Gefühl – Cello – Forschung
Gefühl und Forschung in der neuen Musik
Zu den Konzerten des Notos Quartetts und des ensemble recherche sowie Chaya Czernowin bei ultraschall 2019
Die Sendetermine im Radio stehen noch bevor. Deshalb sind die Konzerte des Festivals ultraschall nicht unwiederbringlich verklungen. Restlos sind sie, sobald gespielt und gehört, sowieso nicht verhallt. Es bleibt sicher nicht nur für den Berichterstatter immer etwas hängen. Ein Ton, eine Geste, ein plötzlicher Wink. So erwiesen sich die beiden Konzerte am frühen Freitagabend im Radialsystem V als überraschend gegensätzlich in der Programmgestaltung. Dem Violoncello kamen im Programm des jungen Notos Quartetts wie in dem des ensemble recherche unterschiedliche Funktionen zu. Und nicht nur in diesen beiden vielmehr noch in Chaya Czernowins Komposition Guardian für Violoncello und Orchester beim Abschlusskonzert kristallisierten sich um das Melodieinstrument Fragen.
Dem Violoncello oder kurz Cello wird oft ein kantabler Charakter zugeschrieben. Es singt. Als Solo- wie als Orchesterinstrument wird es oft als Tenorinstrument bezeichnet. Doch das Cello wird eher mit einem sonoren Ton assoziiert und als mittelgroßer Resonanzkörper wahrgenommen. Salvador Dalí malte in seinen traumartigen Ensembles mehrfach ein Cello. 1983 kombinierte er ein angeschnittenes Cello mit dem mathematischen Symbol für ein bestimmtes Integral ∫ in Rot auf seinem letzten Ölgemälde, um die Schwalbenschwanz-Katastrophe in Szene zu setzen. Das Integralzeichen ähnelt dem Schall- oder f-Loch und seinem Spiegelbild im Resonanzkörper des Cellos. Das mathematische Modell der Katastrophentheorie drängt das Cello von einem weißen Tuch, das zwischen 16 Nägeln aufgespannt ist und mit den Schatten an das Schweißtuch erinnert.[1] Anders formuliert: Bei Dalí wird das Cello traumatisch wie traumlogisch mit einem mehrdeutigen Gefühl und dem Schwinden des christlichen Glaubens in Verbindung gebracht.
Das junge Notos Quartett feierte am 10. Januar 2018 im Kammermusiksaal der Philharmonie sein Debüt bei Deutschlandfunk Kultur, das am 12. Januar gesendet wurde.[2] Es positionierte sich mit einem Programm, das mit Johannes Brahms‘ Klavierquartett Nr. 1 in g-Moll von 1861 gleichsam dem Gefühl in der Spätromantik verpflichtet war. Robert Schumanns Klavierquartett Es-Dur von 1842 und Garth Knox‘ Echoes of Schumann (2017) als Uraufführung unterstrichen deutlich, die Programmatik des jungen Ensembles, das sich in Berlin zusammengefunden hat. Mit Schumann und Brahms geht es nicht nur um die Formation des romantischen Quartetts als Klavierquartett mit Antonia Köster am Klavier, Sindri Lederer, Violine, Andrea Burger, Viola, und Philip Graham, Violoncello. Es geht vor allem um das Gefühl in der Musik.
Nun trat das ambitionierte Notos Quartett erstmals bei ultraschall auf, um mit Kompositionen von Morton Feldmann, David P. Graham, Bryce Dresser und Jesús Torres das Gefühl als Melodie wiederkehren zu lassen. Vielleicht darf man es einmal so formulieren, die Generation KI wie Künstliche Intelligenz lässt das Gefühl in die neue Musik zurückkehren. Das Notos Quartett hat sich diese Rückkehr zum Programm gemacht. Es vergibt nicht zuletzt mit Jesús Torres Kompositionsaufträge an Komponisten und Komponistinnen, die das Gefühl an der Schnittstelle von neuer Musik und Pop zelebrieren. Der gefühlvolle Wohlklang soll vor allem angenehm wirken, während seine Erzeugung höchste Anforderungen stellt. Die Kombination eines klassischen Retro-Klangs von Gefühl mit höchster Professionalität bei der Ausführung können schon jetzt als Profil des Notos Quartetts genannt werden.
Das Notos Quartett hat nicht nur keine Angst vor Gefühlen in der neuen Musik, es sucht sie vielmehr, um die Musikliteratur mit Kompositionsaufträgen zu erweitern. Das Programm im Radialsystem V setzte mit Four Instruments von Morton Feldman aus dem Jahr 1975 wiederum einen historischen Bezugspunkt. Man könnte bei Morton Feldmann von einem Komponisten der klassischen Moderne sprechen. Er gibt mit dem Titel Vier Instrumente einen fast nüchternen Wink auf die Besetzung, ohne diese im Titel genauer zu benennen. Bereits 1965 hatte er unter gleichem Titel eine Komposition für Klavier, Glockenspiel, Piano, Violine und Cello veröffentlicht. Die vier unterschiedlichen Instrumente werden in dieser Komposition anders hörbar, weil sich beispielsweise das Glockenspiel (chimes) klanglich unterscheiden lässt. Für beide Stücke gibt es keine Angabe der Tempi und zeitlichen Länge. Sie ergibt sich aus dem Musizieren selbst.
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© Simon Detel
Der Zeitlichkeit des Musikmachens wird von Morton Feldman insofern besondere Aufmerksamkeit geschenkt, als die Tempi z.B. in Robert Schumanns Klavierquartett bereits eine Gefühlserzählung generieren mit 1. Sostenuto assai – Allegro ma non troppo, 2. Scherzo. Molto vivace, 3. Andante cantabile, 4. Finale. Vivace. Ziemlich nachdrücklich, munter aber nicht zu sehr, sehr lebhaft, gesanglich schreitend, sehr lebhaft regulieren einen ganzen Gefühlshaushalt in der hellen Tonart Es-Dur. Bei Feldman ist er schlechthin nicht vorgesehen. Das Notos Quartett spielt das minimalistische Four Instruments in 8 Minuten. Einerseits knüpfte Morton Feldman an die Malerei des Abstrakten Expressionismus an, andererseits lässt sich durch die paradoxe Formulierung eines abstrakten Expressionismus schwer sagen, welches benennbare Gefühl ausgedrückt werden soll. Vielmehr betonte Feldman einmal die Modi von Direktheit, Unmittelbarkeit und Körperlichkeit, als er sagte, er wünsche sich eine „Klangwelt, die direkter, unmittelbarer, körperlicher wäre als alles andere, was zuvor existierte“.[3]
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Der Komponist und Musikpädagoge David Paul Graham hat 2015 für das Notos Quartett, in dem sein Sohn Philip das Violoncello spielt, Gravity komponiert, das beim Festival Celloherbst in einer Werkshalle 2016 uraufgeführt wurde. „Der warme Klang des Cellos versetzt eine ganze Region … in harmonische Schwingungen“, heißt es für der Festival 2018.[4] Anlässlich des Jubiläums von Albert Einsteins Relativitätstheorie 2015 transformierte Graham das Modell der „Gravitationswellen“ in Musik.[5] Die Astrophysik und das Wellenmodell üben auf den Komponisten eine große Faszination aus, die er klanglich „in einem flirrenden, obertonreichen Umfeld das Auftreten von sich verstärkenden Kräuselwellen“ überträgt. David Paul Graham komponierte in drei Sätzen für das kammermusikalische Quartett ein galaktisches Ereignis mit „drehende(n) Quasaren oder Schwarzen Löchern“[6], die gar an das Genre der Tondichtung oder Filmmusik mit anderen Mitteln erinnern.
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© Simon Detel
Mit El Chan (2014) von Bryce Dessner und Cuarteto con piano (2017) von Jesús Torres schärfte das Notos Quartett sein Profil ein weiteres Mal hinsichtlich einer Wiederkehr des Gefühls. Das Cuarteto con piano knüpft mit dem Titel durchaus an die romantischen Klavierquartette an. Im April 2018 hatte das Notos Quartett die Uraufführung im Museum für zeitgenössische Kunst Centro de Arte Reina Sofia in Madrid gespielt, was einen Hinweis darauf gibt, dass die rege Produktion von Auftragswerken, enorm zum internationalen Erfolg beiträgt. Die Suche nach Komponistinnen und Komponisten wie Kompositionen verläuft beim Notos Quartett nach eigenen Angaben völlig unspektakulär über das Internet. Suche: „Klavierquartett“? Suche: „Gefühl Musik“? Wie genau sie im Internet die passenden Komponist*innen finden, verraten Antonia Köster und Philip Graham allerdings nicht. Bryce Dessner und Jesús Torres bewegen sich mit ihren Kompositionen an Schnittstellen von Popkultur, Minimal Music, Film und Folk. Für das Quartett gibt es keine Kontaktängste.
Obwohl das Profil auf den ersten Blick klassisch wirkt, ist die Gefühls- auch Popkultur. Populäres Wissen der Astrophysik wird ebenso in Musik verwandelt, wie die Gefühle, die sich sogleich als Musik formulieren lassen. Im Anschluss an das Konzert verrieten Antonia Köster und Philip Graham im Gespräch mit Andreas Göbel, wie sie das Stück mit Jesús Torres erarbeitet haben. Was er mit Anklängen an Flamenco und Folklore komponiere, fühle der Komponist so, „das muss dann so auf das Papier“, sagte Antonia Köster.[7] Die Formulierung eines Gefühls, dass sich von einem auf den anderen Moment in Noten „so“ und nicht anders „auf das Papier“ bringen lässt, erinnert an Ute Freverts Begriff des Gefühlswissens. Sie weist darauf hin, dass die Werbung „Gefühle und Passionen als Verkaufsschlager entdeckt“ habe.[8] Generation KI ist zugleich Generation Emoji, die damit Gefühle zeigt. Brachten nicht auch Schumann und Brahms ihre Gefühle in Noten und Tempi aufs Papier? Geben die Formation als Quartett mit dem „warme(n) Klang des Cellos“ und die Klavierquartette einen Wink auf eine Gefühlskultur, die nach Regeln verläuft?
Beim ensemble recherche mit einer ähnlichen Instrumentenformation als Kammerensemble– Violine, Viola, Violoncello, Flöte, Oboe, Klarinette, Schlagzeug und Klavier – ist das Programm anders gelagert. Chaya Czernowin, Iannis Xenakis, Johannes Maria Staud, Milica Djordejević und Christian Mason gehen mit Musik, Sprache und Text anders um. So kann man Chaya Czernowin allein schon wegen ihres narrativ-poetischen Titels eine wunderbare Erzählerin nennen. Verraten und festgelegt wird selbst mit Ayre: Towed through plumes, thicket, asphalt, sawdust and hazardous air I shall not forget the sound of von 2015 fast nichts.[9] Denn es wird nicht gesagt, welcher Klang nicht vergessen werden soll. Während sich beim Gefühlswissen anscheinend eine Emotion von einem Moment zum anderen, fast wie der Klick aufs Emoji, also einem Bildschriftzeichen, in Musik verwandeln lässt, wirft Czernowin schon mit dem Titel Fragen auf. Der programmatische Name des Ensembles verweist auf die Suche als Modus des Musizierens.
Chaya Czernowin erzählt und kommentiert ihre Musik gern und widersprüchlich. Es ist, als könne sie nur versprechen, was man hören könnte. Sie gibt eher zu viele als zu wenige Anknüpfungspunkte. Zum Beispiel: Ayre als altenglische Bezeichnung für Lied, dem dann die Geste einer Erzählung durch eine Aneinanderreihung von „Rauchschwaden, Dickicht, Asphalt, Sägemehl und gefährliche Luftverschmutzung“, eben dem „hazardous air“ folgt. In welchem Verhältnis steht das Ayre nun zur Aufzählung? Oder ähnelt der Titel einem Logogryph, einem Buchstabenrätsel? „Ayre“ und „air“ könnten sehr ähnlich klingen, während daran erinnert wird, dass man den Klang von … nicht vergessen soll, wurde er schon vergessen. Das „Stück“ wurde seit seiner Uraufführung am 27. Januar 2016 weit über zwanzigmal aufgeführt.[10] Wenn man der „Beschreibung“ des Stückes folgen will, geht es vor allem um „intensive(s) Schweigen“ und um eine Art Liedforschung.
Dieses Stück mit dem langen poetischen Titel ist ein kleines Fenster, durch das man wie durch ein Mikroskop schaut, um zu sehen, was kleinste Dinge in Bewegung bringt, was Schichten von sich bewegendem Lärm oder Klängen zu einem Lied formt.[11]
Mit Ayre… wird das Fragen nach dem Lied formuliert. Die Komponistin geht nicht mit einem Wissen über das musikhistorische Ayre ans Komponieren, vielmehr knüpft sie an den Begriff zum Nachfragen an. Der „poetische() Titel“ wird zum visuellen „Mikroskop“ für die mikrologische Forschung nach dem akustischen Lied. Sinne und Sinnlichkeit werden von Czernowin nicht gleich in Gefühle verstrickt. Sieht man sich einmal die Partitur an, fällt auf, wie stark und genau die Erzeugung der Klänge durch Kommentare beschrieben wird. „Bass clarinet breahte dicretely, not on the beat/Piano Plastic along the string extremely slowly á --15 cm—stay on string | continue from the place where you stopped á -------15 cm---- stay | continue“[12] Wie der „Lärm oder Klang“ gemacht werden soll ist genau formuliert. Man könnte die Partitur fast den Aufbau eines Experiments nennen.
Bei Chaya Czernowin wird im Konzertsaal das Zuhören zu einem Mitfragen. Die Haltung gegenüber der Musik verändert sich. Roland Barthes hat einmal „ein freies Zuhören“ gefordert, weil es „ein Zuhören ist, das zirkuliert, permutiert und durch seine Beweglichkeit das starre Netz der Sprechrollen auflöst“.[13] Ein „freies Zuhören“ lässt sich nicht verorten. Es ist nicht nur angenehm, vielmehr trifft es die Zuhörer*innen. Im zweiten Teil wechselt die Komponistin wiederum den Bezugsrahmen und rückt ein „Schweigen“ in die Aufmerksamkeit und trifft den Zuhörer auch.
„Negativer Raum“ kann hier als ein musikalisches Kontinuum gesehen werden, das eher die Vorstellung eines Raumes hervorruft als die eines Ereignisses oder eines Prozesses. Dieser Raum wird durch die musikalischen Aktionen und Klänge geschaffen und geformt, die sich krümmen und Zwischenräume intensiven Schweigens öffnen.[14]
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Mit Plektá (1993) von Iannis Xenakis steht ebenfalls das Komponieren als Forschung im Vordergrund. Xenakis hat in seiner Autobiographie auf der Website des von ihm gegründeten Institute of Research on Music and Acoustic (IEMA) seine Abkehr von der Architektur und seinen politischen Aktivitäten mit einer existentiellen Notwendigkeit, Musik zu machen, erklärt. „The most important thing was that I had decided that in order to exist as a being I had to do music, otherwise I would be nothing.“[15] Das Musikmachen war für Xenakis existentiell. Gleichzeitig bestand das Musikmachen nicht in einem wiederholen von Wissensschemata in der Musik, sondern in einer „künstlerischer Forschung“. Was heißt bei ihm Forschung? Er begründet die Abkehr von seiner erfolgreichen Tätigkeit als Architekt damit, dass es „zu wenig Forschung in der Architektur“ gebe.[16]„Und ich habe mich in die Musik zurückgezogen, dort konnte ich, trotz aller Schwierigkeiten künstlerische Forschung realisieren.“ In diesem Kontext führte das ensemble recherche Plektá auf, das sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass „fünf Holzstämme“ (Weber) und drei verschiedene Arten von Trommeln neben Flöte, Oboe, Piano, Violine und Violncello zum Einsatz kommen sollen.
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Der fast minimalistische Titel Plektá gibt einen Wink auf die Vieldeutigkeit von Flechte, Flechtwerk und Textur. Flechten können sich u.a. auf Baumstämmen ansiedeln und ausbreiten. Vielleicht hat der Komponist deshalb die Baumstämme als Schlaginstrumente in seine Musikerforschung eingebaut. Das ensemble recherche benutzt zwei abgeschälte dicke Baumstämme, was schon an Xenakis‘ Intention vorbeigehen könnte. Vielleicht sind sie schon zu sehr Schlagzeug im Konzertsaal geworden. Flechten befinden sich meistens auf der Rinde der Nordseite eines Baumes, weshalb sie zur Navigation dienen können. Eckhard Weber formuliert die Komposition mehr mit einem Wissen des Plektá, wenn er schreibt:
Wie ein komplexes textiles Geflecht zu einer dichten Textur werden kann, bei dem einzelne Fadenstränge nicht mehr als einzelne wahrgenommen werden, so verbinden sich die instrumentalen Stimmen in Plektá allmählich stärker zu flächigen Strukturen. Insofern ist dieses Stück eine spannende Studie über Autonomie und Amalgamierung im instrumentalen Zusammenhang.[17]
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Wenn man auf den botanischen Begriff der Flechte zurückgeht, dann handelt es sich bei Flechten um Pilze in einer symbiotischen Lebensgemeinschaft von einem oder mehreren Einzelpilzen auf der Borke eines Baumes oder auf einem Stein. Plektá gibt einen Wink auf das Rhizom in der Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Das Rhizom zeichnet sich wie die Flechte dadurch aus, dass es keinen Baumstamm oder Stamm des Wissens ausweist. Die Flechte bietet wie das Rhizom keine „Tiefenstruktur“.[18] Ihrer Einleitung zu Mille Plateaux„Rhizom“ stellten Deleuze und Guattari 1980 ein Notenblatt des Pianostücks XIV für David Tudor von Sylvano Bussoti voran, auf das der Komponist eine unkoordinierte Linie mit vielen Schnittstellen gezeichnet hat.[19] Die Flechte entsteht durch das Machen und Musikmachen wie ein Rhizom. Plektá lässt sich mit dem Rhizom hören und lesen.
Ein Rhizom (…) verbindet unaufhörlich semiotische Kettenglieder, Machtorganisationen, Ereignisse aus Kunst, Wissenschaft und gesellschaftlichen Kämpfen. Ein semiotisches Kettenglied gleicht einer Wurzelknolle, in der ganz unterschiedliche sprachliche, aber auch perzeptive, mimische, gestische und kognitive Akte zusammengeschlossen sind: es gibt weder eine Sprache an sich noch eine Universalität der Sprache, sondern einen Wettstreit von Dialekten, Mundarten, Jargons und Fachsprachen.[20]
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Mit Zwischen den Sternen (2018/2019) von Christian Mason bot das ensemble recherche eine Uraufführung, die akustisch das Zwischen im Raum inszenierte. Christian Mason hat 2012 bei George Benjamin promoviert und 2015 den Ernst von Siemens Förderpreis für Komponisten erhalten. Das Licht und die Ewigkeit spielen in seinen Kompositionen den Titeln nach mehrfach eine Rolle. Für Zwischen den Sternen setzt er ein umgestimmtes, d.h. einen Scordatura Konzertflügel ein. Der Effekt dieser Umstimmung tritt gleich mit dem ersten Anschlag des Flügels bei der Uraufführung hervor. Der Ton schwingt lang schwirrend aus. Gleichzeitig klingt der Ton leer. Er wird von anderen im Raum verteilten Instrumenten wie Bassflöte und der Violine aufgenommen, die im Radialsystem V verteilt waren. Anders als bei David Paul Graham entsteht die Musik nicht aus einem astrophysischen Wissen der Gravitationswellen, sondern aus dem poetisch wie faszinierendem Klang der Teiltonverhältnisse, der sich zwischen den Instrumenten entfaltet.
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Christian Mason hat das Stück mit dem ensemble resonanz für die Aufführungshalle des Radialsystems V in sechs Teilen als eine Art Raumklangforschung erarbeitet. Wie klingt der Raum und Zwischenraum überhaupt? Es werden sozusagen akustische Entfernungen erzeugt, die sich kaum denken lassen. Nie gehörte Klänge entfalten eine eigene Dynamik, die das Licht zwischen den Sternen nicht erklären, sondern mit einem Staunen hörbar werden lassen. Christian Mason ist ein poetisch Fragender. Zeit- und Raumfragen spielen immer wieder wie in Gérard Griseys wissenschaftlich-technisch ausgefeilten Komposition Le Noir de l’Étoile vor zwei Jahren in der Parochialkirche[21] eine wichtige Rolle in der Musikliteratur. Doch Christian Mason hat mit seiner Komposition noch einmal einen eigenen, poetischen Zugang gefunden, der das Publikum auch ein wenig atemlos machte.
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Als Komponist hat Mason wiederholt an die Literatur wie den Surrealismus von David Gascoyne angeknüpft. So ist es denn nun das Sonett XX von Rainer Maria Rilke aus dem zweiten Teil der Sonette an Orpheus, das die Titelformulierung gibt. Dem Zwischen schenkt Rilke in den Sonetten mit „Zwischending“, „Zwischenräume der Zeit“ und „zwischen den Sternen“ eine besondere Aufmerksamkeit in der Komposition der insgesamt 57 Sonette und zwei „Anmerkungen“. Es strukturiert quasi die Sonette und verknüpft in XX die Sterne mit der Entfernung der Menschen zueinander. Vielleicht gibt es deshalb bei Mason auch Klänge, die zum Beispiel an die arabische Musik erinnern können.
Zwischen den Sternen, wie weit; und doch, um wievieles noch weiter,
was man am Hiesigen lernt.
Einer, zum Beispiel, ein Kind … und ein Nächster, ein Zweiter –,
o wie unfaßlich entfernt.[22]
Das Unfassliche des Zwischen lässt sich mit Christian Mason hören. Lässt man sich mit der ersten Strophe des Rilke-Sonetts, das auch „als ein Grab-Mal für Wera Ouckama Knoop“ im Februar 1922 im Château Muzot „geschrieben“ worden ist, auf ein Lesenhören ein, dann wechselt vom ersten Vers zum zweiten das Szenario. Was zunächst als eine astro-logische Betrachtung des Himmels formuliert wurde, wird zu einem Gedenken des Zwischenmenschlichen, um es einmal so zu formulieren. Wie sich mit den drei folgenden Strophen des Sonetts lesen lässt, geht es dabei um eine mit stummen Fischen witzig formulierte Sprachphilosophie. Was vermag Sprache? Masons starker Bezug auf die Sterne am Himmel wird mit dem Rilke-Zitat zugleich zu einer musikphilosophischen Befragung der Menschen untereinander.
Schicksal, es mißt uns vielleicht mit des Seienden Spanne,
daß es uns fremd erscheint;
denk, wieviel Spannen allein vom Mädchen zum Manne,
wenn es ihn meidet und meint.
Alles ist weit –, und nirgends schließt sich der Kreis.
Sieh in der Schüssel, auf heiter bereitetem Tische,
seltsam der Fische Gesicht.
Fische sind stumm …, meinte man einmal. Wer weiß?
Aber ist nicht am Ende ein Ort, wo man das, was der Fische
Sprache wäre, ohne sie spricht?[23]
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© Simon Detel
An dem „Ort, wo man das, was der Fische Sprache wäre, ohne sie spricht“, entfaltet sich eine Sprache, die nicht einfach hörbar ist. Im Modus der Frage formuliert Rilke eine Sprache im Zwischen, die sich nicht einfach entschlüsseln lässt. Die Scordatura des Klaviers und der Streichinstrumente verschiebt bei Christian Mason nicht zuletzt den Ort des Hörens. Es gibt bei ihm melodiöse Passagen. Dann wieder heftige Einschläge und Zäsuren. Doch das Zuhören wird bei ihm nicht zu einem Verständnis von Licht, Zeit und Raum, vielmehr wird es zu einer Frage der Empathie. Das macht ihn derzeit zu einem der anspruchsvollsten Komponisten. Man kann das Verteilen der Musiker im Raum wie es etwa John Cage schon beim Atlas Eclipticalis 2012 vom Ensemble Modern im Kammermusiksaal praktiziert worden ist[24] oder von Rebecca Saunders, der Ernst von Siemens Musikpreisträgerin 2019, in der Akademie der Künste am Pariser Platz mit Stasis-Kollektiv aufgeführt hat[25], auch auf die Hörgewohnheiten der Zuhörer*innen beziehen. Doch es gibt ebenso eine philosophische Dimension, wie sie bei Christian Masons Zwischen den Sternen anklingt.
Guardian (2017) von Chaya Czernowin ist der Cellistin Séverine Ballon als Konzert mit großem Orchester gewidmet. Die Dirigentin Simone Young leitete bei der dritten Aufführung dieser Komposition seit der Uraufführung mit dem SWR Symphonieorchester und Séverine Ballon das Deutsche Symphonie Orchester Berlin. Die Komponistin hat, wie sie vor der Aufführung im Großen Sendesaal im Gespräch mit Andreas Göbel mitteilte, konkret im Dialog mit der Cellistin das Stück ausgearbeitet. Die kreative Ausnahme-Cellistin habe ihr über Tage hinweg eigene Vorschläge vorgespielt. Sie war 2018 Stipendiatin des DAAD-Künstlerprogramms und hat an der Hochschule Hans Eisler in Berlin sowie an der Musikhochschule Lübeck Violoncello studiert. Ultraschall nennt sie im Porträt „eine furchtlose Forscherin am Violoncello“.[26] Vor knapp einem Jahr führte sie im Rahmen von MaerzMusik Time and Motion Study II für singende Cellistin und Live-Elektronik im Haus der Berliner Festspiele auf.[27]
Chaya Czernowin nennt ihre Komposition ausdrücklich nicht Cellokonzert, obwohl es sich um eines, wenn auch nicht im klassischen Sinne wie bei Robert Schumann oder solistisch bei Joseph Haydn oder Edward Elgar handeln könnte. Das Verhältnis des Violoncellos zum Orchester wird von Czernowin in einem anderen Modus komponiert, den man Traum nennen könnte. Das verändert die Haltung des Soloinstrumentes zum Orchester, wenn sie in ihrer Beschreibung davon spricht, was das Cello macht.
In Guardian träumt das Cello ein Orchester – und umgekehrt. Manchmal wächst der Celloklang, bis er das Orchester in sich aufzunehmen scheint, wie ein vergrößerter Resonanzkörper. Dann wieder träumt das Orchester, ein Cello zu sein oder eine einzelne Seite oder das Ende des Bogens.[28]
Die poetische Sprache, mit der Czernowin ihre Kompositionen beschreibt, spielt auf die Dimension der Theorie an. Denn die Komponistin legt sich nicht fest, indem sie semiologisch Aussagen über ihre Musik trifft. Die Komposition entsteht aus dem Musikmachen mit der Cellistin. Das Träumen des Cellos wie des Orchesters ist ein vager Modus, der sich nicht wissen lässt. So ist denn auch Guardian zunächst traumartig leise und unbestimmt angelegt. Guardian beginnt wie Ayre mit dem Atmen, wenn es in der Partitur für alle Blasinstrumente heißt: „To all winds: breathe individually when needed.“ Und das Violoncello beginnt mit einer leicht maskierten Melodie: „The melody should be heard, but slightley masked.“[29] Das ist eine sehr ruhige, leise Eröffnung, die die herkömmliche Eröffnung eines Konzerts wenigstens unterläuft. Im Traum werden die Melodien mehrdeutig und wer wen aufnimmt kann nicht entschieden werden. Der Traum ist weder vernünftig noch berechenbar.
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Als der Berliner Komponist Dieter Schnebel am 20. Mai 2018 verstarb, schrieb Chaya Czernowin eine Erinnerung an ihren Kompositionslehrer mit dem Titel „Frisch, fremd und doch so nah. Von der Kunst, die Frage an den Fragenden zurückzugeben“.[30] In diesem Artikel beschreibt sie, worin „Schnebels Arbeit bestand“, die womöglich viel mit ihrer eigenen als Komponistin zu tun hat, wenn man bedenkt, dass er sich unaufhörlich mit dem Verhältnis von Musik und Sprache befasste. Schnebel hat nicht nur Glossolalie 61 (1960-1965) oder Maulwerke (1980) und Körpersprache, Organkomposition für 3-9 Ausführende (1979/1980) als Kammermusiken komponiert. Er hat vielmehr in Anknüpfung an Heinrich von Kleists Novelle Das Erdbeben von Chili das Musiktheaterstück „St. Jago Musik und Bilder zu Kleist“ geschrieben, das 2005 im Rahmen von ultraschall in der Inszenierung von Cornelia Heger im Konzerthaus aufgeführt wurde. Insofern gibt Chaya Czernowin einen deutlichen Wink auf ihre eigene Arbeit, wenn sie an das Stück Für Stimmen (… missa est) erinnert.
Schnebels Arbeit bestand darin, die äußeren Grenzen zu markieren und sie anschließend in einem evolutionären Akt der Selbstbetrachtung und Selbstbefragung zum Verschwinden zu bringen. Für Stimmen (... missa est) gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Material oder nach den Formen des Umgangs mit dem Material. Unaufhörlich tastend, lotet es extreme – musikalische wie nicht musikalische – akustische Situationen aus.[31]
Wenn Chaya Czernowin Guardian mit einer erstaunlichen Umschreibung von Algorithmen formuliert, dann geht es nicht nur um Rechenprozess, Computer und Räume. Sie macht vielmehr die Algorithmen zum Paradigma des Nicht-linearen für Sprache und Musik, wie sie anders funktionieren könnten: „Die offene Form in der auf Algorithmen basierenden visuellen Computerarbeit ermöglicht die multidimensionale Entwicklung von Objekten auf eine Weise, die nicht linear ist, da jederzeit der ein oder andere Parameter der Gestalt in den Vordergrund tritt und die Gesamtform beeinflusst. Auf diese Weise denkt das Konzert.“ Erfassen lässt sich „das Konzert“ damit noch nicht. Er wäre womöglich eine falsche Haltung, das Konzert erfassen zu wollen. Aber es gibt einen Wink wie sich Träumen, Algorithmen und Denken bei Chaya Czernowin überschneiden. Dafür muss man dann Guardian hören.
Torsten Flüh
Sendetermine ultraschall-Konzerte
Abschlusskonzert
Kulturradio vom rbb
Konzert
03.02.2019, 20.04 Uhr (Mediathek)
Notos Quartett
kulturradio vom rbb
Musik der Gegenwart
13.02.2019, 21.04 Uhr
Ensemble recherche
Kulturradio vom rbb
Musik der Gegenwart
20.02.2019, 21.04 Uhr
Solo-Recital Séverine Ballon
Deutschlandfunk Kultur
Konzert
Dienstag, 19. Februar 2019, 19:05 Uhr
Kulturradio vom rbb
Musik der Gegenwart
Mittwoch, 27. März 2019, 21:04 Uhr
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[3] Morton Feldman zitiert nach: Eckhard Weber: Morton Feldman: Four Instruments. In: Deutschlandfunk Kultur (Hg.): ultraschall berlin. Berlin 2019, S. 42.
[5] Zur Relativitätstheorie und Gravitation siehe auch: Torsten Flüh: Gravitation statt Geist. Zu 100 Jahre Relativitätstheorie von Albert Einstein und dem Film Interstellar. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. November 2015 19:02.
[6] Siehe Eckhard Weber: David Paul Graham: Gravity. In: Deutschlandfunk Kultur (Hg.): ultraschall … (wie Anm. 3) S. 43.
[7] Notate des Berichterstatters aus dem Gespräch von Antonia Köster und Philip Graham mit Andreas Göbel am 18.01.2019 im Radialsystem V.
[8] Ute Frevert u.a.: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Frankfurt. New York: Campus, 2011 S. 9.
[9] Siehe Eckhard Weber: Chaya Czernowin: Ayre: Towed through plumes, thicket, asphalt, sawdust and hazardous air I shall not forget the sound of In: Deutschlandfunk Kultur (Hg.): ultraschall … (wie Anm. 3) S. 48.
[10] Siehe Schott „Aufführungen“ Ayre: Towed through plumes, thicket, asphalt, sawdust and hazardous air I shall not forget the sound of (Schott)
[13] Roland Bathes: Zuhören. In: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1990, S. 262.
[15] Iannis Xenakis: Autobiography [1975] IEMA.
[16] Iannis Xenakis zitiert nach Eckhard Weber: Iannis Xenakis: Plektá. In: Deutschlandfunk Kultur (Hg.): ultraschall … (wie Anm. 3) S. 49.
[18] Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Berlin: Merve, 1992, S. 23.
[19] Siehe ebenda S. 11 (unnummeriert).
[21] Siehe: Torsten Flüh: Musik der Zeit zwischen Wissenschaft und Kreativität. Walter Smetak, Alvin Lucier und Gérard Grisey bei MaerzMusik 2017. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. April 2017 21:36.
[22] Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus. Leipzig: Insel, 1923. (Wikisource)
[24] Vgl. Torsten Flüh: Komponieren mit dem I Ging. Junge Deutsche Philharmonie und Ensemble Modern spielen John Cage im Kammermusiksaal. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. September 2012 19:12.
[25] Vgl. Torsten Flüh: Klangraumerkundung. Zur Uraufführung von Rebecca Saunders Stasis-Kollektiv mit dem Ensemblekollektiv Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. November 2016 17:12.
[27] Siehe Torsten Flüh: Raum und Zeit der Flucht. Das Konzert Zeitgeist und der Film Chauka, Please Tell Us the Time auf dem Festival MaerzMusik 2018. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. März 2018 19:50.