Zirkus – Australien – Arbeit
Australian Highballing the New Circus
Chamäleon Theater bringt die Kunst des New Circus mit Scotch & Soda zur Perfektion
Scotch & Soda im Chamäleon Theater in den Hackeschen Höfen trifft gerade auf eine Kampagne des gleichnamigen Modelables in Berlin und dem Internet. Die New Circus Show im Chamäleon ist rasend schnell, frech, hochakrobatisch, super-sexy, aufgedreht und musikalisch top. Wow! – Was passiert da gerade? Alles Zufall? Ein Zusammentreffen von knallharter Artistenarbeit, Theater auf Weltniveau, Genrecocktail und amerikanischem Bekleidungskonzern Kellwood mit Amsterdamer Tochter Scotch & Soda. Was lässt einen fast vergessenen Longdrink der Highball-Art zum Zeitzeichen werden? Scotch & Soda bringt das Publikum im Chamäleon Theater zum Rasen.
Scotch & Soda kommt aus Brisbane, Australien. Die New Circus Company 2 um den smarten Equilibristen, Mitbegründer und Mitautoren der Show David Carberry erfindet gerade das Genre neu, indem Akrobatik, Comedy, Poesie, Jazz-Performance, Tanz zu einem extrem schnellen Stück montiert werden. Das Saxophone oder der Kontrabass bieten nicht nur Sound, vielmehr werden sie dem Publikum als Solo-Instrumente witzig nahegebracht. Die Künstlerinnen und Künstler bieten allesamt Solo-Qualitäten auf höchstem Niveau, um als Ensemble perfekt zusammen zu arbeiten. Körper fliegen. Scotch & Soda bietet noch bis zum 20. August Highballing, was mit Anglühen oder Druckaufbauen übersetzt werden könnte.
Das Chamäleon Theater mit seinen eigenen Produktionen wie den schon regelmäßigen Gästen von Down Under, aus Australien, gehört zu den wichtigen Akteuren des New Circus. Im Herbst/Winter 2011 gastierte die Artistengruppe C!rca aus Brisbane mit Wunderkammer in den Hackeschen Höfen. Bereits 2010 präsentierte das Chamäleon die Eigenproduktion Versus. New Circus im Format überschaubarer Ensembles von 10+ Artisten funktioniert vor allem im Austausch zwischen Brisbane und Berlin. C!rca oder Company 2 touren Festivals in Europa etc. Doch im Chamäleon können sie ihre Shows über sechs Monate weiterentwickeln und bis zur Perfektion ausbauen. Das macht die Mittelzeitproduktionen besonders. 6 Shows die Woche.
Musik und Artistik zusammenzubringen, hört sich zunächst nicht als eine besondere Herausforderung an. Die kleine oder größere Kapelle mit dem Tusch zum dreifachen Salto gehört sicher schon seit der Entstehung des modernen Zirkus im 19. Jahrhundert zwischen exotischer Tier- und Völkerschau eines Carl Hagenbeck aus Hamburg 1876[1] und den Höchstleistungen wie den „Akrobaten des Unmöglichen“[2], den Hanlon Lees in Paris 1879 zur Musikdramaturgie des Zirkus‘. Doch David Carberry und sein Ensemble wollten mit der Musik im New Circus etwas Anderes machen.
Welche Rolle spielt die Musik im Zirkus? Die Begleitmusik im Zirkus Renz am Schiffbauerdamm spielt seit 1842 eine eigene Rolle. Im „Illustrierten Familienblatt“ Die Gartenlaube schreibt 1876 ein ungenannter Berichterstatter, wenn nicht der Herausgeber, Ernst Keil, selbst ausführlich über die Zirkusaufführung Die Königin von Abyssinien mit einer ganzen Partitur aus „(p)omphafte(r) Marschmusik“, „sehr hölzerne(r), aber recht bezeichnende(r) afrikanische(r) Musik“, „unter lieblicher Musik (treten) die Sclavinnen auf“, „einen Augenblick erwartungsvolle Stille“ und „Jagdmusik“.[3] Die Begleitmusik wird so in die Funktion einer Bezeichnung und Einordnung des artistischen Geschehens gerückt.
Die passende Musik und der Tusch als Hervorhebung des artistischen Kunststücks als Ereignis gehören gewiss zum modernen Zirkus. Der Tusch als fanfarenartiger, stoßweise wiederholter Ton aus der Trompete oder anderen Blechblasinstrumenten verbreitete sich nach dem von Jacob und Wilhelm Grimm begründeten Wörterbuch der Deutschen Sprache offenbar erst nachhaltig seit Anfang des 19. Jahrhunderts in der deutschen Literatur und Festpraxis.[4] 1875 schreibt Heinrich Laube „mit schmetterndem tusch wurde das paar empfangen“.[5] Im Zirkus wird der Tusch nach einem Trommelwirbel und der Stille für die akrobatische Leistung zur Feier des geglückten Ereignisses.
Insofern brachte der Zirkus ein musikalisches Genre hervor, das halb im Dienste der Artisten, halb die Exotik der Tiere und Menschen allererst herstellend, dennoch eher weniger als mehr Beachtung fand. Anders gesagt: der Zirkusdirektor Ernst Renz und sein Regisseur Neiß knüpfen um 1875 in Berlin mit der Königin von Abyssinien an Giuseppe Verdis Oper Aida von 1871 an. Gesungen wird allerdings im Zirkus eher nicht. Der Zirkus Renz ist größer als die Opernbühnen zu jener Zeit. Es geht mehr um Körper als um Stimmen. Aber der Zirkus Renz war immer auch Grand Opera mit wirklichen Tieren und Menschen und Kunststücken.
Wenn über Zirkus gesprochen oder geschrieben wird, findet die Musik keine Erwähnung. Sie wird in ihrer Funktion überhört. Jüngst hat Thomas Oberender (Intendant Berliner Festspiele) in seinem Essay Warum Zirkus? in der Zeitschrift Theater der Zeitüber das „Stattfinden“ und das Verhältnis des Zirkus zum Text, aber nicht zur Musik geschrieben.
Mir scheint, dass von allen Kunstformen Zirkus die transitorischste ist. Keines seiner Werke kann überdauern, das Wissen ausgenommen, das in den Körpern wohnt und zwischen den Künstlern und Generationen weitergegeben wird. Als eine live art ist der Zirkus an die Präsenz der Künstlerinnen und Künstler vor Publikum gebunden – man muss dabei sein, wenn die Vorstellung stattfindet, und seine Zeit als Besucher mit der des Künstlers bzw. der Künstlerin teilen.[6]
Die Uncanny Carnival Band mit Lucian McGuiness als Band-Leader macht nun alles anders mit der Zirkusmusik. Sie spielt mit auf der Bühne, erfindet Instrumente wie das Fahrradrad mit seinen Speichen als Percussion und jedes Band-Mitglied wie Ben Hendrym Chris Odeam, Eden und Matthew Ottignon sowie Lucian McGuiness entwickelt die Musik mit seinem Instrument live zur Performance, während David Carberry selbst als Akrobat zur Gitarre greift. Auf diese Weise wird sehr schnell klar, dass es hier nicht um eine Nummern-Revue im Kostüm einer leicht anrüchigen Jazz-Spelunke der 20er Jahre geht, sondern um einen kreativen Prozess aller Ensemblemitglieder im live. Tendenziell machen alle abwechselnd alles. Flexibilität und Multitasking werden zum Produktionsprozess des New Circus bei dem jede/r auf jede/n achtet.
Auf der Bühne sind Leichtigkeit und Spaß so ziemlich das Anspruchsvollste. Scotch & Soda versprüht eine Freude am Machen und am exakten Timing, die sich als Freude am Schauen auf das Publikum überträgt. Könnte der eine oder andere Besucher anfangs Bedenken gehabt haben, ob er denn auch den Australian Humor verstehen werde, so erweist sich dieser nicht als gesprochener, vielmehr ergibt er sich aus den Tricks und Drehungen in der Performance, die blitzschnell die Erwartung überrascht. Etwas Anderes passiert, als das wofür die Erwartung geweckt wurde.
Humor hat viel mit einem Wissen, das geweckt, aber nicht eingelöst wird, zu tun. Aus einem Saxophon-Solo mit Elctronics, bei dem Chris Odea auf einen rotierenden Teller steht, wird nach wenigen erst langsamen, dann schneller werdenden Drehungen ein Traumexperiment. Chris Odea hätte jetzt irgendwie auch davonfliegen können. Lucian McGuniness setzt sich mit einer Ukulele auf einen Kasten und wiederholt mehrfach eine sehr einfache, fast albern kurze Melodie, von der das Publikum erwartet, dass sie nun endlich ausgebaut wird. Dann wechselt McGuiness in ein kurz leidenschaftlich aufflammendes Ukulele-Solo, um sogleich wieder in die dumme kurze Melodie zurückzufallen.
Chelsea McGuffin und David Carberry arbeiten äußerst genau und klug mit dem Erwartungswissen, das immer wieder in eine entgegengesetzte Pointe gerückt wird. Es geht somit nicht um die Erfüllung von Erwartungen in der Logik der Wiederholung, wie sie für den Zirkus oder die Grand Show beispielsweise für The One von Roland Welke mit Jean Paul Gaultier eingesetzt wird.[7] Die Erwartungen werden hier im Modus der Überbietung erfüllt. Die Wiederholung findet möglicherweise kleine Verschiebung statt, was gewiss auch eine Kunst ist, aber sie wird als Erwartungswissen nicht wirklich überrascht. Das unterscheidet den New Circus von der Grand Show zumindest aktuell in Berlin. Die Traumlogik von The One funktioniert im Modus der Wiederholung.
Der Humor in Scotch & Soda ist witzig und gewitzt. Natürlich ist er harte Arbeit. Anders kann das Tempo nicht erreicht werden. Ob es um die Strapaten, Vertikalseil, Kunstrad oder Flaschen Balance geht, der witzige Einsatz von Champagnerflaschen, um darauf zu balancieren, muss durch Körperbeherrschung erarbeitet werden. Weil alles so leicht aussieht, wäre gelegentlich der Hinweis angebracht: Don’t do this at home! Die Balance auf einer Champagnerflasche kann zu Knochenbrüchen führen, sofern es der Laienakrobat überhaupt schafft auf einer Flasche zu stehen.
Varieté und damit auch New Circus verrät immer auch etwas über Leistungs- und Arbeitsmodelle. Natürlich gibt es die Spezialistin für das Statische Trapez und Apachtentanz Alice Muntz, die bereits in Wunderkammer mitwirkte. Und James Kingsford Smith beherrscht das ein-, auf- und abrollen der Strapaten sicher meisterlich. Doch er brilliert nicht nur in der Akrobatik als Spezialist und Virtuose, vielmehr packt er immer auch an, wo eine helfende Hand benötigt wird. Alice Muntz assistiert ebenso bei der Flaschen Balance von Kate Muntz. In Scotch & Soda schimmert das Arbeitsmodell der Digital Boot Camps, Teamplayer und Springer durch. Arbeit erfordert heute nicht nur eine roboterartige Gleichförmigkeit am Fließband, sondern Flexibilität, Verlässlichkeit und Kreativität in den Modi des Designs.
Das Kostüm und Design vom Scotch & Soda sieht oberflächlich nostalgisch nach Roaring Twenties mit der Einführung des Taylorismus als Arbeitsmodell aus.[8] Doch statt Fließbandarbeit mit den immer gleichen Handgriffen, führt hier der New Circus das Arbeitsmodell einer hochflexiblen, gut reflektierten, teamorientierten Arbeit auf. Witzig wird Eden Ottignon mit seinem Kontrabass als Braut verheiratet, ob Frau oder Mann bleibt dahingestellt. Doch dann spielt er seinen oft und leicht unterschätzten Kontrabass, bringt ihn zum Singen und führt dem Publikum vor, dass sich mehr als nur ein rhythmisches Zupfen der Saiten mit dem Instrument im Jazz machen lässt.
Torsten Flüh
Chamäleon Theater
bis 20. August 2017
Hackesche Höfe
Hackescher Markt
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[1] Siehe: Lieselotte Hermes da Fonseca: Der Hamburger Zoo von Carl Hagenbeck. Über Menschen und Tiere schreiben – und lesen. In: Heike Brandstädter, Torsten Flüh: Hamburger Textgänge. Hamburg: edition fliehkraft, S. 83-106.
[2] Siehe Jacques Rancière: Die Akrobaten des Unmöglichen. In: ders.: Aisthesis. Vierzehn Szenen. Wien: Passagen Verlag, 2013, S. 109-127.
[3] (ohne Autor): Die Königin von Abyssinien. In: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 337–340, Leipzig, 1876. (Wikisource)
[5] Ebenda.
[6] Thomas Oberender: Warum Zirkus? In: Theater der Zeit, Jahrgang 2017, Heft 04/2017. (Online-Extra)
[7] Siehe: Torsten Flüh: Traumheftig! Die neue Grand Show THE ONE im Palast. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Oktober 2016 20:56.
[8] Zu Taylorismus und Design siehe: Torsten Flüh: Von der Design-Wende. Zur Tagung Verhaltensdesign im Hybrid Lab. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Dezember 2016 21:12.