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Künstlerische Produktion in Dichtung, Lied und Druckguß - Zum untergrundmuseum und Ginka Steinwachs als Gast in AnniKa von Triers Geheimclub

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Geschichte – Untergrund – Geheimnis 

 

Künstlerische Produktion in Dichtung, Lied und Druckguß 

Zum untergrundmuseum und Ginka Steinwachs als Gast in AnniKa von Triers Geheimclub 

 

Der Geheimclub als aktueller Salon mit „Tagesmitgliedschaft und Eintagsgast“ der Chansonnière Annika von Trier findet beziehungsreich am 9. jeden Monats statt, als ginge es darum, die Versprechen des 9. Novembers 1989 zu perpetuieren. Er richtet sich ad hoc nach Anmeldung in der U144 bzw. dem untergrundmuseum in der Linienstraße 144 von Rainer Görß und Ania Rudolph ein. Denn als die Deutsche Demokratische Republik endete, begann die „Forschung Ost“ von Görß und Rudolph als bildende Künstler*innen. Ein einmaliges, unvergleichliches Laboratorium des Sammelns und Geschichtenerzählens unter dem Vergrößerungsapparat für analoge Fotografie zwischen DATAISMUS und Löwenzahn-Kapern-Likör.

 

Im Souterrain der Linienstraße 144 sprießen die Geschichten und werden die Typen der einst ansässigen Schriftgießerei archiviert. Das Vorderhaus mit seiner großen Toreinfahrt und einer freien, geradezu herrschaftlichen, geschwungenen Holztreppe erinnert noch heute an den Erbauer des Hauses im Jahr 1794, den königlichen Kammerdiener Delli, der in der Belleetage wohnte. Die Straße lag damals als äußerste innerhalb der letzten Stadtmauer der preußischen Residenzstadt Berlin zwischen Oranienburger und Hamburger Tor. Der herrschaftliche Garten und die Stallungen wurden im Zuge der Industrialisierung ab 1860 von Fabrikgebäuden für die Schriftgießerei F. F. Teinhardt ersetzt. 1989 wurden hier im VEB Druckguß und Formenbau Berliner Produktionsabschnitt Schilderfertigung noch Gebots- und Verbotsschilder des realexistierenden Sozialismus gegossen.

 

Heidrun S. ist mit ihrer Schwester zum wiederholten Mal im Geheimclub. Mit Gästen aus den USA kommt sie gern an diesen verwunschenen Ort Berliner Geschichte. 1995 erfolgte der letzte Guß einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung auf dem Gelände. Görß und Rudolph haben im Laufe der Jahre Produkte und Produktionsmittel wie Hutformen, Schriftsätze und Schilder, Prothesen und Gewehre, Eierlöffel und Zitronenpressen aus 40 aufgelassenen Betrieben gesammelt. – Apropos Prothesen: Heute ist der Prothesen-Welt-Konzern Ottobock auf das Gelände der Bötzow Brauerei an der Prenzlauer Allee nach Berlin zurückgekehrt. – Die Objekte sind geschichtlich aufgeladen wie die Karl-Marx-Büste aus Pappmaché oder das sozialistische Winkmaterial aus Papierblüten für staatspolitische Umzüge hinter Glasrahmen.

 

Erzählt wird vom anderen Alltag der, aber nicht nur der DDR. Historische Alltagsgegenstände wie Scheinwerfer und unterschiedliche Motoren aus den Volkseigenen Betrieben – VEB – der DDR-Produktion werden zu surrealen Maschinen der Produktion für nichts. Die surrealen Maschinen, die quasi die Bühne vor einem historischen, neogotischen Fenster rahmen, regen die Phantasie an, was nicht nichts ist, aber für gewöhnlich zu gering geschätzt wird. Hier montiert und erzählt ein bildender Künstler als anders gelagerter Historiker. Das Erzählverfahren des untergrundmuseums von Görß und Rudolph funktioniert nach dem der Collage, aus der plötzliche Geschichtserkenntnisse springen.

 

Das untergrundmuseum hat keine geregelten Öffnungszeiten und entzieht sich dem touristisch-industriellen Zugriff. Rainer Görß möchte, dass sich die Besucher*innen auf seine Art der Geschichtserzählung einlassen: „1. Feuerland“, „2. Kunst & Untergrund“, „3. Marke & Macht“, „4. Untergrund & Systemfrage“. Das sind seine historischen Geschichtscluster. Im Souterrain wird nicht nur untergründig gesammelt, archiviert und arrangiert. Es wird vor allem nach künstlerischen Vorstellungen erschlossen. Seine bildende Kunst nutzt Materialien, die ohne ihn schon längst als wertlos verschwunden wären. Das wird materiell in wertlosen Motoren und Monitoren der Staatssicherheitseinheiten ebenso wie sprachlich in Parolen und Plakaten praktiziert: „Wie man arbeiten muß!“, „Stille Post“, „Kinder-Post“, „POSTWERTZEICHEN TELEGRAMM EINSCHREIBEN FERNGESPRÄCHE POSTANWEISUNGEN PAKET-ANNAHME“, „IN DEN RHYTHMEN DER ALGORITHMEN“. Am besten Sie melden sich mit Freund*innen direkt zu einer Führung an.

 

Der Untergrund wird hier nicht einfach ausgestellt. Vielmehr entsteht er auch als Widerstand gegen ein spurloses Vergessen. Anders als die Berliner Unterwelten der „Gesellschaft zur Erforschung und Dokumentation unterirdischer Bauten“ am Bahnhof Gesundbrunnen, die ganze Besucherströme durch den Berliner Untergrund schleust, vermeidet Rainer Görß in seinem untergrundmuseum standardisierte Erzählmuster. Im Cluster „Feuerland“ wird das einst unweit vor dem Oranienburger Tor aufblühende frühindustrielle Gebiet, Geburtsstätte des deutschen Maschinenbaus, insbesondere mit der Schriftgießerei F. F. Teinhardt angesprochen. Als die Schriftgießerei begründet wurde, stand das Oranienburger Tor noch auf der Kreuzung Chaussee-, Friedrich- und Torstraße. August Borsigs Nachfahren bauten hier und in Moabit direkt an der Spree Lokomotiven und andere Dampfmaschinen. Der „Schriftguß“ gehörte zur industriellen Revolution, weil man u.a. für die Maschinen haltbare Schilder brauchte.

 

In dieser vielschichtigen und aufgeladenen Atmosphäre logiert nun der monatliche Geheimclub von AnniKa von Trier als Gast. Es könnte keinen besseren Ort für die, wie man im Englischen neuerdings sagt, singersongwriter geben. Sie spielt mit ihrem Künstlernamen nicht nur auf ihren Geburtsort an, vielmehr erklärt sie ihn mit einer sprachlichen Eigenart der Trierer, die nicht sagten, sie kämen „aus“, sondern „von“ Trier. Gleichzeitig erinnert sie mit ihrem Namen an den gemeinsamen Geburtsort mit Karl Marx, der dann auch in ihrem Clubprogramm vorkommt. AnniKa von Trier mit großem Ka gehört zu den eigensinnigsten und originellsten Musikerinnen Berlins. Als Mademoiselle Papillon führte sie vor einigen Jahren den Salon Papillon in der Gormannstraße 7. In der Flüchtigkeit ihrer originellen Salon- und Cluborte ist sie ein Schmetterling geblieben. Nicht zuletzt kommen neuerdings immer wieder Investoren auf der Linienstraße der Vielfalt in die Quere.

Die Gormannstraße kreuzt zwischen Rosenthaler und Schönhauser Tor die Linienstraße. Insofern ist AnniKa von Trier mit dem Geheimclub der Linienstraße treu geblieben. Sie lädt sich für jeden Club oder Salon eine andere Künstler*in wie Ginka Steinwachs, Alain Jadot oder Carole Kahn, die mit ihnen das Buch Vivre à Berlin (2016) zusammengestellt hat, ein. Am 9. Oktober war die Performerin und Dichterin Ginka Steinwachs zu Gast, deren Buch Sommerträumereien am Meeresufer gerade in der zweiten Auflage im Passagen Verlag von Peter Engelmann erschienen ist.[1] Es gibt so etwas wie eine Linienstraßen-Freundschaftslinie. Die Linienstraße ist weniger ein geschlossener Kiez in Mitte, als eine von zahlreichen Galerien durchbrochene Kunst- und Künstler*innen-Linie, die zunehmend von Investoren angefeindet wird. Plötzlich springen Mieten in die Höhe, und Patrick von der französischen Buchhandlung Zadig muss sich neue Räume suchen. Patrick gehört natürlich zur Linie wie der Eiffelturm zu Paris.

Der salonartige Geheimclub mit seiner Gastgeberin AnniKa von Trier bleibt hoffentlich noch lange auf Linie. Denn die Künstlerin schreibt nicht nur ihre eigenen Chansons wie das von Ginka Steinwachs inspirierte und ihr gewidmete Lied Clocharde de luxe, sie bietet auch lokale Literatur-Canapés wie einen höchst originellen Brief von Bettine von Arnim an ihren geliebten Mann Achim oder einen Brief von Jenny von Westphalen an ihren zukünftigen Ehemann Karl Marx. 

Tragen Sie Luchs oder Fuchs? 

Essen Sie Hummer oder Lachs? 

Das kann Dir egal sein, Du Ätherwesen 

Dein Reichtum ist immer ein andrer gewesen 

In Deine Börse steigt kein Dachs 

             CLOCHARDE DE LUXE 

             DU LEBST VON LUX AIR UND LIEBE 

             CLOCHARDE DE LUXE 

             DU BIST DAS FLUXUSWEIB SIEBEN 

Deine Haare leuchten hell wie der Flachs 

Dein Herz ist nicht aus Stein, es ist aus Wachs 

Eine Luftdusche lüftet Dein luzides Gewächs 

Deine Aussicht: Oriente lux, auf ex …[2]

Die gesungene Hommage an Ginka Steinwachs – „Dein Herz ist nicht aus Stein, es ist aus Wachs“ – wird ebenso als Logogryph wie als Transformation eines Clochard d’amour vorgetragen. Der Liedtext mit französischem Einschlag wird Liebeserklärung an und Portrait der promovierten Komparatistin Ginka Steinwachs zugleich. AnniKa von Trier versteht es, in ihren urban-poetischen Liedern Nähe mit Witz herzustellen. Neben klassischen Chansons wie Göttingen von Barbara dichtet sie Briefe mit Ortsnamen und macht sich in Digital Bohème einen Reim auf die Mythen von Berlin. Aktuell heißt der Slogan: „In Berlin kannst Du alles sein. Auch Herthaner“. Der Sound ist verführerisch und unterhaltsam, doch der kritische Unterton sitzt: 

Sei-ei-ei Berli-hi-hi-hin, Sei-ei-ei kreati-hi-hi-hi-v 

Sei-ei-ei Berli-hi-hi-hin, sei-ei-ei Du Selbst… 

24 Stunden 7 Wochentage 

24 Stunden ohne Nachtzulage 

24 Stunden sind wir kreativ 

24 Stunden kein Wochenendtarif 

[3]

Ginka Steinwachs verknüpft in Sommerträumereien am Meeresufer den gleichnamigen Text von Ludwig Salvator mit dessen Biographie in ihrem Schreibmodus. Im Geheimclub wird die biographische Erzählung zur Performance. Die Dichterin hat in ihren Texten mehrfach an die Schriften des Mallorca-Reisenden und -Erforschers angedockt. Der Mythos Mallorca – und nicht Ballermann – verdankt sich nicht nur eines Aufenthaltes der Schriftstellerin George Sand mit ihrem Geliebten Frédéric Chopin in der damals unwirtlichen Kartause von Valldemossa, sondern mehr noch den wissenschaftlichen, botanischen, ethnologischen, historischen, geologischen wie geographischen, zoologischen und linguistischen Exkursionen, Forschungen und Schriften Ludwig Salvators. 

 

 

Ludwig Salvator schrieb zwischen 1869 und 1891 nicht nur sein siebenbändiges Hauptwerk Die Balearen Geschildert in Wort und Bild über die Inselgruppe, vielmehr (er)schrieb er sich mit seinen Büchern bio-graphisch eine andere Identität. In zahlreichen Schriften sammelte und formulierte er das Wissen von Mallorca und den Ballearen, das die Tourismusindustrie höchstens noch am Rande interessiert. Ginka Steinwachs rückt indessen „ludwig graf von neudorf“ als Pseudonym und Identität ins Interesse. 

der permiss, die erlaubnis zu einer seereise in therapeutischer absicht. unter falschem namen, einem namen nämlich, der seine wahre absicht anvisiert, legen ludwig graf von neudorf und sein lehrer freund mentor eugenio conte sforza di montignoso im hafen von palma an. 

auf der größten baleareninsel: mallorca. 

wir schreiben das jahr 1867. 

das jahr des neubeginns eines jungen grafen von neudorf. 

ich nehme den namen auseinander. 

er zerfällt in drei bestandteile. 

graf by understatement. 

dorf im gegenzug zu stadt, hauptstadt. 

neu als zeichen der hoffnung.[4]

 

Ginka Steinwachs nennt ihre Ludwig-Salvator-Biographie ein unbewusstseelenleben. Man könnte sie auch queer nennen. Das Wissen und die Wissenschaft von Mallorca verdankt sich gewissermaßen einer liebevollen Queerness Ludwig Salvators aus dem habsburgischen Kaiserhaus in Wien. Mallorca wird 1867, als Erzherzog Ludwig Salvator von Österreich, Prinz von Toskana zwanzig Jahre alt ist, neu bzw. zum „zeichen der hoffnung“, wie es Steinwachs formuliert. Für einen österreichischen Herzog und toskanischen Prinzen, der zur Herrschaft geboren worden war, verhält sich Ludwig Salvator auffallend anders oder auch unkonventionell, eben queer. Heiraten wird er nie. Kolportiert werden Liebesbriefe mit dem mallorquinischen Hausmädchen Catalina Homar. Doch der europäische Hochadlige macht ein Kapitänspatent, um in Männergesellschaften Mallorca, die Ballearen und das gesamte Mittelmeer kaum fassbar zu bereisen.   

¿warum seine erste braut, die erzherzogin mathilde, tochter von erzherzog albrecht, nicht seine frau wird? 

¡darum, weil sie vor seinen eigenen augen, oh graus, bei einer truppenparade unter ihrem balkon lebendigen leibes verbrennt. das herzkunstwerk in der flamme! 

¿warum seine nächste braut, die venezianische gräfin luisa da venezze, nicht seine frau wird? 

¡darum, weil ihr adelspatent nicht bis zum erzherzog, nicht bis zu herzog, herz hoch hinaufreicht! 

immerhin wird sie die frau seines lebensgefährten sekretärs treuesten mitarbeiters und alles andere auch, eines mallorquiner geistlichkeitsanwärters: antoni, später don antoni vives.[5]

 

Das Leben im oder als Fragezeichen performt Steinwachs auch im Geheimclub mit einem Fragezeichen am Stiel. Wir wissen wenig, fast nichts von Ludwig Salvator, was er nicht geschrieben hat. Stattdessen veröffentlicht und schreibt er noch und nöcher Bücher über Mallorca und mallorquinische Märchen etc. Alles beginnt mit dem geheimnisvollen Graf von Neudorf in Palma de Mallorca, das ein erzkatholisches Nest ist. Aber auf einer Motoryacht mit dem weiblichen Namen Nixe lässt es sich gut unter Männern leben – und lieben. Nixen sind indessen wenigstens menschlich-tierische Mischwesen, die leicht zu entgleiten drohen und bei Hans Christian Andersen 1837 Den lille Havfrue in Deutsch Die kleine Meerjungfrau heißen. Sie zählen zum Geschlecht der Wassergeister, von denen auch männliche Exemplare vorkommen. – Der Name der Yacht wirft mehr Fragen auf, als sie sich beim ersten Lesen einstellen. 

er verliert den palazzo pitti unter den füßen. 

er schließt sich selbst kraft seines asthmas von der wiener hofburg und auf grund seine homosexualität von den freuden der ehe aus. Was nun bleibt, ist NIXE I, ein palazzo pitti mit kiel, eine bewegliche immobilie, nennen wir sie doch gleich mobilie.[6]

 

Aus einem der ältesten und mächtigsten Adelsgeschlechter Europas stammend weigert sich Ludwig Salvator, die ihm vorgeschriebene Geschlechterrolle anzunehmen. Höchst bürgerlich wird er Kapitän, Forscher, Reisender und Schriftsteller. Ginka Steinwachs hat sich seiner schreibend und dichtend nicht zuletzt deshalb angenommen, weil sie selbst mit einem Katalanen durch die atemberaubende Bergwelt des Nordwestens von Mallorca wanderte und ein verlassenes Stadthaus im Bergdorf fand. Im Theatertext erzherzog herzherzog oder Das unglückliche Haus Österreich heiratet die Insel der Stille (1985) und im Prosatext Der schwimmende Österreich (1985) hat sie sich wiederholt der Geschlechterfrage von Ludwig Salvator angenähert. Homosexuell? Bäuerlich? Hochadelig? Bisexuell? Bürgerlich? Biobauer? Hansdampfkapitän? Stand der Sonnenuhr? Er kauft das „verwahrloste … meergut“ Miramar, dessen Name sich mallorquinisch lesen lässt: 

das miramar von amic (liebendem) und /i amat (geliebten), wo der liebende die schönheit der schöpfung des geliebten preist. tag und nacht. Wenn die sonne scheint und zum schein der sterne. wo der liebende zum geliebten sagt, er befinde sich unter dem goldenen segenbogen einer schöpfung, die wonne singt.[7] 

 

Im Geheimclub ist Ginka Steinwachs gut drauf. Sie fängt mit dem Anfang an. Sie dreht ein kleines Fragezeichen am Stiel zwischen ihren Fingern und blickt fragend ins Publikum: „aber wo ist denn der anfang? aller anfang ist schwer. aller anfang ist sehr …“ Steinwachs‘ Performance-Kunst lässt aus einer sprachoperativen Frage eine wenigstens kosmologische Tiefenfrage aufblitzen. In den besten Passagen seiner Sommerträumereien am Meeresufer (1912) tauchen ähnliche Fragen bei Ludwig Salvator fast unvermittelt in der poetischen Prosa auf. Die Sommerträumereien erhalten ihren besonderen Reiz aus der Komposition geologischen Wissens der Gesteinsschichten mit anthropomorphem „Meergewächs“. 

Die Welle deckt kaum unterseeischen, mit fast goldgelben Tangen bewachsenen Felsen, das weiche Meergewächs wogt hin und her, daß man glauben würde, ein blondes Haupt schüttelte sein Haar dicht an der Meeresoberfläche.[8]

 

Die Tiefe wird von Ludwig Salvator weniger zu einer spirituellen, als zu einer visuellen Frage des längeren Schauens. Vor dem Hintergrund seiner erzkatholischen Herkunft wird die Funktion des modernen Wissens in der Poesie besonders deutlich. Als Schriftsteller schreibt Ludwig Salvator nicht nur die mallorquinischen Geschichten um, vielmehr formuliert er mit der Tiefe Lebensbilder und Lebensentwürfe. 

Jeder Winkel der Felsenküste birgt einen solchen Schatz unterseeischer Herrlichkeiten, daß man sich nicht sattsehen kann. Man könnte nicht bloß tage-, sondern monatelang in die Tiefe hineinschauen und sich immer mit neuen Bildern ergötzen. Auch gibt es unerwartete Ankünfte in diesen Palästen. Wenn man vom Lande zusieht, was dort kriecht und schwimmt, so wird man gewissermaßen auf das Herannahen der verschiedenen Seetiere vorbereitet. Hier taucht plötzlich aus dem dunklen Grunde ein neues Wesen empor, bald Flüchtling, bald Verfolger, um mit gleicher Raschheit wieder zu verschwinden; nur ein silberheller Streifen in dem Wasser verkündet sein Dahinhuschen.[9]

  

Aus welcher Tiefe kommen die „neuen Bilder“, wenn man monatelang in die Tiefe hineinschaut? Ausgerechnet in den Sommerträumereien am Meeresufer, einem harmlosen Titel, gelingt Ludwig Salvator eine sprachliche Verdichtung seines weitläufigen Wissens. Wissenschaft und Tiefenbilder lassen plötzlich „ein blondes Haupt“ oder „Paläste“ mit einem wimmelnden Leben auftauchen, nur eine Spur im „Dahinhuschen“. Ginka Steinwachs hat diese einzigartige Überschneidung von Dichtung und Wissenschaft in den Schriften Ludwig Salvators früh fasziniert. Er stürzt sich in eine neu- und andersartige Erfassung der mediterranen Welt, die die wissenschaftlichen Standards mitformuliert und zugleich poetologisch umwertet. – Der nächste Geheimclub findet am 9. November statt und der Passagen Verlag hat gerade die zweite Auflage der Sommerträumereien drucken lassen. 

 

Torsten Füh

  

Rainer Göhrs und Ania Rudolph 

untergrundmuseum 

Linienstraße 144 

10115 Berlin 

Führungen nach telefonischer Absprache oder per E-Mail 

info@untergrundmuseum.de

 

AnniKa von Trier 

Geheimclub 

im untergrundmuseum 

Anmeldung: 

geheimclub@annika-von-trier.com 

 

Ginka Steinwachs/Ludwig Salvator 

Sommerträumereien am Meeresufer 

1912/2003 (Zweite Auflage)

 

Performance 

Ginka Steinwachs 

die weisse woche (1978) 

am Sonntag, 11. November 2018, 16:00 Uhr 

in der Ausstellung HIJR Fantastik 

im Schwulen Museum

 

Carole Kahn

Vivre à Berlin 
18,00 € 
 
 

_____________________________



[1] Ginka Steinwachs/Ludwig Salvator: Sommerträumereien am Meeresufer 1912/20013. Wien: Passagen, 2004.

[2] Siehe Liedtexte von AnniKa von Trier auf http://annika-von-trier.com/urbane-liedtexte/

[3] Ebenda.

[4] Ginka Steinwachs/Ludwig Salvator: Sommerträumereien … [wie Anm. 1] S. 17.

[5] Ebenda S. 25.

[6] Ebenda S. 26.

[7] Ebenda S. 27.

[8] Ebenda S. 78.

[9] Ebenda S. 79. 


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