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Eine moderne Frau mit Fragen an die Gegenwart - Zum Film und Buch Ein deutsches Leben

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Sekretärin – Karriere – Rundfunk 

 

Eine moderne Frau mit Fragen an die Gegenwart 

Zum Buch und Film Ein deutsches Leben mit der Elitesekretärin Brunhilde Pomsel

  

Schuld ist eine Frage des Wissens, weniger der Moral. Brunhilde Pomsel, die am 27. Januar im Alter von 106 Jahren verstorben ist, hat in einer wohl mehr als dreißigstündigen Erzählung über ihr Leben abgelehnt, Schuld für ihr Handeln auf sich zu nehmen. 2013 begann sie im Alter von 103 Jahren erstmals über ihr Leben als moderne Frau im Berlin der zwanziger bis vierziger Jahre zu sprechen. Die 1911 in Berlin Geborene machte als Zweiundzwanzigjährige zunächst Karriere als Sekretärin beim Rundfunk unterm Fernsehturm. 1942 wechselte sie ins Reichspropagandaministerium am Wilhelmplatz und arbeitete als „Stenotypistin“ im Vorzimmer des „Ministers“ Joseph Goebbels. Im Film spricht sie von sich als „Mädchen“, dabei führte sie ein Leben als eigenständige, gutverdienende Frau.

 

Der Aufstieg von der Tochter eines Handwerkers über eine Lehre bei einem jüdischen Konfektionsgroßhändler am Hausvogteiplatz zur Stenotypistin eines jüdischen Rechtsanwalts, um als gerade rechtzeitig in die NSDAP eingetretenes Mitglied im Haus des Rundfunks und schließlich im Vorzimmer von Goebbels Karriere zu machen, wird in dem Begleitbuch von Thore D. Hansen zum Film Ein deutsches Leben– Kinostart 6. April – eher angerissen als biographisch nachgezeichnet. Die Einhundertdreijährige im Film ist hochpräsent und sympathisch, während sie entscheidende Ereignisse ihrer frühen Karriere reflektiert, bewertet und zugleich eine Reihe schwer auszuhaltender Widersprüche produziert. Karriere hieß für sie, „an einen Platz gestellt“ zu werden, um ihr Bestes zu tun.

 

Der Film von Christian Krönes, Olaf S. Müller, Roland Schrotthofer und Florian Weigensamer besticht durch eine lange Eröffnungssequenz in Schwarzweiß, in der die Kamera über das faltige Gesicht der Einhundertdreijährigen fährt, während diese schweigt und mit einem tiefen Durchatmen zu sprechen beginnt. Das Gesicht, nachgezogene Augenbrauen, Brille der Luxusmarke Miu Miu im Stil der 50er Jahre, feine Härchen auf der Haut, Kurzhaarschnitt in die Stirn gekämmt, wird von der Kamera (Visual Director Christian Kermer) erkundet, abgetastet. Man kann es ein schönes Gesicht für eine Einhundertdreijährige nennen. Die Zähne gar, gepflegt. Alles, was Brunhilde Pomsel erzählen wird, wirkt authentisch, wohlüberlegt bis in die Purzelbäume der Kausalsätze und Brüche mitten im Satz. Man schaut und hört ihr zu beim erinnernden Denken, in dem sich die Zeiten des Wissens überlagern.

 

Nachträgliches Wissen wirkt beim Erzählen vor allem als ein Nicht-Wissen hinein. Sie hat nichts gewusst. Was hatte sie gewusst? Sie lernte wenigstens als Sekretärin beim Südwestfunk SWF ab 1950 und später als Chefsekretärin des ersten ARD-Koordinators Lothar Hartmann bis zu ihrer Pensionierung 1971 in 20 Jahren, was sie nicht gewusst haben durfte. Wissen und Erzählen wirken auf faszinierende Weise in ihre autobiographische Erzählung ineinander. Lügt Brunhilde Pomsel wissentlich vor der Kamera, wenn sie erzählt? Auf dem Podium im Grünen Salon der Berliner Volksbühne sagt Thore D. Hansen, der die gut dreißig Stunden Filmmaterial mehrmals gesichtet hat, dass sie lügt. Eine Frau aus dem Publikum empört sich, dass Brunhilde Pomsel überhaupt so viel Aufmerksamkeit zuteilwird.  

 

Die Erzählungen von Brunhilde Pomsel, zum Film und in Kontrast mit oft tonlosen Zeitdokumenten geschnitten, sind mehr als nur ein Zeitzeugnis. Sie sind vielmehr eine Aufführung von Wissen und Nicht-Wissen, das sich einer durchgängigen Chronologie und Kausalität entzieht. Es wäre wohl zu viel gesagt, wollte man sie als Täterin im Dunstkreis der totalitären Macht verurteilen. Doch mitgetan hat sie nicht nur mit Eifer, sondern auch dem Gefühl, einer selbsternannten, neuen Elite anzugehören. 

Es war einfach ein bisschen Elite. Deshalb war es schon ganz nett, da zu arbeiten. Alles angenehm, gefiel mir gut. Nett angezogene Menschen, freundliche Menschen. Ja, ich war halt auch sehr äußerlich in der Zeit noch, sehr dumm.[1]

 

Thore D. Hansens Buch gehört zum Film. Es soll den Film in seinem Bild-, Schnitt- und Montageverfahren begleiten. Was im Film durch eine Stimme aus dem Off gerade nicht erzählt wird, ordnet der Politikwissenschaftler zu einer chronologischen Erzählung und kontextualisiert die immer auch entgleitende Geschichte zwischen Alltag mit feinen Kleiderstoffen und Sportpalastrede zum „totalen Krieg“ von Goebbels am 18. Februar 1943. Denn nach den Filmaufnahmen 2013 rutschte nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und schließlich mit der amerikanischen Präsidentschaftswahl 2016 nahezu plötzlich der politische Diskurs in einen Facebook- und Twitter-Populismus, wie es die etablierten Parteien nicht für möglich gehalten hatten. 

Brunhilde Pomsel sollte uns interessieren, weil sie uns auf etwas aufmerksam macht: auf uns selbst, unsere Ängste, unsere Arroganz und unsere Geringschätzung einer mühsam und blutig erkämpften Freiheit – und die Missachtung von Mechanismen der Entsolidarisierung und Verrohung in Zeiten der Globalisierung.[2] 

 

Die Geschichte der Medien-Sekretärin Brunhilde Pomsel ist nicht zuletzt eine Eliten-Erzählung. Sie will zur neuen Elite gehören. Frühzeitig blendet sie als Tochter eines Malermeisters im Berliner Villenviertel Südende die Berufsverbote gegen jüdische Juristen aus oder befürwortete sie womöglich gar, obwohl sie als Stenotypistin bei Dr. jur. Hugo Goldberg, einem Versicherungsmakler, die Folgen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums am 7. April 1933 mitbekommen haben muss. Die Hintergründe von Goldbergs Krise Ende 1932 können ihr nicht verborgen geblieben sein, wenn sie seine Briefe schrieb. In einem merkwürdig verdrehten „Gefühl“ leugnet und bestätigt sie es, indem sie sich entsolidarisiert. 

Dann, kurz vor 1933, kürzte Dr. Goldberg meine Arbeitszeit um die Hälfte, da seine Geschäfte nicht mehr so gut liefen. Da hatte ich schon das Gefühl, dass er seine Kanzlei und überhaupt seine Wohnung in Deutschland bald auflösen würde.[3]

 

In erstaunlich verschachtelter Weise spricht Pomsel von einem prognostischem „Gefühl“ und der späteren, zwangsweisen Emigration oder gar Deportation ihres jüdischen Arbeitgebers und Nachbarn in Südende. Die Verschachtelung des historisch-biographischen Wissens behauptet ein Nicht-Wissen des bereits im Dezember 1932 offensichtlichen oder in der Vereinheitlichung der „Geistesrichtung“ versteckten Antisemitismus. In der nationalsozialistischen Wochenzeitung Reichswart mit Hakenkreuz im Titel von Ernst von Reventlow, einem altgedienten Seeoffizier, Politiker und Journalisten in Berlin erschien am „10. Julmond (Dezember) 1932“ der Artikel „Die kulturpolitische Bedeutung des Rundfunks“ von Edgar Wundsch.[4] Offen antisemitisch ist der Artikel nicht.

 

Der Artikel ist in zweierlei Hinsicht für die Frage nach dem Wissen Brunhilde Promsels relevant. Erstens wird sie von Wulf Bley, dessen Buch sie 1933 bei der Machtergreifung „noch nicht ganz beendet“ hatte, zum Rundfunk vermittelt.[5] Zweitens hatte dieser schon 1932 das Buch Deutsche Nationalerziehung und Rundfunkneubau! in Berlin veröffentlicht. Der Artikel von Edgar Wundsch im Reichswart kann ebenso ein Pseudonym von Bley wie Produkt einer breiteren Machtdiskussion unter Nationalsozialisten zur Aufgabe des Rundfunks sein. – Die Neue Ökonomische Politik der zwanziger Jahr in der Sowjetunion hatte nicht zuletzt die Zeitung und den Film emphatisch für die Formulierung des „Sowjetmenschen“ genutzt, wie Ivan Kulnev in seinen Collagen Das sowjetische Experimententfaltet. – Es geht in dem Artikel um die Formulierung 

einer  e i n h e i t l i c h e n  G e i s t e s h a l t u n g …, einer  a u s  d e m  d e u t s c h e n  W e s e n  gewachsenen religiösen Anschauung, die sich mit unserer Liebe zum Volke, mit der Verteidigung desselben und mit der Ausbreitung unseres Volkes und aller sich daraus ergebenden Konsequenzen, ohne mit den Vorstellungen von Sittlichkeit und dem Streben nach innerer Vervollkommnung in Widerspruch zu geraten, vereinbaren läßt.[6] (Gesperrt gedruckt im Original)  

 

Erst nachdem Bley ihr angeboten habe, sie zum Rundfunk zu vermitteln, sei sie in die NSDAP eingetreten. Die Zusammenhänge zwischen nationalsozialistischer Kulturpolitik und Rundfunk will die 21jährige Brunhilde Pomsel nicht gewusst haben. Dabei stenographierte oder tippte sie wenigstens ein Buch um die Jahreswende 1932/33 für Bley. 1933 erschien mit einem Vorwort von Wulf Bley Revolutionen der Weltgeschichte: Zwei Jahrtausende Revolutionen u. Bürgerkriege bei Moser in München. Hatte Pomsel das Buch zur konservativen Revolution und Machtergreifung getippt, sozusagen im Voraus? Welches Buch sie quasi mitgeschrieben hatte, hätte eigentlich erinnerbar sein müssen, auch mit Einhundertdrei. Auch der Rundfunk ist für sie nur „eine() große() Firma“, obwohl sie mit dem Autor des „Rundfunkneubau(s)“ Bücher schreibt. 

Er könne seine Sekretärin mitbringen, und die möchte er aber vom Rundfunk bezahlen lassen, die möchte er nicht selber bezahlen. Er will mir einen Vertrag beim Rundfunk besorgen. Das ist doch prima, dachte ich, bei so einer großen Firma, was für eine Chance! Also, ich habe da sehr gerne Ja gesagt.[7] 

 

Die „Firma“ Rundfunk soll nach Edgar Wundsch, der vermutlich Wulf Bley war, eine klar definierte völkisch-rassische Kulturpolitik betreiben. Die Emphase des Verbrechens wird Bley kaum vor seiner Sekretärin geheim gehalten haben können. Bley/Wundsch wollte mit seinen Büchern wie im Rundfunk gehört werden. Dafür verlangt er quasi mit der deutschen Rechtstradition nach dem römischen Recht, dem französischen Kommunismus und den „jüdische(n) Einflüsse(n)“ zu brechen. 

Aber trotzdem werden wir den Mut haben müssen, wenn wir uns nicht selbst aufgeben wollen, an dem zu rütteln, was  r ö m i s c h e  E i n f l ü s s e  seit 200 Jahren, was späterhin f r a n z ö s i s c h e  u n d  j ü d i s c h e  E i n f l ü s s e  an sittlichen Gesetzen, an religiösen Glaubensgeboten, an Lebens- und Weltanschauungen zur  V e r n i c h t u n g  d e s  D e u t s c h t u m s  errichteten. Wir sind uns der großen Verantwortung gegenüber unserem Volke wohl bewußt und werden eine reine  d e u t s c h e  K u l t u r p o l i t i k  durch den Rundfunk betreiben.[8]

 

Das Gesperrte in der Zeitung war das Schreiben in Großbuchstaben auf Twitter. Auf beispielhafte Weise liefert Edgar Wundsch, dessen Name sich als Annagramm aus Wunde und Wunsch kaum überlesen lässt, die Blaupause für die Rundfunkpolitik als neuartigem und zentralen Medium für die Kulturpolitik der Nationalsozialisten. Das „Deutschtum“ wird allererst hergestellt, indem römische, französische und jüdische „Einflüsse“ entfernt werden müssen. Rhetorisch ist das kulturpolitische Papier für den Rundfunk am Vorabend der Machtergreifung etwas umständlich, aber knallhart formuliert. Dass Brunhilde Pomsel die Rede von „jüdische(n) Einflüsse(n)“ nicht mit ihren Arbeitgebern und ihrer „jüdische(n) Freundin Eva Löwenthal“ zusammengebracht haben will, hat möglicherweise passieren können. Doch den Rundfunk als kulturpolitisches Instrument wird ihr Wulf Bley schon umrissen oder in den Block diktiert haben.

 

Man muss die Welt der Wochenzeitung Reichswart, die im hochmodernen, 1931 eröffneten Europahaus von Otto Firle in der Stresemannstraße 90-94 mit Dachrestaurant, Büros und großen Vergnügungseinrichtungen residierte und gleichwohl „deutsche Kulturpolitik durch den Rundfunk“ vertrat, gegenschneiden zur Welt von Paul Abrahams Operette Ball im Savoy, die am 23. Dezember 1932 „Welt-Uraufführung“ feierte. Die ein wenig überdrehte und polyglotte Welt der Operette, die im riesigen Großen Schauspielhaus von Hans Poelzig am Schiffbauerdamm aufgeführt wurde, führt nicht nur berliner, französische, amerikanische, italienische, sondern auch noch türkische und andere „Einflüsse“ auf und wird vom Publikum bejubelt. Eine „reine deutsche Kulturpolitik“ wirkt dagegen fast aberwitzig. Man muss die Widersprüche aufdecken, die durch Vereinheitlichung und Reinheit verdeckt werden sollen.

 

Es lohnt sich, einen weiteren Artikel der Ausgabe vom 10. Dezember 1932 zu lesen, um aberwitzige Parallelen zur rechten Polemik der AfD von Deutschtum, Geschlechterrollen und Europafeindlichkeit von heute zu entdecken. Auf Seite 2 wurde der Artikel Was ist Europa? abgedruckt, während der Verlag ausgerechnet im Europahaus arbeitete und die Redakteure zu Mittag auf die Dachterrasse gingen. Dass sich Geschichte wiederholen könne, muss man nicht unbedingt glauben. Aber dass Erzählweisen als Gespenster recht machtvoll zurückkehren können und Marine Le Pen 2017 Dinge wiederholt, die schon 1932 im nationalsozialistischen Reichswart gesperrt formuliert wurden, lässt sich mit folgendem lesen: 

Aber, wenn wir fragen: W a s  i s t  E u r o p a? so erhalten wir darauf keine Antwort, jedenfalls keinen Bescheid, der eine ungefähre Sicherheit brächte, daß auch ein Einheitsb e g r i f f  „Europa“ vorhanden sei.[9]

Europa in seiner Vielfalt wird damals wie heute als Topos benutzt, um allererst einen nationalen „Volkskörper“ zu formulieren. Es ist nicht die Unsicherheit eines „Europabegriffs“, die kritisiert werden muss, weil sie besser ausgearbeitet gehörte, sondern es ist die Naturalisierung Deutschlands oder Frankreichs oder Englands, die machtpolitisch versprochen werden muss, damit Wahlen gewonnen werden. Ob das ökonomisch oder politisch irgendeinen Sinn macht, spielt in der Politik von Machtpolitikern keine Rolle. Sie wollen an die Macht. 

Briands Paneuropavorschläge hatten als Grundlage den gleichen Gedanken, ob er diesen nun jeweilig politisch frisierte oder wirtschaftlich. Hält überhaupt der Franzose irgend einen Plan, irgend eine Maßnahme „im Interesse Europas“ für unbedingt notwendig, so meint er damit nur die Festigung französischer Vorherrschaft in Europa und dazu als Hauptmittel eine  i n t e r n a t i o n a l e  D e n a t u r i e r u n g  D e u t s c h l a n d s. … „Europagedanke“ wie ihn die anderen Mächte verwirklichen möchten und die Europaschwärmerei des Micheldeutschen  s i n d  u n d  b l e i b e n  d i e  T o d f e i n d e  d e s  d e u t s c h e n  V o l k e s  u n d  d e s  D e u t s c h t u m s  s c h l e c h t h i n. [10]   

 

Ein deutsches Leben und die Erzählungen vom Brunhilde Pomsel kehren als Gespenster wieder. Erst wenn man nicht nur den Erzählungen einer überaus intelligenten Einhundertdreijährigen einen nicht nur aktuellen, sondern durchaus historisch möglichen Kontext entgegenhält, werden die Widersprüche deutlich. Sie stand sozusagen neben Wulf Bley als dieser im Rundfunk den Fackelzug der Nationalsozialisten auf der Wilhelmstraße am 30. Januar 1933 als Machtergreifung nicht nur kommentierte. Er gab dem Ereignis seine Stimme und Worte in der Live-Übertragung, was die Rundfunkhörerinnen und -hörer ungemein fasziniert haben muss. Der Fackelzug kam zu ihnen ins Wohnzimmer, so als twittere, als zwitschere mir Mr. President noch in der Nacht seine Aufmerksamkeit zu.

 

Der Gebrauch des Begriffs schwul hat mich bei Brunhilde Pomsel durchaus überrascht. Er ist einer der merkwürdigen lexikalischen Wissensscharniere. Sie gebraucht den Begriff nicht unbedingt negativ. Doch in welche Zeit gehört der Begriff? Welche Zeit – 1934, 1950 oder 2013 – ruft der Begriff auf? Wie Robert Beachy in Gay Berlin: Birthplace of a modern Identity 2014 gezeigt hat, verwendete Christopfer Isherwoods Freund Wystan Hugh Auden schwul 1929 in einem Brief aus Berlin positiv, um sich selbst zu bezeichnen.[11] Auf Schulhöfen wird schwul eher ausgrenzend verwendet. Heute wird er für das Schwule Museum in Berlin aktivistisch gewendet.[12] Der Bruder meiner Großmutter und ihrer Schwester war nicht „schwul“. Sie gebrauchten den Begriff, dessen Herkunft ungeklärt ist, nicht. 

Jule Jaenisch, ein wunderbarer Mann, ohne den existierte der ganze Rundfunk nicht. Der morgens, mittags, abends die ganzen Nachrichten gesprochen hat. Jule Jaenisch war im KZ. »Ja, aber warum denn?« »Ja, der soll ja schwul sein.« »Ach, um Gottes willen, der – schwul?« Schwul war ja überhaupt … schwul war ja schrecklich damals. Was sind denn das für Menschen? Und der Jule Jaenisch, so ein netter, freundlicher Mann. »Ja, ja freundlich sind die, aber sind schwul.« Wir waren schon ein verklemmter Haufen.[13]

 

Dafür, dass sich diese Erzählung vom KZ und dem schwulen Nachrichtensprecher auf das Jahr 1934 bezieht und Berlin bis 1933 die schwulste Stadt der Welt war, ist die Erzählung durchaus verdreht. Noch kurz zuvor war Magnus Hirschfeld als Sexualpapst auf Weltreise gegangen. Wiewohl er bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 zu einem besonders prominenten Opfer wurde und sein Sexualwissenschaftliches Institut im Tiergarten von SA überfallen, zerstört und geplündert worden war.[14] Weit verbreiteter war der Begriff „175er“, weil es der von den Nationalsozialisten verschärfte Straftatbestand war, für dessen Abschaffung Hirschfeld gekämpft hatte. Und natürlich wurden die schwulen Mitarbeiter des Rundfunks 1934 nicht allein wegen des „schwul“ verhaftet und ins KZ nach Sachsenhausen gebracht, sondern wegen des sogenannten Röhm-Putsches als innerparteilichen Machtkampf der SA in der NSDAP. Die sexuelle Orientierung wurde lediglich als Machtmittel instrumentalisiert.

 

Die Montage des Films, wenn auf die Schwul-und-KZ-Erzählung tonlose Dokumentaraufnahmen von einem Jungmännerlager der NSDAP oder SA gezeigt werden, in denen mit nackten Oberkörpern geprahlt wird, illustriert die Ambivalenz der Männlichkeits- und Heldenmythen der Nationalsozialisten in Kontrast und Überschneidung mit der Verfolgung von Homosexuellen und ihrer Inhaftierung, ja, Ermordung in den KZs von Sachsenhausen oder Neuengamme. – Wenn Jacqueline Roussety die Transkriptionen von Brunhilde Pomsels Erzählungen liest, bekommen sie einen anderen Tonfall. Christian Kroenes, Uwe-Karsten Heye, Thore D. Hansen und Joachim Scholl konnten sich indessen darauf verständigen, dass die Erzählungen viel über aktuelle, politische Diskurse der AfD oder des Front National etc. verraten und lehren können. Ein wichtiges Projekt! 

 

Torsten Flüh 

 

Ein deutsches Leben 

Ein Film von 

Christian Krönes, Olaf S. Müller, Roland Schrotthofer, Florian Weigensamer       

Kinostart 6. April 2017

 

Thore D. Hansen 

Ein deutsches Leben 

Was uns die Geschichte von Goebbel’s Sekretärin für die Gegenwart lehrt. 

18,90 € 

Enthält 7% MwSt. 

zzgl. Versand 

208 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 13,7 × 21,7 cm

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[1] Zitiert nach: Thore D. Hansen: Ein deutsches Leben. Was uns die Geschichte von Goebbels‘ Sekretärin für die Gegenwart lehrt. Berlin: Europa Verlag, 2017, S. 58.

[2] Ebenda S. 157.

[2] Ebenda S. 27.

[4] Edgar Wundsch: Die kulturpolitische Bedeutung des Rundfunks. In: Reichswart Nummer 49, 13. Jahrgang, Berlin 10. 12. 1932, S. 3. (Digitalisat Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek)

[5] Thore D. Hansen: Ein … [wie Anm. 1] S. 40.

[6] Edgar Wundsch: Die … [wie Anm. 4].

[7] Thore D. Hansen: Ein … [wie Anm. 1] S. 41.

[8] Edgar Wundsch: Die … [wie Anm. 4].

[9] Ohne Autor (Reventlow?): Was ist Europa? In: Reichswart Nummer 49, 13. Jahrgang, Berlin 10. 12. 1932, S. 2. (Digitalisat Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek)

[10] Ebenda.

[11] Siehe: Torsten Flüh: „Entschuldigen Sie, Madam, aber ich bin schwul.“ Zu Robert Beachys Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Oktober 2015 20:20

[12] Siehe: Torsten Flüh: Bilder erzählen. Zur Neu-Eröffnung des Schwulen Museums in der Lützowstraße. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Juni 2013 22:27.

[13] Zitiert nach Thore D. Hansen: Ein … [Anm. 1] S. 51-52.

[14] Siehe: Torsten Flüh: Zu Magnus Hirschfelds Bilderatlas. Aus Anlass der Spendengala Marlene für Magnus – DenkMal für Hirschfeld und die ersten Hirschfeld-Tage. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Mai 2012 22:51


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