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Raum und Zeit der Flucht - Das Konzert Zeitgeist und der Film Chauka, Please Tell Us the Time auf dem Festival MaerzMusik 2018

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Zeit – Konzert – Flucht 

 

Raum und Zeit der Flucht 

Das Konzert Zeitgeist und der Film Chauka, Please Tell Us the Time auf dem Festival MaerzMusik 2018  

 

Das KonzertZeitgeist bei MaerzMusik, Festival für Zeitfragen, wurde von Timo Kreuser und Sonia Lescène für den Samstagabend produziert. Mit Stücken von Brian Ferneyhough, Iannis Xenakis und Ashley Fure schlägt der Konzerttitel auch einen breiteren Begriff von Zeitgeist vor. Denn die Stücke sind in einem Zeitraum von 1957 mit Iannis Xenakis‘ Diamorphes für Tonband bis zur Deutschen Erstaufführung von Shiver Lung 1 und 2 für Perkussion und Live-Elektronik (2017) von Ashley Fure komponiert. Während sich die Rede vom Zeitgeist auf eine aktuelle Stimmungslage bezieht, kommen im Konzert eher weit auseinanderliegende Denkweisen und Gefühlslagen zusammen und werden neu kombiniert.

 

Bereits mit dem Video von Guillaume Cailleau und Maria Kourkouta in Kombination mit Pour la Paix LIVE-Version für gemischten Chor, Sprecher und Tonband von Iannis Xenakis wurde das Thema Flucht und Flüchtende angeschnitten. Der Film Chauka, Please Tell Us the Time von Arash Kamali Sarvestani und Behrouz Boochani spitzt dieses noch einmal zu. Die griechische Filmemacherin Kourkouta hatte für ihren 2016 preisgekrönten Film Spectres Are Haunting Europe Flüchtende in anderen als den Fernsehnachrichten-Perspektiven gefilmt. Behrouz Boochani seinerseits hat mit einem Smartphone im australischen Flüchtlingslager Manus Regional Processing Centre als Internierter heimlich gefilmt, die Erosion des Zeitgefühls dokumentiert und über soziale Medien Arash Kamali Sarvestani in Eindhoven zur Kooperation zugänglich gemacht. 

 
© Kai Bienert

Sechzig Jahre Musik mit und ohne Elektronik bzw. Tonband werden im Live-Konzert Zeitgeist neu kombiniert und im Großen Saal des Hauses der Berliner Festspiele anders inszeniert. Das Konzert findet u. a. mitten in den Zuschauerreihen wie mit Miguel Pérez Iñestas Aufführung von Brian Ferneyhoughs Time and Motion Study I für Bassklarinette (1971-1977) statt. Die Bewegung wird nicht zuletzt witzig visualisiert, indem sich der Musiker auf dem Hocker dreht, um von acht Notenblättern auf ebenso vielen Ständern die technisch äußerst anspruchsvolle Komposition zu lesen und auf der Bassklarinette zu spielen. Der Time and Motion Study-Zyklus kann als eine Versuchsanordnung wie als virtuos-improvisierender Vortrag wahrgenommen werden.

 

Das Stück von nur 9 Minuten ist von Ferneyhough als Studie konzeptuell genau durchgearbeitet worden. Wie wird Zeit wahrgenommen? Die Wahrnehmung der Zeit als eine lineare wurde insbesondere in den siebziger und achtziger Jahren nicht nur philosophisch, vielmehr auch musiktheoretisch beispielsweise von Pierre Boulez diskutiert. Die drei Stücke unter dem Titel Time and Motion Study reagieren auf diese Diskussion und knüpfen an sie an. Die Zeitwahrnehmung war nicht zuletzt durch die neuen Techniken der Aufzeichnung des 19. Jahrhunderts wie allererst mit der Photographie seit 1840 und später auch mit dem Grammophon zu einem neuartigen Problem geworden. So lässt sich durchaus die Psychoanalyse Freuds als eine Reaktion auf die Photographie bedenken. Ferneyhough schlägt 1977 eine vertikale Zeitwahrnehmung mit Time and Motion Study I vor: 

… The title is intended to suggest both a desire to integrate the concept of efficiency as applied to the relationship between the performer, notation and realisation more explicitly into the fabric of the material and its organisation than is perhaps customary, and the conviction that time is most usefully conceived of, not merely in a linear but also in a vertical fashion (i.e. as a function of the mutual interaction of several distinct and layered process-types).[1]


© Kai Bienert 

Die genaue Konzeptualisierung von Time and Motion Study I stellte für zumindest einige Musikkritiker eine Herausforderung dar. Wie Zeit und Bewegung sich aufeinander in der Musik beziehen sollten, war für sie keine Frage. Sie hatten wie später Eddie Prévost für Time and Motion Study II ein genaues Wissen von den Regeln für ein „Kunstwerk“.[2] Insofern werden die drei Stücke von Brian Ferneyhough zu Zeit und Bewegung zur nach wie vor gültigen Befragung der Musik durch sich selbst und die Aufführungspraxis, die zwischen Notation und Improvisation angesiedelt und von Miguel Pérez Iñesta höchst engagiert und inspiriert aufgeführt wurde. 

… The performance, the work object, are both intended to be stages in a continuum, not an end in themselves. In a complicated (and complex) situation, only complex (if not necessarily complicated) reaction seem to me appropriate. Music needs to be both self-reflexive and self-critical: Time and Motion Study I seeks to reconcile these conflicting demands through its insistence upon a closed, cogent form which, in all respects, is open.[3]

 

Es ist möglicherweise der Zeitgeist, der im Konzert mit starkem Applaus und ohne Protest nicht nur Time and Motion Study I mehr als Respekt zuteilwerden ließ. Weder gegen den Interpreten Miguel Pérez Iñesta noch gegen die Studie regte sich auch nur eine Spur der Ablehnung aus dem Festivalpublikum. In Time and Motion Study II für singende Cellistin und Live-Elektronik, aufgeführt von Séverine Ballon, hat Brian Ferneyhough eine komplexe Verschaltung des Live-Spiels mit Elektronik durch zwei Fußpedale vorgesehen. Der Komponist hat für das Stück einen regelrechten Schaltplan gezeichnet. Das „Throat-mic.“ für die Cellistin und die Kontaktmikrophone für das Cello am Steg und auf dem Instrumentenkörper werden in einen 1976 noch analogen Schaltkreis eingespeist. Die Klangregie (Michael Havenstein und Simon Spillner) sorgt heute im Haus der Berliner Festspiele für einen perfekt ausgesteuerten Sound, was vor vierzig Jahren gewiss noch weniger verführerisch klang.

 

Auch für Time and Motion Study III für 16 Solostimmen mit Perkussion und Elektronik (1974) stellte Brian Ferneyhough höchste Ansprüche an die vortragenden Künstler*innen, die vom Ensemble PHØNIX 16 furios erfüllt wurden. Der Komponist hatte das Stück im Auftrag der Donaueschinger Musiktage des SWR für die Schola Cantorum Stuttgart komponiert. Das Stück mit einer Länge von 24 Minuten „with amplification and taped vocal materials sets out to map an unfamiliar terrain demarcated by extreme demands made on the performers, who are required to sing extensive passages with so-called extended techniques”.[4] Ferneyhough knüpft für dieses Stück an die vierstimmige Motette des englischen Komponisten Thomas Tallis Spem in alium (Hoffnung auf einen anderen) aus der Zeit um 1570 an, dessen Polyphonie nun auf eine andere Weise erweitert wird. Die Vokale und Konsonanten werden in Time and Motion III quasi aus dem Text der Renaissancemotette isoliert.


© Kai Bienert 

Am auffälligsten und stärksten war die Verschränkung der Zeiten im Konzert mit der Aufführung von Pour la Paix (1981) von Iannis Xenakis mit dem Video von Guillaume Cailleau und Maria Kourkouta. Pour la Paix ist stark an Texten von Françoise Xenakis aus ihren Büchern Écoute (1972) und Et alors les morts pleureront (1974) orientiert. Sie ist am 12. Februar 2018 mit 87 Jahren verstorben, was in Deutschland kaum wahrgenommen worden ist. In Frankreich gehörte sie in den 70er Jahren zu den preisgekrönten Schriftstellerinnen ihrer Generation. In der Kombination mit dem Video wird wechselseitig die Perspektive verrückt: Françoise Xenakis‘ Text wird bedrückend aktuell, die Flüchtlingsbewegungen von 2015 und 2016 werden nicht als die skandalisierte Ausnahme der Massen, sondern als Kriegsschicksal des Einzelnen wahrnehmbar: 

F1 Ein Krieg. In zerrissenen Sätzen, in Bildern, in Couplets. Das ist er in seinem Grauen, der Krieg. Grausamkeiten, Massaker, Folter, unendliches Leiden der Männer, der Frauen. Wir sind irgendwo. Da, wo man henkt, erschießt, massakriert. Jetzt ist Feuerpause offiziell. Es ist die zweite in 48 Stunden. Und sie wird genauso lange dauern wie die erste: einige Stunden. Die da oben verlangen, dass die Waffen um 18.45 schweigen sollen. Jetzt kämpfen sie stumm mit dem Messer, und der Sand deckt sie zu: Kleine Brüder – bedeckt von dem Betttuch, dem Sand.[5]   


Maria Kourkouta: Spectres Are Haunting Europe Trailer (Screenshot T.F.) 

Maria Kourkouta hat für ihr Video die Kamera mit einer Totalen nahe dem Boden an einem schmalen Trampelpfad der Flüchtenden, wahrscheinlich in Griechenland, positioniert. Sie ziehen mit ihrem Hab und Gut im Winter einzeln an dem Bildausschnitt vorbei. Einige reagieren auf die Kamera andere, die meisten in Gummistiefeln, nicht. Statt Massen und Gruppen wird die/der Einzelne auf der Flucht in ebenso wenig spektakulärer wie Empathie erregender Weise ins Bild gerückt. Pour la Paix lässt sich in der Aufteilung zwischen Männer- und Frauenstimmen auch als eine Art Requiem hören, das von der fast lakonischen Erzählung Françoise Xenakis‘ mit Perkussion strukturiert wird. 

F2 Die Granate explodierte über ihnen. Sie hatten Zeit nachzudenken. Der eine: so war es gut. Der andere : NEIN[6]  


Maria Kourkouta: Spectres Are Haunting Europe Trailer (Screenshot T.F.)

Das Konzert nimmt hier eine Montage vor, bei der Text und Bild gerade nicht in einem Zeichen- oder Abbildverhältnis gesetzt werden. Weder beschreibt der Text das Bild noch illustriert das Bild den Text, vielmehr spricht Pour la Paix als Appell gegen Krieg, vor dem die Menschen flüchten. PHØNIX 16 interpretiert damit das Genre Konzert auf eine besondere Weise. Auch mit Orient-Occident für Tonband von 1960 wird als auf Pour la Paix folgendes Stück auf das Flüchtlingsthema angespielt. Das Konzert legt sich nicht fest. Doch mit Nuits Phonèmes sumériens, assyriens, achéens et autres für 12 Stimmen von Iannis Xenakis aus dem Jahr 1967 wird wenigstens phonetisch an den syrisch-irakischen Raum erinnert, als er noch eine breite Faszination, statt (Kriegs-)Ängste auslöste. Das Konzert montiert somit einen Klang, der nicht zuletzt durch die exquisiten Vokalisten von PHØNIX 16 zu faszinieren vermag.  


© Kai Bienert 

Nach der zweiten Pause wurden Shiver Lung 1 und 2 von Ashley Fure aufgeführt. Sie gehört zur jüngsten Generation der Komponistinnen und hat gerade ab Juli 2018 den Preis für das Berliner Künstlerprogramm des DAAD gewonnen. Sie interessiert sich besonders für den Posthumanismus und eine Musik wie Dramatik der Dinge. Weder die Komponistin noch der Interpret sollen in ihren Kompositionen durch Subjektivität zur Geltung kommen. Man könnte für ihre Komposition insbesondere von Shiver Lung 1 für Perkussion und Live-Elektronik (2017), von einer sensitiven Zufallsmusik sprechen. Auch in Shiver Lung 2 für 12 Stimmen mit Perkussion und Live-Elektronik geht es mehr um Atemgeräusche an der Grenze der Wahrnehmbarkeit. Gegenüber den Anforderungen, die Brian Ferneyhough an die Aufführenden gestellt hat, geht es bei Ashley Fure um einen entschiedenen Verzicht auf Beherrschung. 

Players in these pieces have to step down from an expectation of dominion. Their role ist not to control inanimate objects but to reckon with and harness the affective potential inside active, unstable fields of energy.[7]


© Kai Bienert 

Ashley Fure knüpft mit ihren aktuellen Kompositionen an den Diskurs des Posthumanismus von Stacy Alaimo in Exposed: Environmental Politics and Pleasures in Posthuman Times (2016) an. Diese artikuliert den Wunsch nach Umformung des Verlustes der Souveränität als eine Einladung an Posthumanisten „sense of the self as opening unto the larger material world and being penetrated by all sorts of substances and material agencies that may or may not be captured”.[8] So werden Perlenketten u.a. in die Subwoofer von Lautsprecherboxen gehalten, die wie Membranen funktionieren und durch Rückkopplung in Vibration versetzt werden. Die elektronische Verschaltung und Steuerung erzeugt atem- und schlagzeugähnliche Geräusche, die gerade keine Beherrschung durch den menschlichen Interpreten aufführen. Die Musik wird auf diese Weise auf durchaus ambivalente Weise enthumanisiert. Die Technologie soll die Musik aus einem Anthropozentrismus befreien. 

Technology is used not to point towards dystopic futures, nor to construct synthetic presents, but instead to productively dislodge humans from anthropocentric presumptions of sovereignty, presumptions that block them from kinship with nonhuman forces.[9]   

 

Chauka, Please Tell Us the Time von Arash Kamali Sarvestani und Behrouz Boochani wurde am 11. Juni 2017 auf dem Sidney Film Festival uraufgeführt. Der Film setzt die Erosion des Zeitgefühls sowohl filmisch und sprachlich wie musikalisch durch die unbefristete und willkürliche Internierung von Geflüchteten auf der Insel Manus, der Hauptinsel Papua-Neuguineas, als australische Flüchtlingspolitik in Szene. Der Film verschränkt neuartige Technologien wie die Smartphone-Kamera und die Film-Datei mit sozialen Medien und Cloud-Diensten sowie E-Mail, durch die dieser Film überhaupt entstehen konnte. Er ist eine Art ebenso poetischer wie politisch-dokumentarischer Filmessay des iranischen Journalisten Behrouz Boochani, der auf Manus mehr als drei Jahre ohne Verfahren inhaftiert wurde. Boochani musste 2013 als Journalist aus dem Iran fliehen und wurde von den australischen Behörden interniert und nach Manus verbracht. 

We are very lucky in the sense that technology and our mutual repect and admiration for the work of Abbas Kiarostami helped us a great deal and I believe that all the difficulties and weak points of the film making process actually helped the film in the end.[10]


Behrouz Boochani/Arash Kamali Sarvestani: Chauka, Please Tell Us the Time Trailer (Screenshot, T.F.) 

Behrouz Boochani gelangte an ein Smartphone mit einer leistungsstarken Kamera und einem ausreichenden Datenvolum. Er nahm Kontakt zum iranisch-niederländischen Filmemacher Arash Kamali Sarvestani über E-Mail auf, so dass ein ungenehmigt gedrehter Film aus einer größeren Anzahl von Dateien entstehen konnte. Mit Sarvestani vereinbarte er ein Drehbuch und ein Konzept für den Schnitt, während dieser die Musik zu den Bildern erarbeitete. Erstens sind die Videos von erstaunlicher Bildqualität, zweitens sind die Kameraeinstellungen von Boochani höchst durchdacht, so dass z.B.  durch ein Zoom sich die Lagerzäune vor ein Südseeidyll schieben. Wiederholt hat Boochani Krankenwageneinsätze im Lager mit Interviews und Telefonaten sowie Szenen einer Interviewerin außerhalb des Lagers mit zwei einheimischen Manusiern geschnitten und kombiniert.


Behrouz Boochani/Arash Kamali Sarvestani: Chauka, Please Tell Us the Time Trailer (Screenshot, T.F.)

Wie lässt sich die Erosion des Zeitgefühls im Asylantenlager filmisch umsetzen? Durch die im Prinzip häufigen Schnitte und Einstellungswechsel, wird eher eine keineswegs langweilige Progression der Zeit des Films hergestellt. Die Erosion des Zeitgefühls als „the worst form of torture“ (Saevestani)[11] wird nicht zuletzt durch Streichmusik, Wiederholungen und Erzählungen am Telefon vorgeführt. Eine besonders rätselhafte Funktion nimmt ein Mann in einem Schutzanzug mit Maske ein, der immer wieder auftaucht, wie er das Lager zur Desinfektion sozusagen ausräuchert. Ständig taucht diese Rauchwolke im Film auf, die offenbar nicht so giftig oder unangenehm ist, dass die Insassen vor ihr fliehen. Man könnte annehmen, dass sie nicht so giftig ist, wie sie aussieht. Warum wird das Gerät dann aber zur Desinfektion in Anwesenheit der Internierten eingesetzt? 

 

Torsten Flüh 

 

MaerzMusik 

Festival für Zeitfragen 

bis 25. März 2018   

___________________________ 



[1] Brian Ferneyhough: Time and Motion Study I (1971-7). In: Berliner Festspiele (Editor): MAERZMUSIK FESTIVAL FOR TIME ISSUES. Reader. Berlin: Berliner Festspiele, 2018, S. 88.

[2] Eddie Prévost in Contact. Nr. 24–29, 1982, S. 34.

[3] Brian Ferneyhough: Time … [wie Anm. 1]

[4] Ebenda S. 95.

[5] Iannis Xenakis: Pour la Paix (Text by Françoise Xenakis, German Translation by Rudolf Frisius) In: Berliner Festspiele (Editor): MAERMUSIK … [wie Anm. 1] S. 96.

[6] Ebends S. 99.

[7] Ashley Fure: Four Pieces. In: Ebenda S. 101.

[8] Stacy Alaimo zitiert nach ebenda.

[9] Ebenda S. 102.

[10] Arash Kamali Sarvestani in conversation with Christine Bardsley. In: Ebenda S. 161.

[11] Ebenda S. 161.


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