie sie seit dem Mittelalter und der frühen Neuzeit den Juden immer wieder widerfahren sind. Erst im Nachhinein erhält Die Stadt ohne Juden gänzlich ohne satirischen Unterton eine prophetische Dimension.

Sonst pflegten bei ähnlichen Demonstrationen hier und dort Leute mit gebogener Nase oder besonders schwarzem Haar weidlich verprügelt zu werden; diesmal kam es zu keinem solchen Zwischenfall, denn Jüdisches war weit und breit nicht zu sehen, und zudem hatten die Kaffeehäuser und Bankgeschäfte am Franzens- und Schottenring, in weiser Erkenntnis aller Möglichkeiten, ihre Pforten geschlossen und die Rollbalken herabgezogen.[3]


© Camille Blake

Das Theater, der Roman und der Film erhielten eine enorme „öffentliche Bedeutung“, wie Hannah Arendt bereits 1951 in der Originalausgabe von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft unter dem Titel The Burden of Our Time formulierte. Das „Theater selbst wurde zum Mittelpunkt des nationalen Lebens“ und des Antisemitismus bzw. dessen Darstellung. Eine „Institution, deren öffentliche Bedeutung sicherlich größer war als die des Parlaments. Die theatralische Qualität der politischen Welt war so offensichtlich, dass das Theater als Bereich der Realität erscheinen konnte“.[4] Die darstellenden Künste übertreffen insofern die Politik im Parlament an Realität. Es ist dieses Verhältnis von Roman und Film zum Parlament, das von Hugo Bettauer als Journalisten, Romanautor und Erotikpublizist praktiziert und in einem Maße mit Die Stadt ohne Juden nutzt, dass er schließlich von einem nationalsozialistischen Attentäter tödlich angeschossen wird.  

 

Den Bundeskanzler Dr. Schwertfeger, wie Josef Bierbichler, ihn las, könnte man fast als Inkarnation des Anstandes bezeichnen. Der leicht satirische Unterton verschwindet, insofern er heute erneut von der Neuen Rechten als Wahrheit ausgeübt wird. Der und das Andere wird mit der Rhetorik des Anstandes zum Volksfeind erklärt. In dieser Rhetorik des Anstandes lässt sich der Antisemitismus mühelos durch einen Islamhass ersetzen. Hugo Bettauer zeigt sich als ein äußerst genauer Beobachter und Rhetoriker, wenn er die Rede Schwertfegers auf folgende Weise beginnen lässt.

»Verehrte Damen und Herren! Ich lege Ihnen jenes Gesetz und jene Änderungen unserer Bundesverfassung vor, die gemeinsam nichts weniger bezwecken, als die Ausweisung der nichtarischen, deutlicher gesagt, der jüdischen Bevölkerung aus Österreich. Bevor ich das tue, möchte ich aber einige rein persönliche Bemerkungen machen.
Seit fünf Jahren bin ich der Führer der christlichsozialen Partei, seit einem Jahr durch den Willen der überwiegenden Mehrheit dieses Hauses Bundeskanzler. Und durch diese fünf Jahre hindurch haben mich die sogenannten liberalen Blätter wie die sozialdemokratischen, mit einem Wort alle von Juden geschriebenen Zeitungen, als eine Art Popanz dargestellt, als einen wütenden Judenfeind, als einen fanatischen Hasser des Judentums und der Juden. Nun, gerade heute, wo die Macht dieser Presse ihrem unwiderruflichen Ende entgegengeht, drängt es mich, zu erklären, daß das alles nicht so ist. Ja, ich habe den Mut, heute von dieser Tribüne aus zu sagen, daß ich viel eher Judenfreund als Judenfeind bin!«[5]


© Camille Blake

Schwertfeger erweist sich so sehr als ein Meister der Rhetorik, dass sich in der Islamdebatte Ähnlichkeiten mit bayrisch „christlichsozialen“ Politikern der Gegenwart kaum überhören lassen. Politik ist immer Rhetorik und umgekehrt. Auch die karnevalistischen Rhetorikübungen der neuen Bundesvorsitzenden der Christlich Demokratischen Union folgen fast der gleichen Praxis. Im Karneval kann man es wenigstens einmal ausprobieren, ob man die Genderdebatte und das Gender-Sternchen* nicht wieder abschaffen sollte. Ganz gewiss wäre die bio-logische Frau, wenn es darauf ankommt, eine Freundin der Trans- und Intermenschen. Aber mit den Toiletten sollte es doch nicht zu weit gehen. Hugo Bettauer hatte als Journalist und Romanautor offenbar ein ziemlich genaues Gespür für die politische Rhetorik. Denn zum Judenfreund erklärt sich Schwertfeger nur, um sogleich deren Ausweisung zu rechtfertigen und als Gesetz zu verabschieden.

 »Trotzdem, ja gerade deshalb wuchs im Laufe der Jahre in mir immer mehr und stärker die Überzeugung, daß wir Nichtjuden nicht länger mit, unter und neben den Juden leben können, daß es entweder Biegen oder Brechen heißt, daß wir entweder uns, unsere christliche Art, unser Wesen und Sein oder aber die Juden aufgeben müssen. Verehrtes Haus! Die Sache ist einfach die, daß wir österreichische Arier den Juden nicht gewachsen sind, daß wir von einer kleinen Minderheit beherrscht, unterdrückt, vergewaltigt werden, weil eben diese Minderheit Eigenschaften besitzt, die uns fehlen! Die Romanen, die Angelsachsen, der Yankee, ja sogar der Norddeutsche wie der Schwabe -- sie alle können die Juden verdauen, weil sie an Agilität, Zähigkeit, Geschäftssinn und Energie den Juden gleichen, oft sie sogar übertreffen. Wir aber können sie nicht verdauen, uns bleiben sie Fremdkörper, die unsern Leib überwuchern und uns schließlich versklaven…«[6] 


© Camille Blake

Die Generalisierungen von Eigenschaften einer Bevölkerungsgruppe schaffen allererst einen „Fremdkörper“, der den „Volkskörper“ bedroht. Darin liegt das rhetorische Kunststück, das einen Wink gibt auf die Rede des Marcus Antonius in William Shakespeares Drama The Tragedy of Julius Caesar. Vielleicht ist Rhetorik heute nicht mehr en vogue, vielleicht nennt man es heute „Framing Handbuch“ wie die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling. Doch letztlich ist das „Framing“ ein neuartiges Wording für Rhetorik als Sprachgebrauch. Um dem „Volk“ das Ungeheuerlichste zu sagen, muss man wissen, wie man es sagen soll. Shakespeares Rede des Marcus Antonius gehörte nicht nur Generationen lang zum Schulstoff, sie lehrte wie bei Schwerdtfeger die richtige Kombination der Worte. Loben, um zu morden: „Friends, Romans, countrymen, lend me your ears“ oder nach der Übersetzung August Wilhelm von Schlegels:

Mitbürger! Freunde! Römer! hört mich an:
Begraben will ich Cäsarn, nicht ihn preisen.
Was Menschen Übles tun, das überlebt sie,
Das Gute wird mit ihnen oft begraben.
So sei es auch mit Cäsarn! Der edle Brutus
Hat euch gesagt, daß er voll Herrschsucht war;
Und war er das, so war's ein schwer Vergehen,
Und schwer hat Cäsar auch dafür gebüßt.
Hier, mit des Brutus Willen und der andern
(Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann,
Das sind sie alle, alle ehrenwert),
Komm ich, bei Cäsars Leichenzug zu reden.
Er war mein Freund, war mir gerecht und treu;
Doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war,
Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann.
Er brachte viel Gefangne heim nach Rom,
Wofür das Lösegeld den Schatz gefüllt.
Sah das der Herrschsucht wohl am Cäsar gleich?
[7]

© Camille Blake

Die Szene der Rede gleicht in der Verfilmung denn auch dem „Forum“ als Parlament, das Shakespeare als Schauplatz vorsieht. Hugo Bettauer wird seinen Julius Cäsar gelesen haben, um Schwertfegers Rede zu formulieren. Sie ist Fiktion, um dennoch 1922 den Nerv der Zeit genau zu treffen, weshalb ihr Autor nach mancherlei Eskalation und wochenlangen Medienkampagnen am 10. März 1925 in Tötungsabsicht von dem Mitglied der NSDAP Otto Rothstock angeschossen wird. Am 26. März erlag Bettauer den Schussverletzungen. Die Verfilmungen hatte in gewisser Weise einen Wirklichkeitseffekt generiert. Dass Hugo Bettauer als Herausgeber der „Wochenzeitschrift für Lebenskultur und Erotik“ Er und Sie seit Februar 1924 sich mit dem Sexualleben der Wiener befasste und als Leitartikel „Die erotische Revolution“ versprach, mochte das, sagen wir, Fass zum Überlaufen gebracht haben.[8] Auf frappierende Weise überschneiden sich in Bettauers Publizistik ähnliche Fragestellungen, wie sie aktuell mit der Unterschriftenaktion gegen den „Gender-Unfug“ vom Verein Deutsche Sprache angestrengt werden. Denn der vermeintliche „Gender-Unfug“ betrifft das Geschlecht in seiner Mehrdeutigkeit von biologisch-binärem Geschlecht, Sexualität und Herkunft.  

Ernst Kieninger vom Filmarchiv Austria stellt den Roman wie vor allem die Rekonstruktion des Films, der erst 1991 in einer stark beschädigten Fassung im Niederländischen Filmmuseum wieder aufgefunden wurde, in den Kontext „der europäischen Flüchtlingskrise und … (der) richtungsweisende(n) Präsidentschaftswahlkämpfe 2016 in Österreich und den USA“.[9] 2015 waren auf einem Pariser Flohmarkt zuvor verlorene Szenen gefunden wurden. 2016 engagierten sich nun „(ü)ber 700 private Unterstützer*innen weltweit“ für „die Sicherung des neu aufgefundenen Materials und die integrale Restaurierung dieses eminent wichtigen österreichischen Stummfilms“.[10] Am 7. November 2018 hatte die neue Fassung ihre Weltpremiere mit der Live Musik des Ensembles PHACE unter der Leitung von Nacho de Paz und der Klangregie von Alfred Reiter im Wiener Konzerthaus.

Der StummfilmDie Stadt ohne Juden weist einige Besonderheiten auf. Demonstrationen in Wien werden teilweise als große Massenansammlungen gezeigt, so dass sich die Frage aufdrängt, ob Breslauer für diese Massenszenen überhaupt das Budget hatte oder dokumentarisches mit fiktivem Filmmaterial montiert wurde. In mehreren Sequenzen wird das Leben der Juden in „Utopia“ gezeigt. Doch man ist geneigt, dieses vielfältige Leben beispielsweise in der Synagoge für dokumentarisch zu halten. Hugo Eywo als Kameramann steuert originelle Effekte bei, wenn er etwa das ganze Wohnzimmer durch die Kamerabewegung zum Schwanken bringt, als es der betrunkene Rat Bernart (Hans Moser) mit Leo Strakosch (Johannes Riemann) verlassen wollen. Die trunkene Wahrnehmung von Bernart wird so zu jener der Betrachter*innen.

Rat Bernart ist eine Filmfigur, die es so im Roman nicht gibt. Hans Karl Breslauer und Ida Jenbach haben insofern mit Rat Bernart eine spezifische Figur hinzuerfunden. Da Hans Moser um die gleiche Zeit in Wien als Komiker bekannt wurde und er mit Blanka Hirschler aus einer jüdischen Familie verheiratet war, rückt die Konzeption der Filmrolle des Antisemiten Rat Bernart als Komiker nah an den Schauspieler selbst. Vermutlich wurde der Schauspieler Hans Moser mit bürgerlichem Namen Joachim Julier selbst als jüdisch wahrgenommen. Die markantesten Filmeffekte wie die „schwankende“ Gaststube oder Wohnzimmer und die Einschließung in eine Zelle der Nervenheilanstalt mit den Visionen des Kranken werden Breslauer insofern für die Figur des Antisemiten eingesetzt. Man könnte sagen, wenn der Antisemit betrunken ist, dann wankt die Welt. Oder wie Bernrat in seiner Zelle sieht der Antisemit überall Davidsterne. Das ist ebenso treffend wie komisch. – Ähnlich verhält es sich heute mit dem Islamophoben. Für einige Leute wird jeder Taxifahrer zum „Muslim“, sobald das Wahrnehmungsraster erst einmal eingestellt ist.

Der Antisemitismus und dessen durchaus satirische Darstellung lässt sich als Dreh- und Angelpunkt des Stummfilms bestimmen. An Rat Bernart kristallisiert sich der Wahn des Antisemiten heraus. Zwar gibt es im Roman auch den „alte(n), graduierte(n) Antisemit(en)“ Rechtsanwalt Dr. Haberfeld und Bundeskanzler Dr. Schwertfeger ist gewiss auch einer, aber an der Filmfigur Rat Bernart wird der Wahn visualisiert. Dramaturgisch macht Leo Starkosch Bernart betrunken, damit er nicht gegen das Gesetz zum „Ende der Judenverbannung“ stimmen kann. Diese Funktion hat im Roman der Nationalrat Krötzel. Doch mit dem Komiker Hans Moser wurde die Filmrolle von Rat Bernart als Antisemiten zugespitzt. Dem Antisemiten ist nicht zu helfen.

Die Stummfilmmusik von Olga Neuwirth aktualisiert in gewisser Weise mit kleinem Ensemble und Zuspielung den alten/neuen Film. Keine Klavierbegleitung oder ein großes Orchester setzen hier die dramaturgischen Akzente. Eher schon eine beunruhigende Ironie durch das Ensemble mit umfangreichem Schlagwerk. Feintönig und sensibel werden die Filmszenen nicht einfach vertont oder mit Filmmusik untermalt. Vielmehr erzeugt Olga Neuwirths Komposition eine Art Kommentar zu den Bildern. Die Abstimmungen im Parlament werden durch ein unruhiges Crescendo begleitet. Statt Debatten laufen Erregungen hoch, was die Stummfilmszenen erschreckend nah an Shitstorms heranrückt. Debatten werden zu Erregungsschüben per Mausklick. Im Haus der Berliner Festspiele wurde die Aufführung umjubelt, obwohl sie nicht annähernd ausverkauft war, was unverständlich war.

 

Torsten Flüh

 

Olga Neuwirth: Die Stadt ohne Juden. (3SAT)

 

Ensemble PHACE

Projekt: Die Stadt ohne Juden.

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[1] Vgl. auch den umfangreichen Eintrag „Fettmilch-Aufstand“ bei Wikipedia.

[2] J. Kracauer: Die Juden Frankfurts im Fettmilch‘schen Aufstand 1612-1618. In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland. Heft 2. Braunschweig 1890, S. 127. (Compact Memory Universitätsbibliothek Frankfurt am Main).

[3] Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen. Wien: Gloriette, 1922. (ohne Seitenzahl The Project Gutenberg, archive.org)

[4]„the theater itself became the focus of national life, an institution whose public signficance was certainly greater than that of Parliament. The theatrical quality of the political world had become so patent that the theater could appear as the realm of reality“. Zitiert nach: Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism. Cleveland: Meridian, 1958, S. 51. (archive.org)

[5] Hugo Bettauer: Die … [wie Anm. 3].

[6] Ebenda.

[7] William Shakespeare: Julius Cäsar. (Übersetzung von August Wilhelm von Schlegel Zweite Szene)

[8] Hugo Bettauer: Die erotische Revolution. In: ders. (Hg.): Er und Sie. Nr. 1 vom 14. Februar 1924. Titelblatt.

[9] Ernst Kieninger: Die Stadt ohne Juden. In: MaerzMusik: Stadt ohne Juden. Berlin: Berliner Festspiele 2019, S. 4.

[10] Ebenda S. 4-5.

Müssen wir Menschlichkeit neu bestimmen? Zur Konferenz Humanity Defined: Politics and Ehtics in the AI Age des Aspen Institute Germany

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Intelligenz – Maschine – Gehirn


Müssen wir Menschlichkeit neu bestimmen?

Zur Konferenz Humanity Defined: Politics and Ethics in the AI Age des Aspen Institute Germany


Die Rede von der Künstlichen Intelligenz durchdringt seit gut einem Jahr den Wirtschaftsdiskurs. Am 22. Januar 2018 hielt der Präsident und Chief Legal Officer von Microsoft Brad Smith im Microsoft Atrium Unter den Linden seinen Vortrag Künstliche Intelligenz und die Zukunft von Wirtschaft, Arbeit und Gesellschaft.[1] Einen Tag später wiederholte er ihn in Davos. Seither bestimmt die Künstliche Intelligenz die Agenda der Konferenzen. Am 28. und 29. März 2019 lud das renommierte Aspen Institute mit der Heinz und Heide Dürr Stiftung in die Vertretung des Landes Baden-Württemberg beim Bund in der Tiergartenstraße 15 zur KI-Konferenz ein. Microsoft, KI Bundesverband e. V., Pfizer und die amerikanische Aspen Initiative for Europe waren Partner im Aspen Digital Program für Humanity Defined: Politics and Ethics in the AI Age.

In den Tagesthemen um 22:52:56 kündigte die Moderatorin Caren Miosga am Sonntag die Dokumentation Der große Umbruch für Montagabend effektvoll an mit einer leicht verzerrten Stimme und den Worten: „Es ist ein Phänomen, das längst unseren Alltag beherrscht.“[2] Von Zauberhand oder mit Blue Screen hatte sich die Moderatorin im Studio verdoppelt. Der Automat oder die Künstliche Intelligenz spricht mit Caren Miosga. „Noch arbeiten hier im Studio echte Menschen …“ Dann wird die Eröffnungssequenz zur Doku eingespielt: Zu „Künstliche Intelligenz“ wird die 3D-Animation eines Gehirns rangezoomt, bis sich die Animation in „Neuronale Netze“ als Strahlengraphik mit Verknüpfungspunkten verwandelt. So funktioniert Intelligenz! Wahrlich hier wird „Humanity“ zur Primetime mit animierten Graphikmodellen definiert. – Ist das ethisch?

In der folgenden Besprechung wird der Berichterstatter punktuell auf einzelne Vorträge der Konferenz und Fragen des Verhältnisses von Politik und Ethik im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz vertiefend und exkursiv eingehen. Wie wird über Künstliche Intelligenz gesprochen und wie wird sie visuell dargestellt? Wie wird diese Darstellung der Technologie zur Menschlichkeit in Beziehung gesetzt? Welche Unschärfen schwingen mit? Wie wird Ethik formuliert und auf Künstliche Intelligenz angewendet? Gleichzeitig wird zu bedenken gegeben, dass der Ethik-Diskurs zur Künstlichen Intelligenz virulent wurde, nachdem Donald Trump durch eine exzessive Nutzung von Twitter und Facebook sowie Chatbots und Fake News als Künstliche Intelligenz im Wahlkampf 2016 widererwarten zum Präsidenten der USA gewählt wurde. Brad Smith setzte insofern die Agenda von „AI and Ethics“ in Berlin und Davos, nachdem die USA und die amerikanische Demokratie quasi moralisch diskreditiert waren.   

Alle sprechen von Künstlicher Intelligenz und ihrer Beherrschung bzw. gesetzlichen Regulierung, die sich die Ministerin für Justiz und Verbraucherschutz Katarina Barley zur Aufgabe gemacht hat. Sie liefert die Keynote auf der Ethikkonferenz und wird in der ARD-Dokumentation vom Wissenschaftsjournalisten und Physiker Ranga Yogeshwar interviewt. Auf der Konferenz sagt sie, dass sie nicht zum Arzt gehen und einem Arztroboter ihre Zunge zeigen möchte. – Liebe Frau Barley, das müssen Sie nicht! Aber sie sollten sich von Ihren Referent*innen Googles „Gesundheitshelferin“ Ada erklären lassen. Die Google-App ist benannt nach Ada Lovelace, die schon für 1980 für die Programmiersprache Ada zur Namenspatin gemacht wurde. Sie selbst avanciert mehr und mehr unter feministischen Informatiker*innen zur Mutter der Algorithmen und des Computers.

Der Roboter vereint als „erstklassiges medizinisches Wissen und künstliche Intelligenz ... in einer App“, wie Google bzw. Ada Health GmbH es formuliert, und wurde bereits auf vielen Handys der Bundesbürger*innen installiert. Der Arztroboter ist schon längst da, smart auf dem Handy. – Sie fahren zu selten U-Bahn in Berlin, verehrte Frau Barley. – „Hallo Sarah, ich bin Ada. Ich kann dir helfen, wenn du dich nicht wohlfühlst. Kopfschmerzen? #tellAda Ada kostenlos herunterladen.“  -  So spricht Ada Sie auf dem U-Bahnhof Oranienburger Tor an. Die ARD hat mit Rettungssanitätern Adas Diagnostikkompetenz schon getestet. Die Rettungssanitäter hätten die gleichen Fragen gestellt und wären von Mensch zu Mensch zu den gleichen Ergebnissen gekommen. Ada kommt auf der Konferenz erst einmal nicht zur Sprache. Woher der Begriff Artificial Intelligence kommt wird vage angedeutet, aber der Schlüsseltext von John von Neumann The Computer and The Brain (1958) nicht erwähnt.[3]

Kein Bereich des Lebens ist stärker durchreguliert als der der Gesundheitsversorgung. Der Körper des Menschen hat sich nicht zuletzt mit den bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaften seit den 90er Jahren in eine biologische Maschine verwandelt.[4] Graphikmodelle wie das Gehirn in der eröffnenden Animation der ARD-Dokumentation haben das kursierende Wissen vom Körper und Denken so sehr durchdrungen und verbreitet, dass die Tagesthemen-Redaktion sie kurz zeigen braucht. Dann „wissen“ die Zuschauer*innen, worum es geht. Jede Ärzt*in, jede Rettungssanitäter*in folgt einem strikten Fragenkatalog, der durch das Gesundheitssystem geregelt wird. Das Arztgespräch folgt nach eingeübten, hochdifferenzierten und im Gesundheitssystem ausgehandelten Regeln. Die Spielräume sind gering und von Lobbyisten hart umkämpft. Anders gesagt: Das Beispiel, das Katarina Barley prominent und charmant formulierte, verfehlt haarscharf die Frage nach dem Menschen und der Ethik in Zeiten der Künstlichen Intelligenz, weil es aus einem Bereich kommt, der längst im höchsten Maße von Entweder-Oder-Entscheidungen, mit einem anderen Wort, Algorithmen und also Künstlicher Intelligenz bis in die kleinste Zelle formatiert ist.

Neben dem Tagungsraum ist ein grüner Rasen ausgerollt und die Künstliche Intelligenz spielt noch etwas ungelenk beim Trippeln Robo Soccer. 2016 nannte man die Spieler gar schon „Humanoide“. Leipzig spielt gegen Berlin, aber es geht irgendwie verdammt langsam. Man muss mit der Künstlichen Intelligenz offensichtlich Geduld haben. Irgendwann rollt der kleine Ball dann doch ins Tor und die Coaches am Spielfeldrand freuen sich wie bei der Kinderliga. Die großen Kunstaugen der Roboter machen die Technologie kindlich und niedlich nach dem japanischen Format des kawaii.[5] Diese Spieler stecken noch in den Kinderschuhen, obwohl sie datenverarbeitungstechnisch schon sehr viel leisten. Währenddessen unterhält sich die Technologiephilosophin Shannon Vallor von der Santa Clara Universität in Kalifornien mit Katarina Barley. Vallor hat zahlreiche Artikel über ethische Fragen zu entstehenden Technologien geschrieben. Sie ist Co-Direktorin der Stiftung für verantwortungsvolle Robotik (Foundation of Responsible Robotics). Google AI führt sie als „AI Ethicist in Google’s Visting Researcher program“.[6]

Die Internetkonzerne sind nicht unbedingt feindlich zur Ethik eingestellt. Das Silicon Valley und Google suchen geradewegs nach Expert*innen für Ethikberatung. Shannon Vallor berät dann hinsichtlich der Konflikte von Shareholder Values und Ethikfragen. Sie hat bei Google eine Reihe von Workshops, Präsentationen und Self-Service Schulungsmodellen über „tech ethics“ der Cloud AI für eine Vielzahl von Zuhörern ausgearbeitet.[7] Ethik lässt sich in der Implementierung von Algorithmen programmieren. Anders gesagt, jede Entweder-Oder-Entscheidung und deren Differenzierung in weitere binäre Fälle letztlich von 0 und 1 trifft eine ethische Auswahl. Shannon Vallor ist mit dem „World Technology Award in Ethics from the World Technology Network“ eine Art Spitzenethikerin, die schon viele Preise im „teaching“ verliehen bekommen hat. Während immer neue Algorithmen geschrieben werden, um die Künstliche Intelligenz leistungsfähiger und schneller zu machen, vermittelt Vallor den Programmier*innen darauf zu achten, welche binären Entscheidungen falsch sein könnten.

Der Bedarf an Ethik-Kompetenz im Silicon-Valley ist groß. Die Aktivistin und Autorin von Weapons of Math Destruction - How Big Data Increases Inequaltiy and Threatens Democracy, Chathy O'Neil, bedankte sich auf dem Podium ausdrücklich für die Einladung, weil das in Amerika nicht geschehe. 2016 hat Shannon Vallor Technology and the Virtues in der Oxford University Press veröffentlicht. Noel Sharkey, Professor of Artificial Intelligence and Robotics and of Public Engagement an der University of Sheffield lobt das Buch als „eine wundervoll geschriebene und einnehmende tour de force“, die auch verstanden werden kann, wenn man kein Philosoph ist.[8] Sie wendet „classical philosophical traditions of virtue ethics to contemporary challenges of a global technological society“ an.[9] Welche „Tugenden“ (virtues) könnten hier mit einem „moralischen Raster“ (moral framework) nach aristotelischen, konfuzianischen und buddhistischen Perspektiven formuliert werden?[10] Die Wiederkehr von Tugend und Moral fällt in der Leitlinien-Literatur viel elastischer aus, als das „einnehmend“ formuliert werden kann, weil Sprache zwar befehlsförmig ist, wie es Roland Barthes am 7. Januar 1977 formuliert hat, die Begriffe und Zeichen sich aber ständig verschieben.[11]

In einer, sagen wir, moral-historischen Perspektive ist Shannon Vallors „Philosophical Guide“ durchaus erstaunlich, weil die Rede von der Maschine den Menschen aus der christlichen Morallehre befreien sollte. Bereits die anonym mit einem Motto von Voltaire publizierte Schrift L’HOMME MACHINE von Julien Offray de la Mettrie macht 1748 aus einer philosophisch-aufklärerischen Befreiungsgeste den Menschen zur Maschine. Auf dem Titelblatt der Originalausgabe in der Akademiebibliothek der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ist „L’HOMME“ um mehrere Schrifttypengrade kleiner als „M A C H I N E“ gedruckt.[12] Die skandalöse Schrift wendet sich unter dem Schutz Friedrich II. von Preußen, dem sogenannten Großen, gegen die christlichen Tugenden und Moral. Der Medizinprofessor Haller aus Göttingen kündigt die Maschine in seiner Widmung als neue akademische „Methode“ an.[13] Gleichzeitig wird die christliche Todsünde „La Volupté de sens“ (die Wollust der Sinne) mit der „jouissance“ (dem Genießen) als, sagen wir, Motor der Menschmaschine eingeführt.[14] Der Philosoph Voltaire unterstützt nicht nur de la Mettries neue Methode, vielmehr hatte er bereits um 1740 in seiner ebenfalls anonym kursierenden Legende La Pucelle d’Orleans die Todsünde der Wollust zur Raison d’Être erklärt.

Wenn nun 2016 also die aristotelische, konfuzianische und buddhistische Tugend nach Vallor in die Technologie der Maschine als Künstliche Intelligenz zurückkehren soll, dann kann man das auch als ein Problem der Menschlichkeit verstehen. Denn die Normativität von „Tugenden/virtues“ trägt immer schon einen christlich-europäischen Kontext mit sich. Julien Offray de la Mettries Wollust-Materialismus war indessen so revolutionär, dass die Schrift erst in jüngerer Zeit eine kritische Re-Lektüre erfahren hat. Durch die Philosophin Ursula Pia Jauch ist de La Mettrie 2017 mit dem Band Julien Offray de La Mettrie und Emilie du Châtelet auf der Suche nach dem Glück: Eine weitere Antwort auf die Frage, ob Philosophie im Leben hilft ins Interesse gerückt worden. Holm Tetens hat bereits 1999 L’Homme Machine mit der Neurokybernetik und dem Menschen als „Redetier“ kurzgeschlossen.[15] Das soll hier gar nicht unterstützt werden. Vielmehr soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass das Verhältnis von Mensch und Maschine, wie es mit der Künstlichen Intelligenz und der Ethik erneut zur Sprache kommt, ein sehr viel längeres, komplexeres und ambiges ist, als es sich mit einem „moral framework“ erfassen und programmieren lässt.

Die Maschine, und damit die Künstliche Intelligenz war immerschon ein Befreiungsversprechen, das als eine Angst vor der Suprematie der Maschine zurückblickte. Dieses Paradoxon gilt es erst einmal wahrzunehmen – und auszuhalten. Der Mainzer Professor für theoretische Philosophie Thomas Metzinger hielt mit seinem Vortrag AI and Ethics: Europe First or Europe Alone? in deutscher Sprache vielleicht den prägnantesten Vortrag der Konferenz. Sein Vortrag wurde simultan ins Englische übersetzt und erhielt in folgenden Vorträgen beispielsweise von Luis Villa mit Humanizing Techonology and Strengthening Democracy: A Strategic Design Perspective entschiedene Unterstützung. Wie wird Technologie menschlicher? Und welche Funktion nimmt Europa in der Ethikdiskussion ein? Thomas Metzinger hat das Open MIND Project gegründet und gehörte zu den 52 Experten der „High-Level Expert Group on Artificial Intelligence“[16] bei der Europäischen Kommission zur Politik des Digital Single Market, die am 8. April 2019 ihre ethischen Leitlinien (guidelines) mit „Seven essentials for achieving trustworthy in AI“ veröffentlichte. Die Pressemeldung war mit „Künstliche Intelligenz: Kommission treibt Arbeit an Ethikleitlinien weiter voran“ übertitelt.

  1. Sieben Voraussetzungen für eine vertrauenswürdige KI 
    Eine vertrauenswürdige KI muss alle geltenden Gesetze und Vorschriften einhalten und eine Reihe von Anforderungen erfüllen. Spezifische Bewertungslisten sollen dazu beitragen, die Erfüllung der einzelnen Kernanforderungen zu überprüfen:

  • Vorrang menschlichen Handelns und menschlicher Aufsicht: KI-Systeme sollten gerechten Gesellschaften dienen, indem sie das menschliche Handeln und die Wahrung der Grundrechte unterstützen‚ keinesfalls aber sollten sie die Autonomie der Menschen verringern, beschränken oder fehlleiten.

  • Robustheit und Sicherheit: Eine vertrauenswürdige KI setzt Algorithmen voraus, die sicher, verlässlich und robust genug sind, um Fehler oder Unstimmigkeiten in allen Phasen des Lebenszyklus des KI-Systems zu bewältigen.

  • Privatsphäre und Datenqualitätsmanagement: Die Bürgerinnen und Bürger sollten die volle Kontrolle über ihre eigenen Daten behalten und die sie betreffenden Daten sollten nicht dazu verwendet werden, sie zu schädigen oder zu diskriminieren.

  • Transparenz: Die Rückverfolgbarkeit der KI-Systeme muss sichergestellt werden.

  • Vielfalt, Nichtdiskriminierung und Fairness: KI-Systeme sollten dem gesamten Spektrum menschlicher Fähigkeiten, Fertigkeiten und Anforderungen Rechnung tragen und die Barrierefreiheit gewährleisten.

  • Gesellschaftliches und ökologisches Wohlergehen: KI-Systeme sollten eingesetzt werden, um einen positiven sozialen Wandel sowie die Nachhaltigkeit und ökologische Verantwortlichkeit zu fördern.

  • Rechenschaftspflicht: Es sollten Mechanismen geschaffen werden, die die Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht für KI-Systeme und deren Ergebnisse gewährleisten.[17]

Thomas Metzinger sparte mit seiner Kritik an den Ethikleitlinien in seinem Vortrag am 29. März in der Landesvertretung Baden-Württemberg nicht. Im Tagesspiegel Background veröffentlichte er seine Kritik als Ethik-Waschmaschinen made in Europe am 8. April erneut.[18] Im Vortrag wie im Background-Artikel erwähnt er ein Telefonat mit dem freundlichen, finnischen Präsidenten der Gruppe, Pekka Ala-Pietilä, in dem er ihn fragte, ob die „Red Lines“ für „nicht-verhandelbare ethische Prinzipien“, für die Veröffentlichung der Ethikleitlinien „die Formulierung „nicht verhandelbar“ nicht doch aus dem Dokument streichen könnten“.[19] Aus der Liste der Mitgliederliste der Gruppe kann man erfahren, dass Ala-Pietilä „Chairman of the Board of packaging company Huhtamaki, media company Sanoma and Netcompany as well as a member oft he Supervisory Board of SAP“ ist. Thomas Metzinger fordert daraufhin: „Nehmt der Industrie die Ethikdebatte wieder weg!“ Als engagierter Ethiker kritisiert er den Begriff der „vertrauenswürdige(n) KI“, weil Künstliche Intelligenz im Unterschied zum Menschen nicht vertrauenswürdig sein könne.

Wir können es uns nicht leisten, diese Technologie politisch auszubremsen oder nicht weiter zu entwickeln. Weil gute KI aber ethische KI ist, haben wir jetzt auch eine moralische Verpflichtung, die Guidelines der High-Level Group selbst aktiv weiterzuentwickeln. Bei aller Kritik an ihrer Entstehung – die Ethik-Leitlinien, die wir uns in Europa gerade erarbeiten, sind trotzdem die beste Plattform für die nächste Phase der Diskussion, die wir je hatten. China und die USA werden sie genau studieren.[20]  

An den Ethikleitlinien der Europäischen Kommission und Thomas Metzingers Kritik daran, wird deutlich, dass es um Begriffe und Sprache geht, die zwar digital verfasst werden können wie in diesem Blog, aber keinesfalls nur binär funktionieren. Woran liegt das? Gibt es womöglich ein ur-sprüngliches Missverständnis der Künstlichen Intelligenz? Was heißt beispielsweise Intelligenz, wenn Sigmund Freud 1927 in Die Zukunft einer Illusion einmal schreibt: „Denken Sie an den betrübenden Kontrast zwischen der strahlenden Intelligenz eines gesunden Kindes und der Denkschwäche des durchschnittlichen Erwachsenen.“ Freud verhandelt in seinem Text ausführlich den Begriff der (menschlichen) Intelligenz. Und er fragt: „Wie kann man von Personen, die unter der Herrschaft von Denkverboten stehen, erwarten, dass sie das psychologische Ideal, den Primat der Intelligenz, erreichen werden?“[21] Welche „Denkverbote“ wirken in den Ethikleitlinien?

Zu den Schlüsseltexten der Rede von der Künstlichen Intelligenz gehört John von Neumanns 1958 postum veröffentlichte Schrift The Computer and The Brain. Man kann, wie es wiederholt und beharrlich geschieht, diesen Text als einen geradezu prophetischen lesen, der sich heute mit der Analogie von Computer und Gehirn als Künstliche Intelligenz nicht zuletzt in den animierten Graphiken einer ARD-Dokumentation verwirklicht. Oder man kann John von Neumanns zusammengefasste Vorträge als einen Mythos eben dieser Analogie analysieren, wie es kürzlich Benjamin Peters mit seinem Essay The Computer Never Was A Brain or the Curious Death and Designs of John von Neumann getan hat.[22]

Even when it was most tempting, John von Neumann resisted the neuro-hubris of the computer-brain analogy he helped create. Indeed, in his deathbed lectures The Computer & the Brain, he grants certain aspects of the analogy “absolute implausibility”.[23]     

Obwohl John von Neumann der Computer-Gehirn-Analogie nach Benjamin Peters widerstand, wurde sie zum wirkungsmächtigen Wissensformat. Peters analysiert von Neumanns Wunsch, als tödlich an Krebs erkrankter Wissenschaftler durch Kombination von Computer und Gehirn überleben zu wollen, sehr genau nicht zuletzt in ethisch-moralischer Hinsicht. Denn John von Neumann nahm als Regierungsberater und Mitglied des Target Commitee entschieden Anteil am Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki. Schon im Manhattan Projekt von Los Alamos war er 1943 Berater zur Konstruktion und Tests der Atombombe. An der Weiterentwicklung des amerikanischen Atombombenprogramms und der Wasserstoffbombe wie ihrem Test in der Operation Castle 1954 im Bikini-Atoll, bei dem 236 Bewohner der Insel Rongelap verstrahlt wurden, nahm John von Neumann maßgeblich teil.

Rarely more than one step removed from the legend and lore of the American superpower science, von Neumann’s final published work brought together the issues of computers, minds, and (given his irradiated, failing health) mechanized death in the prestigious Silliman Lectures that he gave at Yale University in 1956, which was posthumously published in 1958 as the unfinished book The  Computer  &  the  Brain.[24]  

Benjamin Peters hat nicht zuletzt auf das moralische Problem von Überlebenswunsch und Mitverantwortung an millionenfachem Tod hingewiesen: „His death signals a stirring reminder that even the most “open minds” in the midcentury were willing to calculate mega-deaths of others without ever fully reconciling with one’s own.“[25] Der Computer kann das Gehirn nicht ersetzen und John von Neumanns Denken konnte nicht in einer Künstlichen Intelligenz fortleben. Die Endlichkeit des menschlichen Lebens ist mit der der Intelligenz verkoppelt. In seiner Sterbestunde verlangte John von Neumann nach einem katholischen Priester, um die Krankensalbung oder letzte Ölung zu empfangen. Sie kann mit einer Beichte verknüpft werden, um die Schuld des menschlichen Lebens zu mildern. Intelligenz und Ethik treten gerade bei John von Neumann in ein katastrophisches Verhältnis. Über seine ethische Verantwortung machte sich der hoch intelligente Theoretiker und Mathematiker offenbar wenig Gedanken. Vielleicht muss man in der aktuellen Diskussion die Ursprünge des Buches The Computer & the Brain häufiger in Erinnerung rufen.


Torsten Flüh

 

Siehe diese Besprechung auch auf der neuen Domain von NIGHT OUT @ BERLIN

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[1] Vgl. dazu Torsten Flüh: Kant und die Ethikrichtlinien aus dem Internetkonzern. Brad Smith stellt The Future Computed im Microsoft Atrium in Berlin und beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos vor. In: NIGHT OUT @ BERLIN Januar 29, 2018 19:01.

[2] Tagesthemen Sonntag, 7. April 2019 ab 00:07:56 bis 00:10:37 in der Mediathek.

[3] Vgl. zum John von Neumanns The Computer and The Brain auch Torsten Flüh: Künstliche Intelligenz und Monstera deliciosa. Sabine Bendiek von Microsoft Deutschland lädt zum Parlamentarischen Abend über Künstliche Intelligenz. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 5, 2018 19:44.

[4] Siehe den Beitrag über die Walter-Höllerer-Vorlesung des Neurowissenschaftlers Wolf Singer: Torsten Flüh: Über die Verabschiedung des Ichs in die neuronalen Netze. Wolf Singers Walter-Höllerer-Vorlesung 2011 in der Technischen Universität Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 19, 2011 23:24.

[5] Zum Begriff des kawaii im Manga und Cosplay vgl. Torsten Flüh: Der Mensch als Comicfigur. Zum Cosplay Corner und der Deutschen Cosplay Meisterschaft auf der Frankfurter Buchmesse 2017. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 21, 2017 17:19.

[7] Ebenda.

[8] Shanon Vallor: Technology and the virtues. A Philosophical Guide to a Future Worth Wanting. New York: Oxford University Press, 2016. Reviews and Awards.

[9] Ebenda Overview.

[10] Ebenda.

[11]„Sobald sie (die Rede) hervorgebracht wird, und sei es im tiefsten Innern des Subjekts, tritt die Sprache in den Dienst einer Macht. Unweigerlich zeichnen sich in ihr zwei Rubriken ab: die Autorität der Behauptung und das Herdenhafte der Wiederholung.“ Roland Barthes:Leçon/Lektion. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1980. S. 19.

[12] Julien Offray de La Mettrie: L'Homme Machine. Leiden: Elie Luzac Fils, 1748. (Digitalisat) 

[13] Ebenda S. 4.

[14] Ebenda S. 5

[15] Holm Tetens: Die erleuchtete Maschine. Das neurokybernetische Modell des Menschen und die späte Ehrenrettung für den Philosophen Julien Offray de La Mettrie. In: Die Zeit 10. Juni 1999, 14:00 Uhr.

[16] European Commission: High-Level Expert Group on Artificial Intelligence. (8. April 2019)

[17] Europäische Kommission: Pressemitteilung: Künstliche Intelligenz: Kommission treibt Arbeit an Ethikleitlinien weiter voran. Brüssel, 8. April 2019.

[18] Thomas Metzinger: Ethik-Waschmaschinen made in Europe. In: Tagesspiegel Background 08.04.2019.

[19] Hervorhebung im Original. Ebenda.

[20] Ebenda.

[21] Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion. IX. Kapitel. (Gutenberg)

[22] Benjamin Peters: The Computer Never Was a Brain, or the Curious Death and Designs of John von Neumann. In: Jeannie Moser / Christina Vagt (Hg.): Verhaltensdesign. Technologische und ästhetische Programme der 1960er und 1970er Jahre. Paderborn: transkript, 2018, S. 113-124. (Open Access)

[23] Ebenda S. 113.

[24] Ebenda S. 115.

[25] Ebenda S. 122.

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