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Die Träne der Empathie - Mikko Franck dirigiert Robert Schumanns Das Paradies und die Peri mit den Berliner Philharmonikern

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Arbeit – Industrialisierung – Empathie 

 

Die Träne der Empathie 

Mikko Franck dirigiert Robert Schumanns Das Paradies und die Peri mit den Berliner Philharmonikern 

 

Die Konzertserie der Berliner Philharmoniker mit Robert Schumanns WerkDas Paradies und die Peri stand unter keinem guten Stern. Erst sagte Sir Simon Rattle aus „familiären Gründen“ ab. Dann erwischte eine Krankheitswelle das Orchester, so dass mehrere Musikerinnen und Musiker aus anderen Orchestern ersetzt werden mussten. Der finnische Dirigent Mikko Franck sprang ein und brillierte mit Detailreichtum wie exzellenten Gesangssolisten. Vor einem orientalistischen Horizont zwischen „Indien“ und „Libanon“, „Syriens Rosenland“ und „duftenden Lauben von Amberabad“, „Kaschemirs See“ und „Jordan“ entfaltete sich eine vielstimmige Komposition zwischen Walzertakt und Hymnus auf das „Werk“ der Peri hin.

 

Die Träne rinnt mehrfach dramaturgisch, lexikalisch und musikalisch, weshalb das schwer einzuordnende, farbige, kontrastreiche Werk als hoch romantisch und emotional gilt. Gelegentlich taucht gar das Urteil Kitsch in der Musikkritik auf. Für die Propaganda des Ersten und des Zweiten Weltkriegs ließ sich „das Blut,/Für die Freiheit verspritzt von Heldenmut“, ein wenig ummontiert in der Handlung, nachhaltig missbrauchen. Wie man es dreht und wendet, Schumanns Werk ist eine grandiose Montage von Genres für den Konzertsaal, das womöglich vor den aktuellen Katastrophen nicht nur des Orients, vielmehr des Kapitalismus und Nationalismus heute eine ganz andere Lesart ermöglicht. Denn die Träne wird final aus „Reue“ vergossen, was eine deutliche Verschiebung zur christlichen Barmherzigkeit anzeigt und heute besser lesbar wird als Empathie.

 

Man könnte Das Paradies und die Peri ein säkulares Oratorium nennen, was meistens getan wird. Doch Robert Schumann selbst wollte ein „neues Genre für den Konzertsaal“, „nicht für den Betsaal – sondern für heitre Menschen“[1] komponieren, das er selbst nicht genauer benannt hat. Eine Oper mit der Herausarbeitung eines Subjekts oder eines subjektiven Schicksals ist es zwischen 1841 und 1844 inklusive Korrekturen nach der Uraufführung am 4. Dezember 1843 im Leipziger Gewandhaus jedenfalls nicht geworden. Das Paradies und die Peri wurde nicht für die Opernbühne, sondern für den Konzertsaal konzipiert und komponiert. Zwischen 1781 und 1842 waren zahlreiche Bau- und Umbaumaßnahmen am Gewandhaus als bürgerlichem Konzertsaal und Versammlungsort vorgenommen worden. 1842 erreichte das Gewandhaus eine Größe, mit der der Saal eine gewiss auch magische Zahl von 1.000 Personen aufnehmen konnte. Mit dem „Thron des Lichts“ könnte es um mehr und anderes als eine Religion gehen. 

Viel heil’ger muss die Gabe sein, 

Die dich zum Thron des Lichts lässt ein.

 

Kulturhistorisch werden die industriellen und gesellschaftlichen Umbrüche zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland, das noch in viele Einzel- und Kleinstaaten zerstückelt war, unterschätzt. Sie spielen indessen gerade für Das Paradies und Peri hinsichtlich des Kompositions- und Aufführungsortes Leipzig eine wichtige Rolle. Das „neue Genre“ war von Schumann, der seit 1830 wieder in der bürgerlich durch Handel und Frühindustrie geprägten Stadt lebte und arbeitete, auch zu einem guten Teil auf das Gewandhaus als Konzertsaal von beachtlicher Größe konzipiert. 1825 war der Börsenverein der Deutschen Buchhändler in Leipzig eröffnet worden. Und 1839 war die erste deutsche Fernbahnstrecke noch mit englischen Lokomotiven zwischen Leipzig und Dresden in Betrieb genommen worden. Sie verband das wirtschaftliche Zentrum Sachsens, Leipzig, mit dem Sitz des Königs von Sachsen in Dresden. Die Leipzig-Dresdner Eisenbahn-Compagnie war nicht durch den König, sondern 1835 beispielgebend von zwölf Leipziger Bürgern initiiert und finanziert worden.

 

Die Leipzig-Dresdner Eisenbahn-Compagnie war eine der ersten deutschen Aktiengesellschaften zur Finanzierung des Eisenbahnstreckenbaus.  Schon drei Jahre nach Gründung der Eisenbahn-Compagnie, 1838 veröffentlichte Gustav Bernhard das Lustspiel Die Eisenbahn-Actien-Speculanten in Grimma nahe Leipzig. In dem spaßigen Lustspiel werden Liebesleben und Kapitalismus als Aktienhandel derart mit einander vermengt, dass am Schluss ein durch Aktien zu Vermögen gekommener armer Philosoph zu seiner Verlobten sagt: „Komm an meine Brust. Du Aktie meines Lebens.“[2] Im Umkreis der Messe-, Bücher- und Eisenbahn- ebenso wie Musikstadt Leipzig wird somit in der Frühzeit der Industrialisierung die Liebe mit dem Kapitalismus in Form einer Aktie lustig und seriös zugleich vermengt. In diesem kulturellen Umfeld komponiert Robert Schumann Das Paradies und die Peri für den Konzertsaal und trifft einen Nerv der Zeit. „Mehr als 50 Aufführungen kamen innerhalb eines Jahrzehnts zusammen.“[3] 

 

In eine Stimmung von Emanzipation durch Arbeit und bürgerlichen Aufbruch hinein arbeitet Robert Schumann ein „neues Genre“ aus, das musikalisch wie textlich unterschiedliche Bereiche kombiniert und montiert. „Wirklich »neu« an Das Paradies und die Peri ist die Entscheidung, die Stimmen nur teilweise rollengebunden einzusetzen, sie ansonsten aber sowohl in kommentierender als auch handlungstragender Funktion zu verwenden.“[4] Was heißt das? Wenn die Stimmen und die Texte, die sie singen, nur „teilweise rollengebunden“ eingesetzt werden, verändert sich die Dramaturgie des Subjekts. So ist die Peri nicht zuletzt ein höchst unsicheres, schwankendes, „ganz ätherisch(es)“ Subjekt.[5] Gleichwohl verkörpert die literarische Figur der Peri und ihres gleichnamigen Geschlechts einen ebenso paradoxen wie bürgerlichen Ethos der Arbeit. Am Schluss wird nämlich ein Werk bejubelt, zu dem allein ihre hartnäckige Suche beigetragen hat. 

Freud‘, ew’ge Freude, mein Werk ist getan, 

Die Pforte zum Himmel hinan, 

Wie selig, o Wonne, wie selig bin ich![6] 

 

Das Werk wird dadurch zum heilbringenden, dass es von einem gänzlich überkonfessionellen Himmel als „liebste Gabe“ unkalkulierbar akzeptiert wird. Der Himmel entscheidet anscheinend willkürlich über den Wert einer „Gabe“ und macht sie dadurch zum „Werk“. Jenseits des ambivalenten Orientalismus von „Allahs Thron“ und „Syriens tausend Minaretten“ geht es auf der Suche nach der „liebste(n) Gabe“ in dem von Robert Schumann selbst be- und umgearbeiteten Libretto um eine Krise der Moderne und der Suche nach einem Wert des Lebens. Einerseits hatte Schumann wohl früh eine Übersetzung von Thomas Moores Orient-Epos Lalla Rookh (1817) gelesen, das er „schon um 1822, also im frühen Teenageralter kennengelernt hatte, als eine deutsche Ausgabe bei den Gebrüdern Schumann angeboten wurde“.[7] Andererseits greift er selbst in die Textgestalt des Librettos und seine Poesie ein. Das Werk wird ein ebenso ästhetisch-künstlerisches wie eines der Unternehmer-Erfinder der frühen Industrialisierung, die mit der heuristischen Methode von trial and errow/Versuch und Irrtum (Dampf-)Maschinen etc. konstruieren, ausprobieren und oft genug auch erfolglos bleiben.

 

Die Peri versucht es mit zwei Gaben, bevor die dritte als Werk akzeptiert wird. Wohl mögen die poetischen Umschreibungen der Gaben kitschig klingen, doch geben sie einen Wink auf, sagen wir, Grundkoordinaten der Moderne. Die erste Gabe ist das Blut eines Freiheitskämpfers, der sich geopfert hat. Damit klingt das ganze Feld der Freiheit als Versprechen der Moderne an, das sich nicht zuletzt im Motto der Französischen Revolution mit Liberté, Égalité, Fraternité verwirklicht. Doch die Liberté und der Liberalismus werden vom Himmel nicht als „liebste Gabe“ angenommen. Ebenso verhält es sich mit der wollüstigen wie verbrüdernden Liebe als „reinste(r) Liebe Seufzer“. Die individualistische Liebe, wie sie nicht allein als Liebestod, sondern durch die Übertragung des Pest-Bakteriums unter Liebenden formuliert wird, kann ebenfalls als moderne Gabe nicht akzeptiert werden. Erst die „Träne der Reue“ wird vom Himmel angenommen, um das Werk zu vollenden.

 

Worum geht es mit der „Träne der Reue“? Bevor man auf den Orientalismus von Thomas Moore und insbesondere Robert Schumann anspringt, sollte man sich die vermeintlich kitschigen Gaben im Kontext von Moderne, Industrialisierung und Kapitalismus genauer anschauen. Denn was passiert, als die „Träne der Reue“ fließt? Ist es nur eine Frage der Schuld und der Reue, schuldig geworden zu sein, als der „wilde“ Mann das „selig Kind“ erblickt? „Da jung und rein, wie du mein Tun und Beten war – doch nun!“ Robert Schumann fehlen in gewisser Weise die Worte, um den Vorgang des Fühlens genauer zu formulieren. Doch die „Laster“ wurden eben auch ohne Gefühl, ohne Mitgefühl, ja, Empathie begangen. 

Dann kehrt er schnell sein wildes Gesicht 

Auf’s schöne Kind, das furchtlos saß, 

Obgleich noch nie das Tageslicht 

Ein wild’res Antlitz sah als das, 

Entsetzlich wild, ein grausen Bund, 

Wie Wetterwolk‘ aus Nacht und Glut 

Dort stehn die Laster all‘, es tut 

Dort jedes Bubenstück sich kund – 

Meineid, erschlag’ner Gast 

Betrog’ne Braut, mit blut’ger Schrift 

Auf jenem Antlitz stand’s geschrieben.

 

Die moderne Freiheit zu all den Lastern wird vor allem als eine formuliert, die nicht mit dem andern mitfühlt. Liberalismus und Kapitalismus mangelt es an Empathie. Der frühindustrielle Kapitalismus um 1840 war keinesfalls empathischer gegen seine ersten Modernisierungsopfer. Auf diese Weise wird Robert Schumanns rätselhaftes Genre mehr als eine orientalische Erzählung von seltsamen Zauberwesen. Die Empathie materialisiert sich nicht in der Peri, sie erarbeitet sie kaum. Aber sie erkennt den, sagen wir, sozialen Wert der Träne, während das Gewandhaus in Leipzig gerade in jener Zeit mehrfach umgebaut, erweitert und ausgemalt wird, weil das Leipziger Bürgertum das Geld dafür hat. 

Ein sterblich Auge nähm‘ ihn zwar 

Als Meteor, als Nordlicht wahr, 

Doch weiß die Peri wohl, der Schein, 

Es muss des Engels Lächeln sein, 

Womit er mild die Träne grüßt 

Die bald dem Himmel ihr erschließt.

 

Die Poesie versetzt bei Robert Schumann die Sprache auch in eine Schwebe, die jenseits des Sagbaren ein Mehr aufscheinen lässt, das nicht nur für den Himmel von Relevanz ist. Das Sehen, Lesen und ein geheimnisvolles Wissen der Peri spielen hier wie an anderen Stellen eine wichtige Rolle für den Leser, Dichter und Komponisten Schumann. Das „ganz ätherische“ Wesen der Peri und ihrer Gattung rückt sie auch in die Nähe der Geister und Seelen, die dennoch keine Engel sind. Die Peri als Gattung und Individuum geht nicht in einem religiösen Wissen oder der Religion auf, vielmehr sind sie ganz poetische Mehrdeutigkeit, die leicht als Kitsch missverstanden werden kann. 

TENOR-SOLO 

Die Peri weint, von ihrer Träne scheint 

Rings klar die Luft, der Himmel lacht. 

QUARTETT 

Denn in der Trän‘ ist Zaubermacht, 

Die solch ein Geist für Menschen weint.

 

Der Geist weint empathisch „für Menschen“. Insofern als das Weinen der Peri im zweiten Teil selbst schon die Empathie einführt oder vorbereitet, bekommt auch die Träne der Reue aus Erinnerung an die Kindheit eine andere Relevanz in der Romantik. Bereits 1783 bis 1793 war in zehn Bänden Karl Philipp Moritz‘ ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin der Erfahrungsseelenkunde erschienen. „Ein anhaltendes, fast schon systematisches Interesse richtete sich auf die Form und den Inhalt frühester Kindheitserinnerungen, und die Vielzahl eingesandter Traumerfahrungen forderte Moritz und seine beiden ihn zeitweise vertretenden Mitherausgeber Carl Friedrich Pockels (1757-1814) und Salomon Maimon (1753-1800) zu ersten Ansätzen einer »Theorie der Träume« heraus.“[8] Der vermeintliche Orientalismus gerade auch Robert Schumanns wird auf diese Weise zur Aufklärungskritik und „Erfahrungsseelenkunde“ zum ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ (Gnothi sauton) bzw. zum Erkenne Dich selbst. Welches Medium könnte dies besser befördern als eine elastisch mehrdeutige Poesie im Verein mit der Musik?!

 

In Das Paradies und die Peri, jenem neuen, namenlosen Genre, kommen die Religionen – Islam mit „Allah“ und „Minaretten“, Buddhismus mit „Lotos“ und „Pagode“, Judaismus und Christentum mit „Salomon“ – nur noch als Chiffren für das ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ vor. Statt einen Orientalismus komponiert Robert Schumann einen Selbsterkennungsprozess nicht nur der Peri oder des reuigen Sünders, der sich an seine Kindheit erinnert, auch nicht nur des Leipziger Konzertpublikums, vielmehr der Moderne. Wenn man Das Paradies und die Peri 2018 hört, dann klingt es anders als im Februar 2009. Damals führten die Berliner Philharmoniker das Konzert zuletzt mit dem Stern’schen Gesangverein unter der Leitung von Sir Simon Rattle auf. Heute lassen „Kaschemirs See“, „Tschelminars Säulen“, „Allahs Wunderthrone“, „Indiens Blumenhügel“, „Afrikas Gebirge“, „Quell des Nils“, „Syriens Rosenland“ ganz anders aufhören. Doch es geht um Poesie, Musik und Empathie. Es geht weniger um den Islam.

 

Vielleicht ließe sich aus dieser Perspektive noch der eine oder andere musikalische Akzent in einer Aufführung setzen. Doch Mikko Franck, die Berliner Philharmoniker, Sally Matthews, Anna Prohaska, Gerhild Romberger, Mark Padmore, Andrew Staples und Christian Gerhaher sowie der Rundfunkchor Berlin in der Einstudierung von Gijs Leenaars brachten das rätselhafte Werk mit so viel Sorgfalt und Intensität auf die Bühne, dass sie zum genaueren Nachhören anregten. Was hatte man da gerade gehört? Das war kein läppischer Kitsch. Mehrfach und deutlich erinnerte insbesondere Christan Gerhaher an die Kunstform des Liedes, das erzählt und gleichzeitig die Handlung verrätselt. Obwohl auch mit den Arien die Möglichkeit der Oper aufscheint, geht es Robert Schumann hier doch um eine Art Erfahrungsseelenkunde zur Empathie, die nichts an Aktualität eingebüßt hat. 

 

Torsten Flüh 

 

Demnächst in der Digital Concert Hall

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[1] Robert Schumann zitiert nach Anselm Cybinski: Zur Zeit wird hier der Raum. In: Berliner Philharmonie (Hg.): Programmheft 74 Spielzeit 2017/2018. Berlin, 2018, S. 19.

[2] Gustav Bernhard: Die Eisenbahn-Actien-Speculanten. Lustspiel in einem Akt. In: Clauren, H.: Familientheater für deutsche Privatbühnen und Dilettanten-Vereine. Grimma, Verlags-Comptoir 1838.

Siehe auch: Torsten Flüh: Georg Büchner ganz in weißen Plastiktüten. Bridge Markland recycelt Leonce und Lena in the Box. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2014 18:58.

[3] Anselm Cybinski: Zur … [wie Anm. 1] S. 16.

[4] Ebenda S. 19.

[5] Ebenda S. 17.

[6] Robert Schumann: Das Paradies und die Perie. (Libretto) In: Berliner Philharmonie (Hg.): Programmheft … [wie Anm. 1] S. 45.

[7] Anselm Cybinski: Zur … [wie Anm. 1] S. 10.

[8] Sheila Dickson, Christof Wingertszahn: Einführung: Das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (Digitalisat telota Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften)


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