Ton – Religion – Elektronik
Spiritualität und elektronische Geisterkunst
Zum Stockhausen-Zyklus mit Telemusik, Mantra und Inori beim Musikfest
Das faszinierende Musikfest 2018 unter der Leitung von Winrich Hopp klingt nach. Es endete mit einer Aufführung von Inori(1973/74) unter der Leitung von Peter Eötvös einem Schüler, Mitarbeiter und langjährigen Vertrauten von Karlheinz Stockhausen. Gleichsam als testamentarische Formulierung sagte Stockhausen am 25. September 2007: „Mein Leben ist extrem einseitig: die Werke als Partituren, Schallplatten, Filme, Bücher zählen. Das ist mein in Musik geformter Geist und ein Universum von Momenten meiner Seele in Klang.“ Am 5. Dezember 2007 verstarb er im neunundsiebzigsten Lebensjahr. Seit den 50er Jahren spielte die Elektronik mit dem Studio für Elektronische Musik in Köln in das Musikmachen bei Stockhausen hinein. Zugleich diente sie dem Pionier dieser musikalischen Erweiterung, um beispielsweise in Mantra (1970) akustische Effekte zu erzeugen, die die Spiritualität stärken sollten.
Tendiert die Elektronik in der Musik Karlheinz Stockhausens bereits zur Künstlichen Intelligenz? Wie bedingen Elektronik oder Künstliche Intelligenz und Spiritualität einander? Seine Musik als „geformter Geist und ein(em) Universum von Momenten (s)einer Seele in Klang“ hält an den Begriffen „Geist“ und „Seele“ fest, während er auf Elektronik und einem höchst analytischen Einsatz von Tönen, Lautstärke und seriellem Komponieren setzte. Ist das nicht ein Widerspruch? Inori– nicht zuletzt – könnte als Komposition einer neuen oder gar neuartigen transkonfessionellen Religion interpretiert werden. 13 Gebetsgesten aus verschiedenen Religionen werden unter Einsatz von Klangregie zu einer Transreligion des „Hu“ kombiniert. Technizität und Religionen generieren eine neuartige Religion? Oder fragen sie, was Spiritualität und Religion sein könnten?
Kein anderer Komponist des 20. und beginnenden 21. Jahrhundert hat mit der Technizität der Musik diese selbst so stark beeinflusst wie Stockhausen. Gleichzeitig hat kein anderer Komponist mit religiöser oder geistiger Musik so intensiv experimentiert und mit Äußerungen zu Religionen derartige Kontroversen ausgelöst. Die Teilnahme an Stockhausen-Konzerten wie INORI Anbetung für zwei Tänzermimen und großes Orchester, aber auch schon bei der Telemusik Elektronische Musik (1966) bekommt leicht einen Bekenntnischarakter. In der Aufführung von INORI sitzt ein in buddhistisches Gelb gewandeter Mann in der Philharmonie, der vielleicht kein Mönch ist und doch sein gelbes Gewand als religiöses Bekenntnis trägt, während gerade der einst vertraute Peter Eötvös den „religiösen Aspekt“ ablehnt, um das „Ritual“ zu betonen.
Ein Ritual. INORI ist das Ergebnis einer Religiosität, die ich als Teil der Menschheits-Kultur akzeptiere. Alle Weltreligionen gehören für mich zur menschlichen Kultur, ohne dass ich selbst an ihnen teilhaben möchte. Aber alles Rituelle ist für mich von höchstem Wert.[1]
Rituale, Zeremonien, Aktionen und Symphonien bildeten den roten Faden durch das Festival. Insofern war die Aufführung von INORI als Ritual auch ein programmatischer Schlusspunkt. Lässt sich ein Ritual oder eine Zeremonie ohne Spiritualität denken? Oder generieren die auf Wiederholung angelegten Rituale nicht tendenziell Spiritualität? Die sequenzielle Wiederholbarkeit des Rituals führt zu sinnlichen Sinnstiftungen, könnte man sagen. Häufig entwickeln Paare Rituale z.B. im Jahresrhythmus, um sich von anderen Paaren und z.B. religiösen Zeremonien zu unterscheiden. Der Besuch der Bären im Tierpark Hagenbeck in Hamburg am Vormittag des 31. Dezember wird alljährlich als Ritual wiederholt und fast schon als Versicherung der Paarbeziehung gefeiert. Rituale lassen sich in einer Art Mikrokosmos sozial ausbilden, tragen zur bestätigenden Erinnerung bei und manifestieren gleichsam einen Wunsch nach Kontinuität.
Das Ritual wird im Werk Stockhausens mit der Elektronik verknüpft. Für Telemusik kombiniert er mehrere analoge Techniken wie 8-Spur- und 2-Spur-Magnettonbändern, Mischpult und Klangregie zur Elektronischen Musik. Man kann diese Komposition wohl eine Schnittstelle zur Künstlichen Intelligenz in der Musik nennen, obwohl analoge Techniken eingesetzt werden. Der Komponist hat seine Arbeit in ihrer Genese ausführlich zur Uraufführung am 21. März 1966 kommentiert und den Kommentar 1969 noch einmal ergänzt hat. Vor allem in der Ergänzung wird eine Überwindung der „Collage“ versprochen, obwohl oder gerade weil Stockhausen mit den Aufnahmen von den Tonbändern Klänge der „Gagaku-Spieler, von der glücklichen Insel Bali, aus der südlichen Sahara, von einem spanischen Dorffest, aus Ungarn, von den Shipibos des Amazonas“ etc. mischte um seine Telemusik entstehen zu lassen. Der universalistische Traum „nicht ,meine‘ Musik zu schreiben, sondern eine Musik der ganzen Erde, aller Länder und Rassen“ soll in dieser Musik realisiert werden.[2]
Telemusik wurde am 15. September im Großen Sendesaal des Funkhauses fast rituell aufgeführt. Das Licht geht aus. Der Scheinwerfer zeichnet sich als Lichtkreis über dem Konzertpodium ab. Telemusik erklingt vom Band. Nach der ersten Irritation wird klar, dass das Stück in allerbester Tontechnik mit Lautsprechern, wie sie sich Stockhausen nur erträumt haben mag, erklingt. Vielleicht ist die Klangregie von Marco Stroppa noch letzte Spur eines Live-Konzertes. Einerseits lässt sich kaum noch die Aufnahme einer ursprünglichen Musik wahrnehmen. Vielleicht bräuchte man ein maximales Klanggedächtnis, um die „Shipibos des Amazonas“ wahrnehmen zu können. Andererseits wollte Stockhausen die „Collage“ überwinden.
TELEMUSIK (ist) zum Anfang einer neuen Entwicklung geworden (…), in der die Situation der ,Collage‘ der ersten Jahrhundert-Hälfte allmählich überwunden wird: TELEMUSIK ist keine Collage mehr. Vielmehr wird – durch Intermodulationen zwischen altem, ,gefundenen‘ Objekten und neuen, von mir mit modernen elektronischen Mitteln geschaffenen Klangereignissen – eine höhere Einheit erreicht: Eine Universalität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von weit voneinander entfernten Ländern und ,Räumen‘: TELEMUSIK.[3]
Telemusik generiert aus wesentlich rituellem Klangmaterial unterschiedlicher regionaler wie kultureller Herkunft eine vorerst relativ kurze, aber damals sehr lange Elektronische Musik von ca. 18 Minuten.[4] Das Klangmaterial wird allerdings nicht nur vom Tonband ausgeschnitten oder kopiert und anders – beim Magnettonband noch im wahrsten Sinne des Wortes mit Klebstoff – zusammengeklebt, was durchaus hörbar war. Vielmehr wird das Klangmaterial von Stockhausen im Studio für Elektronische Musik des Japanischen Rundfunks Nippon Hoso Kyokai in Tokyo bereits selbst durch die elektronische Mischung und Stauchung verändert, so dass sich die einzelnen Ausschnitte kaum mehr unterscheiden lassen. Aufnahmetechnisch verändert sich damit durchaus das Verfahren der Collage, bei dem die Ausschnitte allein neukombiniert werden, um wie in den Collagen von Herta Müller neue Texte zu generieren.[5]
Das Fragmentarische und Diverse der Collage wird von Karlheinz Stockhausen nicht nur verworfen – „TELEMUSIK ist keine Collage mehr.“ –, vielmehr soll es durch „eine höhere Einheit“ ersetzt werden. Visualisiert macht es einen Unterschied, ob man einen puristischen Lichtkreis über ein Konzertpodium für TELEMUSIK projiziert, der auch an die japanische Nationalfahne erinnern könnte, oder eine Art Klangfilm mit „Audacity, Sonic Visualizer and vokoscreen“ digital generiert, wie es Sebastian H. M. Murdock gemacht hat. Bei Murdock wird das collageartige sichtbar.[6] Bereits mit TELEMUSIK schreibt Stockhausen einen ebenso poetischen wie chiffrierenden Kommentar, der die technisch-elektronische „Klangereignisse“ (Stockhausen!) mit dem Versprechen auf „eine höhere Einheit“ und „Universalität“ auflädt. Der technische Neuanfang der Musik als Leer-, Bruch- oder Schnittstelle wird sogleich in ein geistesgeschichtliches Sinnversprechen verwandelt.
Stockhausens Kompositionskommentare entwickeln eine eigene, fast widersprüchliche Logik zu seiner Praxis des Musikmachens. Nachdem Stockhausen Refrain (1959), Zyklus (1959) und Kontakte für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug (1958-1960) komponiert hatte, die im Konzert erst nach TELEMUSIK von Pierre-Laurent Aimard (Klavier/Celesta), Dirk Rothbrust (Schlagzeug), Benjamin Kobler (Klavier) und Marco Stroppa (Klangregie) aufgeführt wurden, formuliert er mit einer gewissen Verzögerung von drei Jahren eine programmatische „höhere Einheit“ und „Universalität“. Stockhausen hat für seine Texte zur Musik (1971) die nachträgliche Vereinheitlichung als „Einschub 1969“ im Text kenntlich gemacht.[7] Diese Nachträglichkeit eines Anspruchs auf eine „Universalität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von weit voneinander entfernten Ländern und ,Räumen‘“ wird von ihm zugleich lesbar gemacht und proklamiert. Einerseits analysiert und dekonstruiert er die Musik und das Musikmachen bis in die feinsten Strukturen, andererseits muss von ihm die Musik als Kunst, Einheit und Universalität zu schaffen, versprochen werden. Das gibt auch einen Wink auf mythologische Figur des Künstlers als Schöpfer.
Das Paradox von Technik und Spiritualität bei Karlheinz Stockhausen wird ebenfalls auf beeindruckende Weise mit Mantra für zwei Klaviere und Ringmodulation (1970) praktiziert. Auf eindrucksvolle Weise lässt sich dies in der Lecture über Mantra am Imperial College in London vom 19. Juli 1973 verfolgen, die in drei Videos auf YouTube zugänglich ist.[8] Stockhausen erklärt hochmusikalisch mit der komplexen Partitur an der Wandtafel, wie er zufällig aus einer Melodie, die ihm 1969 während einer Autofahrt mit drei weiteren Leuten von Madison Connecticut nach Boston in den Sinn kam, Schritt für Schritt zwischen dem 1. Mai und dem 20. Juni 1970 während der Weltausstellung in Osaka komponierte, um im zweiten Teil nach ca. 115 Minuten zu erklären, wie er auf den Titel gekommen ist.[9] Der relativ unspezifische Begriff des Mantra wird nun von Satprems (Bernard Enginger) Biographie Sri Aurobindo, or the Adventure of Conciousness (1964) hergeleitet.
Was hat Stockhausen gelesen, als er die Biographie des Gurus Sri Aurobindo als Bewusstseinslehre las? Zunächst gilt das Buch als eine der populärsten Einführungen ins integrale Yoga. Die (rituelle) Wiederholung von 13 Tönen öffnet nach einer von Stockhausen vorgelesenen Definition sozusagen das Bewusstsein. Hatte er zuvor die Modulationen der Melodie durch 13 Tönen und als Ausgangspunkt der vielfältigen Kombinationen in Mantra erklärt, so lässt sich im Video der Lecture beobachten, wie er das Zitat in Englisch abliest, um dann an die Tafel zu blicken und bei 56:04 erfreut in die Hörerschaft zu blicken. Denn die 13 Klänge oder Töne seien exakt das gewesen, was er mit seinem Stück komponiert habe. Mantra sei eine Technik, das Abenteuer des Bewusstseins zu erleben. Doch was gibt es noch in Sri Aurobindo oder das Abenteuer des Bewusstseins zu lesen?
Sri Aurobindo oder das Abenteuer des Bewusstseins bestätigt erst nachträglich Mantra als Komposition. Mantra ist zugleich eine Technik als Konzentrationspraxis und eine Sinnstiftung. Die hohe Technizität der Musik und Ringmodulation, die allererst mantrisch Soundeffekte generiert, macht die Komposition wenigstens tendenziell beliebig oft reproduzierbar, als sei ein Kompositionscode geknackt worden. Mantra ließe sich zumindest nach der dreiteiligen Lecture womöglich durch ein Computerprogramm digital generieren. Durch Kombinationen und Modulationen wird „aus einer 13-tönigen Formel“ (Stockhausen) ein Konzert für zwei Klaviere generiert.[10] In London führte Stockhausen die „13-tönige() Formel“ enthusiastisch vor, um bei Sri Aurobindo anzukommen, denn im Vorwort schreibt Satprem am 27. Januar 1970 im Ashram im indischen Pondicherry:
Das Zeitalter der Abenteuer ist vorbei. Selbst wenn wir die siebte Galaxie erreichen, werden wir behelmt und mechanisiert dorthin gehen, und das wird nichts für uns verändern; wir werden uns genauso finden, wie wir jetzt sind: hilflose Kinder angesichts des Todes, Lebewesen, die nicht sicher sind, wie sie leben, warum sie am Leben sind oder wohin sie gehen. Wie wir wissen, sind auf der Erde die Zeiten von Cortez und Pizarro vorbei; ein und derselbe durchdringende Mechanismus erstickt uns: die Falle schließt sich unerbittlich. Aber wie immer stellt sich heraus, dass unsere trostlosesten Widrigkeiten auch unsere vielversprechendsten Gelegenheiten sind und dass die dunkle Passage nur eine Passage ist, die zu einem größeren Licht führt. Mit dem Rücken zur Wand stehen wir also vor dem letzten Territorium, das wir noch erforschen müssen, dem ultimativen Abenteuer: uns selbst.[11]
Satprem formuliert 1970 vor allem gegen den „behelmt(en) und mechanisiert(en)“ Menschen wie „ein und derselbe durchdringende Mechanismus“ gegen die Zukunftsversprechen der 50er und 60er Jahre, in denen die Raumfahrt als Zukunft zur Staatsraison gehört, ein, sagen wir, alternatives „letzte(s) Territorium“. Dem Zukunftsversprechen der Technik und Galaxien, das sich zumindest mit den Sojus- und Apollo-Kapseln erfüllt zu haben scheint, wird ein „ultimatives Abenteuer“ der Reise zum Selbst und seinen Vorfahren entgegengesetzt. Mantra wird, so könnte man sagen, an der Schnittstelle von Artificial Intelligence und Adventure of the Conciousness als Freiheitsversprechen komponiert bzw. nachträglich verortet. Während einer Einführung zu Mantra mit Pierre-Laurent Aimard, Tamara Stefanovich und Marco Stroppa als Klangregisseur im Kammermusiksaal am 17. September vermittelte Winrich Hopp seine Faszination durch Mantra mit der perfekten Aussteuerung und individuellen Klangreglern, indem er davon sprach, dass es klinge, „als wenn die Musik aus dem Weltraum kommt“.
Mantraübt heute auf jeden Fall eine starke Faszination aus, was insbesondere der technisch ausgefeilten Ringmodulation durch Marco Stroppa im Kammermusiksaal zu verdanken war. Erst dadurch kommt, sagen wir, der mantrische Hall für die Zuhörer zustande, der das Hören von einzelnen Anschlägen auf den einhüllenden Nachhall verschiebt. Oder mit Stockhausen: „Dadurch spürt man ein ständiges harmonisches ‚Atmen‘ von konsonanten zu dissonanten zu Konsonanten Modularklängen durch die genau abgestimmten Verhältnisse zwischen den modulierenden Sinustönen und modulierten Klaviertönen.“[12] Durch das Hören wird mantrisch das Hörer*innenbewusstsein verändert, könnte man sagen. Denn in der „musikalische(n) Miniatur der einheitlichen Makro-Struktur des Kosmos“ und der „Vergrößerung ins akustische Zeitfeld der einheitlichen Mikro-Struktur der harmonischen Schwingungen im Ton selber“ kommen wiederum Einheit und Universalität zum Zuge.
Mit dem Vortrag Über HU schaltet Karlheinz Stockhausen unmittelbar nach der Komposition von INORI (1973/74) diesem Stück eine Einleitung voraus, die nun das Verhältnis von Technik und Spiritualität umkehrt. Im Rahmen des Festivals wurde der Vortrag als Film von Suzanne Stephens (1998) mit Kathinka Pasveer als Solistin vom 5. April 1998 in deutscher Sprache am Nachmittag vorgeführt. Im Internet gibt den Vortrag mit Kathinka Pasveer in englischer Fassung von 2003. Stockhausen hat diesen Vortrag als Einführung zur Aufführung quasi als Ritual konzipiert. Der Vortrag wird eröffnet mit der klanglichen Analogie von HU in vielen Sprachen und Religionen, womit ein spirituelles Klangerlebnis quasi vorbereitet wird. Die Komposition, nun für großes Orchester und zwei Tänzermimen mit 16 Rin bwz. Klangschalen, 14 Klangplatten, Cymbales antiques und Indischem Schellenkranz erweitert, setzt klanglich und visuell als 13 Gebetsgesten wiederum eine Art 13-töniger Formel in Szene.
Anders als in Mantra wird nun der westliche Orchesterapparat um östliche Instrumente erweitert. Elektronik findet keinen vergleichbaren Einsatz. Die Orchesteraufstellung wird genau vorgeschrieben. Formelartigkeit und Formalisierungen strukturieren die rituelle „Anbetung“ eines Gottes. Im Vortrag Über HU wird programmatisch mit dem HU auf (einen) Gott Bezug genommen. Einheit und Universalität als Anspruch werden mit INORI konzeptuell von vornherein komponiert. Was sich so vorzüglich im Stockhausen Zyklus des Musikfestes vorzüglich beobachten ließ, war wie die technisch-elektronisch-experimentellen Komposition zu einer konzeptuellen Umkehrung des Verhältnisses von Technik und Spiritualität führen. Die Konzeptualisierung der Komposition als geistige wie religiöse geht nunmehr dem Komponieren unter Anwendungen ähnlicher Techniken voraus, als müsste die Spiritualität von vornherein abgesichert werden.
Die Anforderungen an das Orchester und die Tänzermimen Winnie Huang und Diego Vásquez sind extrem hoch. Man muss die 13 Gebetsgesten und die Geste für Stille und Echo nicht vorher vermittelt bekommen haben, um sie wahrnehmen zu können. Doch der mit der Musik absolut synchronisierte Wechsel der Gesten fordert gleichermaßen vom Publikum Konzentration. Der Ablauf der Gebetsgesten ist genauestens mit der Musik synchronisiert und vorgeschrieben. Die Tänzermimen haben quasi keine Möglichkeit zu einer Art persönlichen Ausdruck, da sie absolut auf den Synchronizität mit der Musik konzentrieren müssen. Das ist ebenso faszinierend, verstörend, weil durch die Abfolge der Vereinenden Gesten sich eine Erzählung oder Geschichte nicht einstellen will. Das Ritual wird unter höchsten Anforderungen wiederholt und modifiziert. Für den Berichterstatter war es jedenfalls so, dass die Gesten und die Musik in gewisser Weise einen mechanischen Zug bekamen, während nun gerade eine von Sinn und Erzählung gesättigte „Form und Großform der Komposition“ aufgeführt wurde.[13]
Wann stellt sich Spiritualität ein? Die Gesten sind auf den Ton abgestimmt, wie sich an der „Urgestalt (‚Formel‘)“ aus „Tempi – Bet-Gesten – Melodie – Dynamik – Klangfarben – Dauern“ lesen lässt.[14] Das „hu“ wird in verschiedenen Klangfarben artikuliert und nur einmal von dem Tänzermimen ausgerufen, woraufhin er mit großer Kraft auf den Boden schlägt. Im Formschema werden Rhythmus, Dynamik, Melodie, Harmonie und Polyphonie in Phasen von Gensis, Evolution und Pause eingeteilt. Vielleicht – und das könnte bedenkenswert sein – generiert sich Spiritualität gerade durch ein Ritual, dessen Horizont der Schrecken der Maschine aufsteigt.
Torsten Flüh
Karlheinz Stockhausen II
Telemusik, Refrain, Zyklus, Kontakte
10. Oktober 2018 ab 21:04 Uhr
Karlheinz Stockhausen IV
INORI
Mediathek: Konzert vom 20. September 2018 ab 20:03 Uhr.
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[1] Peter Eötvös: „Ich habe seinen Gesang im Ohr“. In: Musikfest Berlin: 18.9.2018 Stockhausen IV Orchester der Lucerne Festival Academy Peter Eötvös. Berlin: Berliner Festspiel, 2018, S. 13.
[2] Karlheinz Stockhausen: TELEMUSIK (1966). In: Musikfest Berlin: 15.9.2018 Stockhausen II Pierre-Laurent Aimard Dirk Rothbrust Benjamin Kobler Marco Stroppa. Berlin: Berliner Festspiel, 2018, S. 9.
[3] Ebenda.
[4] Vgl. z.B. die Visualisierung von TELEMUSIK durch Sebastian H. M. Murdock auf YouTube von 2015.
[5] Vgl. z.B. Torsten Flüh: In der Sommermittagshitze oder bei klirrendem Frost. Ein Fest für Herta Müller in Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Dezember 2009 00:24. Ausführlicher zur Collage in der Literatur: Torsten Flüh: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017.
[6] Wie Anm. 4.
[7] Karlheinz Stockhausen: TELEMUSIK … [wie Anm. 2] S. 9.
[10] Karlheinz Stockhausen: Mantra. In: Musikfest Berlin: 17.9.2018 Stockhausen III Pierre-Laurent Aimard Tamara Stefanovich Marco Stroppa. Berlin: Berliner Festspiel, 2018, S. 9.
[11] Satprem: Sri Aurobindo, or the adventure of Conciousness. Pondicherry, 27. Januar 1970. (SITE OF SRI AUROBINDO & THE MOTHER)
[12] Karlheinz Stockhausen: Mantra … [wie Anm. 10].
[13] Karlheinz Stockhausen: Form und Großform der Komposition INORI. In: : Musikfest Berlin: 18.9.2018 Stockhausen IV … [wie Anm. 1] S. 18-19.
[14] Ebenda.