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"Hören Sie das Geräusch?!" - Zum Programm und Eröffnungskonzert von MAERZMUSIK festival für zeitfragen

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Zeit – Musik – Geschichte

 

 

„Hören Sie das Geräusch?!“

Zum Programm und Eröffnungskonzert von MAERZMUSIK festival für zeitfragen 

Die Geschichte erinnert sich nicht, vielmehr wird sie als eine Praxis des Vergessens ausgeübt. Weit mehr als das, was von der Geschichtsschreibung z. B. „eines universalen Fortschritts der Musik einer kleinen Avantgarde“, wie Berno Odo Polzer es auf der Pressekonferenz zu MaerzMusik formuliert, vermerkt wird, fällt dem Vergessen anheim. Im Fall des französischen Komponisten rumänischer Herkunft Horaţiu Rădulescu hat das ganz konkret mit einer eigensinnigen Partitur für Clepsydra (1981/1982) zu tun. Für das Eröffnungskonzert musste das „Gekritzel“, wie es der Pianist Ernst Surberg verrät, erst einmal erforscht und transkribiert werden, damit die 16 Spieler in der Weltpremiere der Originalversion Rădulescus Opus 47 auf 8 präparierten Klavieren überhaupt spielen können.

Frederic Rzewskis 50-minütige Komposition The People United Will Never Be Defeated aus 36 Klaviervariationen schienen ebenfalls fast vergessen. Am Freitagabend trat der 80jährige Komponist mit einem Konvolut loser Notenblätter unter dem Arm auf die Große Bühne des Hauses der Berliner Festspiele, setzte sich auf den Hocker vor dem offenen Steinway & Sons Konzertflügel und – stand wieder auf. „Hören Sie das Geräusch?!“ Entschlossen die Arme mit den Fäusten in die Hüften gestemmt forderte er: „Kann man das abstellen!“ Schreckenssekunde. Man entgegnete ihm kollektiv, dass das die Klimaanlage sei, die laufen müsse, damit das Publikum nicht ersticke. Er setzte sich und spielte nicht 50, sondern exakt 100 Minuten seine Klaviervariationen nach den vorbereiteten Notenblättern. Standing Ovations! – Am kommenden Sonntag um 13:00 Uhr wird Frederic Rzewski im Kraftwerk Mitte während der Veranstaltung The Long Now das Konzert wiederholen.

The People United Will Never Be Defeated lässt sich als serielle Musikgeschichte verstehen. Die Komposition spielte als chilenisches Widerstandlied El pueblo unido, jamás será vencido („Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden“), während der Herrschaft des Pinochet-Regimes seit 1973 selbst eine geschichtsträchtige Rolle. Als Nueva Canción Chilena steht das Lied in der Tradition der sozialistischen Folklore wie sie letztlich von Hanns Eisler und Bertold Brecht konzipiert worden war.[1] Rzewski zitiert denn auch das Solidaritätslied – „Vorwärts und nie vergessen …“ - von Eisler und Brecht in seinen Variationen. Doch die Variationen verarbeiten 1975 ebenfalls in ihrer Abfolge die Kompositionsverfahren und -geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Musikgeschichte wird auf diese Weise quasi vom Komponisten ebenso als politische erzählt und verarbeitet. Dies gilt so weit, als sie mit Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen verglichen werden.


© Camille Blake 

Fulminant und durchaus überraschend eröffnete auf diese Weise das Festival mit einer fast klassischen Geschichtspraxis. Wie Geschichte gemacht wird und funktionieren kann, wird nicht in einer Chronologie, sondern in der seriellen kaum Originalität beanspruchenden Kompositionsweise der Variationen vorgeführt. Letztlich ließen sich die Prinzipien der Variationen als Künstliche Intelligenz programmieren, denn auch die Goldberg-Variationen aus dem Barock sind einem gewissen mathematischen Kompositionsschema verschrieben. Zugleich wird mit der Erinnerung an El pubelo unido, jamais será vencido an die Notwendigkeit von politisch-einheitliche Aktion und Geschichtsfortschritt erinnert. Auf diese Weise wird Rzewskis relativ häufig gespielte Variationskomposition selbst zum Zeugnis eines wenigstens vermeintlichen Fortschritts in der Musik.


© Camille Blake 

Es ist nicht nur der technische Schwierigkeitsgrad als Mythos des Virtuosen, der das Stück für Pianist*innen interessant macht. Die Anforderungen des Spielens an die Pianist*innen - Rzewski komponierte das Stück für Ursula Coppens, die viele Stücke der zeitgenössischen Musik in den 70er Jahren spielte -, sind es nicht allein. Vielmehr noch ist es die Überschneidung von melodischer Folklore und modernen Kompositionsverfahren, die Geschichte für die Zeit der Performanz hervorbringen. Rzewski verwandelt die Popularität des Nueva Canción in ein Feuerwerk der Virtuosität, womit diese zugleich popularisiert wird. Es gibt in der Komposition insofern zwei Bewegungen, die für ein sozialistisches Konzept der Musik fast programmatisch zu nennen sind. Die Popularität generiert einerseits ein Wissen von der Musik, das man vielleicht eine Gehörbildung nennen könnte, für das Volk. Anderseits entspricht die Virtuosität einem modernen Leistungsprinzip, für das nicht zuletzt die Schnelligkeit entscheidend wird.


© Camille Blake

Frederic Rzewski macht kein Aufheben von seiner Virtuosität. Als Virtuose ist Rzewski weniger, denn als politischer, linker Aktivist entschiedener aufgetreten. Der 1938 in Westfield, Massachusetts, geborene Komponist und Aktivist mit jüdisch-polnischen Vorfahren versteht seinen Vortrag offenbar mehr als Aktion denn als Vorführung der technischen Beherrschung des Klavierspiels.[2] Es wurde nicht ganz deutlich, wie die zum Beispiel von Yuji Takahashi eingespielten 58:05 Minuten auf fast 100 anwuchsen. Virtuosität erzeugt wie 2017 bei dem jungen Pianisten Igor Lewitt im Konzertsaal Begeisterungsstürme. Die an vorletzter Stelle gesetzte Cadenza vor dem Thema als Reprise fiel keinesfalls so ausladend aus, dass sie 40 oder mehr Minuten ausgemacht hätte. Anders gesagt: woher die annähende Verdopplung der Aufführungszeit kam, bleibt ein gewisses Geheimnis. Vielleicht kam es dem Komponisten nie auf den Aspekt der Virtuosität wirklich an. Oder im Konzertbetrieb führte das Wissen um den Mythos des Virtuosen zur Beschleunigung?

Natürlich spielt die Zeit als Tempi in der Musik eine wesentliche Rolle. Doch bekanntlich hat sich die Messung eben dieser Zeit erst mit dem Metronom im 19. Jahrhundert etabliert. Die Tempi und Stimmungen wurden vermessen. Gefühlund Forschung in der neuen Musik, wie bei ultraschall 2019, werden einem Regime der Zeitmessung unterworfen, das zugleich verständliche und seit dem 19. Jahrhundert vor allem berechenbare Gefühle erzeugen soll.[3] Diese Metronomkultur als Zeitmessungsregime lässt sich durchaus mit Frederic Rzewskis Aufführung von The People United Will Never Be Defeated bedenken. Zeit – das sollte auch in weiteren Aufführungen von MaerzMusik 2019 berührt werden – lässt sich eben nicht nur mit Praktiken des Messens und Bestimmens erfahrbar machen.        

Horaţiu Rădulescus Clepsydra spielt bereits vom Titel her auf die Zeitmessung an, um nun eine durchaus andere Erfahrung von Zeit als bei Rzewski hervorzubringen. Das von Ernst Surberg als „Gekritzel“ bezeichnete Kompositions- wie Aufschreibeverfahren der Partitur stellt eine besondere Herausforderung an die Musiker*innen dar. Denn Klepsydra bezeichnet im antiken Griechenland ein besonderes, mehr oder weniger variables Zeitmessverfahren mit einer Art Wasseruhr. Eigentlich heißt Klepsydra Wasserdieb von κλέπτειν kléptein ‚stehlen‘. Daher ließe sich mit Klepsydra zugleich an einen Zeitdieb denken. Bei einer Klepsydra fließt Wasser von einem Behälter in einen anderen. Wasser fließt eigentlich recht schnell. Doch es fließt je nach Vorrichtung immer gleichmäßig schnell. Vermutlich war es diese Beobachtung, die im antiken Griechenland eine relativ kurze Zeit zum Beispiel in der Gerichtspraxis zur Einteilung und Bestimmung vorsah. Doch Rădulescus eigensinnige Partitur unterläuft auch moderne Zeitmessverfahren.  

Die kryptische Notationspraxis oder das „Gekritzel“ des selten aufgeführten und 2008 in Paris verstorbenen Komponisten Rădulescu, produzierte ein Werk, das dennoch von Surberg u.a. transkribiert und in gewisser Weise wohl auch transformiert werden musste. Es musste insofern in eine Zeitstruktur transformiert werden. Auf jeden Fall wurden die 8 Klaviere speziell gestimmt und präpariert, um quasi in Streichinstrumente umgewandelt zu werden. Das stellte die Produzenten wiederum vor eine besondere Herausforderung, weil Leihgeber von Klavieren und Flügeln keinesfalls wollen, dass ihre Instrumente verstimmt oder einfach anders gestimmt werden. Rădulescu sprengte damit die musikalischen Genres, um eine eigenwillige Geschichte zu modellieren. Wenn man an Giorgio Agambens Zeitkritik mit Zeit und Geschichte anknüpft, dann hat „selbst der historische Materialismus … es bisher versäumt, einen Zeitbegriff zu entwickeln, der mit dem Begriff der Geschichte vergleichbar wäre“.[4] Zeit bleibt rätselhaft.

Stattdessen wird in der Geschichte ein Zeitkontinuum hergestellt, das einen Begriff von Zeit verfehlen muss. Auf diese umfangreichen Verfahren hat Giorgio Agamben in seinem Homo sacer-Projekt aufmerksam gemacht. Deshalb lädt Berno Odo Polzer mit seiner fünften Ausgabe von MaerzMusik zur Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Geschichte ein, um sie mit Clepsydra zum Forschungs- wie Aufführungsprojekt zu machen. Die „Sound Icons“, wie Rădulescu offenbar die präparierten Klaviere bzw. Flügel nannte, bilden eine Art Klangskulptur. Aus Kapazitätsgründen spielen jeweils zwei Musiker an einer Sound Icon. Man darf den Neologismus vermutlich genau in der Überschneidung von Musikinstrument und Bildender Kunst verstehen. Diese Überschneidung zweier Kunstbereiche zielt auf eine Sinnlichkeit, die durch das Verfahren der Montage angelegt wird. Samuel Dunscombe und Ernst Surberg verdichten diese Montagekunst zu einem einzigartigen Klangerlebnis.

Was sich mit Clepsydra als Spektralmusik hören lässt, ließe sich als Übersinnliche Spektren formulieren, wie sie vom Ensemble PIANOPERCUSSION von Ya-Ou Xie verfolgt wird. Sie sind sowohl sinnlich als auch übersinnlich. So geht es Râdulescu auch um „l’émanation de l’émanation“, die Emanation der Emanation. Sie spielt sowohl auf ein Hervorgehen auf dem Klangkörper wie auf eines aus dem göttlichen Einen an. Gleichzeitig wird diese Emanation durch eine Praxis erzeugt, die klassische Instrumente wie das Piano auf eine einzigartige Weise transformiert. Das Verfahren wird ebenso spielerisch wie vieldeutig. Formal handelt es sich um eine 16-stimmig-Partitur, die nun in der Weltpremiere nach einer digitalen Stoppuhr von den Performern abgespielt wird. In der Eröffnungssequenz kann eine Art Urwald mit Vogelstimmen hörbar werden, was allerdings wohl schon zu konkret verstanden wäre.

© Camille Blake 

 

 

Torsten Flüh

 

MaerzMusik

bis 31. März 2019

 

TheLong Now

30. und 31. März 2019  

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[1] Vgl. zu Hanns Eisler und seinem Komponieren auch: Torsten Flüh: Displaced People. Zu part file score von Susan Philipsz im Hamburger Bahnhof. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. Februar 2014 20:58.

[2] Vgl. zum Mythos des Virtuosen auch: Torsten Flüh: Neuer Rock und Klangzauber. ultraschall 2018: Ensemble Nikel rockt und das Rundfunk Sinfonieorchester Berlin dreht an der Klangspirale. In: NIGHT OUT @ BERLIN  6. Februar 2018 22:04.

[3] Siehe Torsten Flüh: Gefühl und Forschung in der neuen Musik. Zu den Konzerten des Notos Quartetts und des ensemble recherche sowie Chaya Czernowin bei ultraschall 2019. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Februar 2019 16:56.

[4] Giorgio Agamben: Time and History. In: ders.: Infancy and History. The Destruction of Experience. London/New York: Verso, 1993, S. 91. (Eigene Übersetzung) (monoskop.org)


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