Gesang – Stimme – Mythos
An der Grenze des Verstehens
Grain de la Voix und Jennifer Walshe bei MaerzMusik 2017
Die evangelische Kirche am Hohenzollernplatz in Wilmersdorf erlebte mit der Aufführung der Cypriot Vespers von Jean Hanelle aus dem 15. Jahrhundert im Rahmen von MaerzMusik eine ebenso faszinierende wie experimentelle Überschneidung von alter, gregorianischer Kirchenmusik und zeitgenössischer Aufführungspraxis durch das Künstlerkollektiv Grain de la Voix aus Belgien. Björn Schmelzer als Gründer und Leiter des Kollektivs nutzte den Kirchenraum des leicht verspäteten expressionistischen Hauptwerks der Architekten Ossip Klarwein und Fritz Höger von 1930/1934 ohne Bänke als wandelbaren Aufführungsraum. Das Kollektiv wie die Zuhörer*innen sollten sich bewegen.
Mit den Cypriot Vespers und An Gléacht von Jennifer Walshe und Caoimhín Breathnach standen in zwei Spätaufführungen außergewöhnliche Gesangskompositionen im Programm von MaerzMusik 2017. Weder Gesänge aus der Handschrift von Jean Hanelle in ihrer alten Mehrsprachigkeit von Arabisch, Griechisch und Latein noch Jennifer Walshes und Caoihmhín Breathnachs An Gléacht in einem ebenso geheimnisvollen Ur-Gälisch wie irischer Kunstavantgarde lassen sich als Erzählung einfach verstehen. Jean Hanelle wie Jennifer Walshes Großonkel Caoihmhín Breathnacht entwickelten vielmehr ganz eigene Kombinationen von Mythen und lokaler Kultur. Hanelle schrieb als Kopist und Schreiber die Noten und Texte in Mailand und am zypriotischen Hof, während Breathnach in der ländlichen Gegend von Roscommon im Nordwesten Irlands eine ebenso altertümliche wie irische Avantgardekultur entwickelte.
„Das Konzert beginnt um 22:30 Uhr mit dem gemeinsamen Betreten der Kirchenräume“, kündigte das Programm geheimnisvoll an. Betreten wurde der Kirchenraum nicht durch das Hauptportal, sondern durch den Seiteneingang über das Untergeschoss mit Gemeinderäumen unter Kerzenbeleuchtung. Der Altarraum mit seinen dreizehn, hoch aufschießenden Spitzbögen aus Stahlbeton war spärlich beleuchtet. Die gotisch überspitzten Bögen des Raumes erinnern unvermittelt an das Domportal der Filmarchitektur in Fritz Langs Der müde Tod von 1921.[1] Historische Anspielung mit der Backsteinfassade und geradezu futuristische Überspitzung durch das Stahlbetonskelett treffen aufeinander. Vier Glühbirnen an Galgen mittig zum Altar, Maronitische und Byzantinische Gesänge und Motetten: Arsala ՚llah.
Bevor näher auf das Programm und den Gesang gerade mit dem arabischen Arsala ՚llah eingegangen werden soll, muss einen Moment auf die außergewöhnliche Architektur der Kirche am Hohenzollernplatz eingegangen werden. Sowohl Ossip Klarwein wie auch Fritz Höger als vor allem in Hamburg mit dem Chilehaus (1922-1924) oder dem Anzeiger-Hochhaus in Hannover (1927-1928) berühmt gewordener Architekt sind von einiger Prominenz. Ossip Klarwein baute 1966 in Jerusalem die Knesset für Israel. Bei der Kirche am Hohenzollernplatz kommt es zur Kombination einer gotischen Formsprache mit einer hochmodernen Stahlbetonarchitektur, die ihrerseits allererst die Form erlaubt. Der Altarraum ist mit türkisfarbenen, reflektierenden Fliesen geschmückt, die durchaus an das Ischtar-Tor im Pergamonmuseum erinnern können.
Das Arabische Arsala ´llah, das im Reader mit Gott übersetzt wird, bildet die Eröffnungsformulierung zu einem christlichen Lied in Arabisch, einem maronitischen Gesang. Die Maroniten, die heute insbesondere noch in Syrien bzw. als syrische Maroniten weltweit und auf der Flucht leben, gehören zur Katholischen Kirche mit einer eigenen Liturgie, waren vor allem im Mittelmeerraum wie auf Zypern verbreitet und berufen sich auf den heiligen Maroun von Aleppo. Jean Hanelles Handschrift gehört zum Turiner Codex und zeigt in ihrer Mehrsprachigkeit eine konzeptuelle Koexistenz unterschiedlicher, sprachlicher und musikalischer Traditionen, wie Björn Schmelzer mit Hinweis auf Karl Kügles 2012 im Journal of the American Musicological Society veröffentlichten Aufsatz Glorious Sounds for a Holy Warrior. New Light on Codex Turin J.II.9° ausgeführt hat. Die Handschrift sei ein „Fremdkörper“ in ihrer Zeit.[2]
Die Arbeitsweise und Aufführungspraxis von Grain de la Voix mit Björn Schmelzer zeichnet sich durch eine Kombination von künstlerischer Produktion und Forschung oder auch Aufführung als Experiment aus. Natürlich hatte bis zur Aufführung von Cypriot Vesper mit Maronitischen und Byzantinischen Gesängen und Motetten in der Neuzeit oder Moderne niemand die Gesänge gehört. Mehr noch: Karl Kügle geht in seinem Aufsatz nach Schmelzer im Interview mit Anne-Kathryn Olsen davon aus, dass die Handschrift selbst nie für eine Aufführung genutzt wurde, weil sie keine unvermeidlichen Gebrauchsspuren aufweist. Sie gelangte nicht in den Besitz des Adressaten und verschwand in Archiven.
Auf welche Weise das Manuskript genau entstanden ist, lässt sich kaum rekonstruieren, bis auf den Umstand, dass die hochmittelalterliche Kirchenmusik kaum eigenständige Komponisten kennt. Vielmehr wird man sich Jean Hanelle als einen kopierenden Mönch vorstellen müssen, der Arabisch, Altgriechisch und Latein schrieb und sprach. Unterschiedliche Liturgien und Sprachen werden in seiner Handschrift für Pedro Avogadro von Brescia kombiniert.
This nomadic manuscript shows no traces of use, stressing even more its anachronistic nature, and in this sense its exact relation with the “original” repertories used in Cyprus – or Hanelle’s personal manipulation or contextualisation of the pieces – is unknown. The manuscript is physically and in an imaginary sense a sort of Fremdkörper in its own time and today. In this way it opens up a music history in the making.[3]
Anne-Kathryn Olsen, Rozek-François Bitar, Albert Riera, Andrés Miravete, Marius Peterson, Adrian Sirbu, Jean-Christophe Brizard, Bart Meynckens, Tomàs Maxé, Björn Schmelzer wechseln von Gesang zu Gesang unter die Glühbirnen, als ginge es nicht nur um eine Musikaufführung, sondern eine Lese-Performance, um die rätselhafte Schrift zum Klingen zu bringen. Ebenso unterschiedlich wie faszinierend klingen die Stimmen, die sich nicht einfach verstehen lassen. Die Mitglieder von Grain de la Voix machen wandelnd eine Aufführung zusammen, von der sie noch nicht genau wissen, was sie als Sinn bei den Hörer*innen generieren wird. Einige aus dem Publikum bleiben auf den Bänken an den Seiten und auf den Stufen des Altarraums sitzen. Andere drängen sich möglichst nah an die Performer heran, als ginge es um eine Prozession. Der Klang der Stimmen erfüllt das Kirchenschiff.
John Thomson: Zypern, Herbst 1878 (Negativ)
In seiner Einzigartigkeit ist das Manuskript der Cypriot Vespers weniger Orientalismus des 19. Jahrhunderts mit seinen erotischen Ausformungen und Anspielungen wie bisweilen in den fotografischen Tableaus des Fotoreisenden John Thomson von Zypern 1878 als vielmehr ein Stimmexperiment, das sich schwer einordnen lässt, das fasziniert und bisher unbedachte Mythologien entfacht, wenn gerade die Handschrift mit Arsala ´llah eröffnet wird, um Englischen zu heißen:
God sent his only Son as a light for his people; he was made manifest through being concealed in the womb of the Virgin Mary. As Bethlehem had proclaimed, his star shone forth in Persia; through him lighting their way, the Magi have brought him their gifts.
Alleluia.
…[4]
Mit An Gléacht entwickelt Jennifer Walshe eine irische Avantgarde-Mythologie von Caoimhin Breathnach – wie Kevin Braenock – weiter. An Gléacht ist wie der Name irisch-schottisches Gälisch als eine moderne Ausformung des Keltischen. Bekanntlich gilt das Book of Kells mit seinen rätselhaften und farbigen Buchmalereien der Majuskeln spätestens seit seiner Übergabe an das Trinity College in Dublin als identitätsstiftendes Nationalheiligtum, das 2011 zum Weltdokumentenerbe erklärt wurde. Das Book of Kells ist allerdings in Lateinisch abgefasst. Rätselhaft bleibt es jedoch gerade durch seine ausschmückenden Malereien, in denen Tier- und Menschenkörper verwickelt aufscheinen, wie sich seit 2012 im Digitalisat des Trinity College Dublin beobachten lässt.
Die Orthographie des Gaeilge besteht auf eine gewisse Eigensinnigkeit, die die Aussprache gegen das Lateinische und Englische seit dem 19. Jahrhundert prononciert abgrenzt, was die Aussprache für einen Fremdsprachler, der sich in einem englischsprachigen Land wähnt, erheblich erschwert. Es sind einige phonetische Operationen notwendig, um das Caoimhín als Kevin oder Baile Átha Cliath [ˈbalʲɑːˈkʲlʲiə] oder [ˈbʲlʲɑːˈkʲlʲiə] für Dublin auszusprechen. Die deutsche Übersetzung lautet „Stadt an der Hürdenfurt“. Denn, um es einmal ein wenig scherzhaft zu formulieren, „der Ire“ will keinesfalls wie ein Engländer klingen oder angesprochen werden, obwohl er gerade davon profitiert, wenn wegen der EU-unüblichen Niedrigsteuern und der Englisch Native-Speakers sich mittlerweile so ziemlich alle amerikanischen Internet-Konzerne mit ihrem European Headquarter in Dublin niedergelassen haben oder wie Microsoft gerade niederlassen.[5]
© Camille Blake (Schnitt, T.F.)
Jennifer Walshe arbeitet in ihren Kompositionen und Vocal-Performances wohl nicht zuletzt beeinflusst durch Caoimhín Breathnach an der Grenze des Verstehens wie es auf andere Weise bei ihrer Performance All the Many Peopls (2011) im Rahmen von ultraschall Ende Januar deutlich wurde. An der Grenze zum Verstehen entfaltet sich die Kunstpraxis von Caoimhín Breathnach – immer schön „Kevin Braenock“ lesen – die mit dem Gaeilge auf magische Weise verknüpft wird. Jennifer Walshe hat diese dekonstruktivistische Praxis genauer erforscht und formuliert für An Gléacht.
After sleeping with the tape under his pillow for a night, he then wore the tape strapped to his abdomen for a week, noticing significant improvement to his “strampail” and “glórghail” (both obscure words are defined in Dineen as referring to stomach noises).[6]
Kurz: in der Kunstpraxis von Caoimhín Breathnach geht es mit strampail und glórghail um geheimnisvolle Bauchgeräusche, die auf nicht weniger geheimnisvolle Weise auf ein Band oder Tonband übertragen werden. Das ist eine hochkonzeptuelle Kunst der Übertragung zwischen Sprache, Bauchgefühl und Sinnstiftung durch das Tragen des Tonbandes am Körper. Im Film An Gléacht, an dem Caoimhín Breathnach bis kurz vor seinem Tod 2009 wohl gearbeitet hat, erscheinen Tierinnereien, Kieselsteine und Menschen in magischen Strohkostümen. Der bildende Künstler hatte wohl Aufzeichnungen hinterlassen, die Jennifer Walshe nun mit anderen Mitteln umsetzt. An Géacht ist nicht zuletzt deshalb ein work in progress, weil der Sound aus Improvisationen von Jennifer Walshe, Tomomi Adachi, Chris Heenan und Mario de Vega live zur Projektion entsteht.
Jennifer Walshe dürfte aktuell eine der innovativsten irischen Komponistinnen sein, die allerdings in London lebt und arbeitet. Gesänge und Stimmakrobatik werden niemals in einfache Mythologien von einer Irishness oder Dublinness wie bei Donncha Dennehys Crane für das RTE Symphonieorchesterübertragen. Folkloristische Anklänge und Referenzen zur irischen Populärkultur fehlen keinesfalls. Doch Caoimhín Breathnach war kein irischer Popstar, sondern wurde 1985 vom Bischoff von Cloyne derart inkriminiert, dass er nie wieder auf einem Filmfestival in Irland auftreten konnte, wie Colm McAuliffe 2015 für das frieze magazine schrieb.
Breathnach’s proposed performance included a deranged amalgamation of extreme pornographic footage, occult rituals and clips from Dallas and The Late Late Show– the beloved Irish chat show fronted by Gay Byrne for almost 40 years – which incensed the Bishop of Cloyne, who denounced Breathnach as a “deviant and reprobate,” insisting the event be cancelled as it was “indecent, obscene and highly likely to deprave and debase local society.”[7]
Die abweichende Kunstpraxis wird zum Politikum. Abgesehen davon, dass insbesondere die katholische Kirche bis in die jüngste Zeit einen extrem hohen Einfluss auf die kulturellen Praktiken in der Republik Irland hatte und das Gaeilge in gewisser Weise förderte, sind die Sprache wie die okkulten Praktiken, die in An Géacht weniger als durchgängige Erzählung, denn in einer hochtaktigen, kontrastiven Schnitttechnik aufblitzen und verschwinden, eher nicht auf Wiederholung und Einübung, sondern auf stimmlich wie visuell auf Differenzen und Einmaligkeit angelegt. Es gluckst, es säuselt, rauscht, kiekst, murmelt, grummelt, fiepst etc. Wenn man will, eine unsagbare Irishness.
Torsten Flüh
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[1] Siehe auch Torsten Flüh: Geisteskunst. Zur neuen Stummfilm-Musik für die Rekonstruktion von Fritz Langs Der müde Tod. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Dezember 2015 21:08. Und: Insbesondere 9. Foto in: Torsten Flüh: Fliegende Feuerköpfe. Zur Uraufführung von Fritz Langs Der müde Tod als Berlinale Classic und Erstsendung auf ARTE. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Februar 2016 20:49.
[2] Jean Hanelle Cypriot Vespers. An interview with Björn Schmelzer by Anne-Kathryn Olsen. In: MaerzMusik – Festival für Zeitfragen 2017. Berlin: Berliner Festspiele, S. 105.
[3] Ebenda.
[4] Ebenda S. 97.
[5] Siehe Torsten Flüh: Dublin hören. Donncha Dennehys Crane und das Freitagskonzert von Raidió Teilifís Éireann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Februar 2017 22:51.
[6i] Jennifer Walshe: Caoimhín Breathnach. In: Aisteach The Avant Garde Archive of Ireland 19th January 2015.
[7] Colm McAuliffe: An Gléacht – Jennifer Walshe. Zitiert nach MaerzMusik – Festival für Zeitfragen 2017… S. 131.