Gefängnis – Gral – Gemeinschaft
Parsifal-Skandal in Tegel
aufBruch feiert 20 Jahre Gefängnistheater mit den Berliner Philharmonikern in der JVA Tegel
Das Gefängnistheater aufBruch um Peter Atanassow feiert sein 20-jähriges Jubiläum mit dem Bildungsprogramm der Berliner Philharmoniker in einer Inszenierung von Richard Wagners „Bühnenweihfestspiel“ Parsifal. Es wird im ehemaligen Teilanstalt III seit dem 1. noch bis zum 23. März von Gefangenen, dem Schlagzeuger und Dirigenten Simon Rössler der Berliner Philharmoniker, Studierenden der Musikhochschule Hanns Eisler und einem Schauspieler aufgeführt. Die Mezzosopranistin Judith Kamphues singt die Erzählung der Kundry im zweiten Aufzug und hat die Männerkehlen für die Gralsszene zum Singen gebracht: „Zum letzten Liebesmahle/gerüstet Tag für Tag,/gleich ob zum letzten Male/es heut ihn letzen mag…“ Parsifal in der JVA Tegel wird zum Skandal, weil auf faszinierende Weise geschieht, was nicht geschehen soll.
Die Teilanstalt III mit ihrer Aufsichtsarchitektur von 1898 verwandelt sich in Richard Wagners Gralsburg. Die Türen sind peinlich verriegelt. Das Publikum und die Künstler, Musiker müssen sich einschließen lassen. Wer hier sitzt und engagiert mitspielt, gar singt, hat unbedingt ein Leistungsregister. Im Gespräch mit dem Publikum geben die Männer, die gerade noch Gralsritter waren, freundlich Auskunft über ihre Karrieren, was durchaus eine gewisse Herausforderung darstellt. Tatsächlich ist Richard Wagners Gralsburg für den Gralshüter Amfortas ein Ort der Gefangenschaft. Amfortas wird auf brutalstmögliche Weise gezwungen, den Gral für die Gemeinschaft immer wieder zu enthüllen, was ihren Lebensinhalt ausmacht. Zwischen Folter und Rausch existiert eine Gemeinschaft, die den „reine(n) Tor“ ersehnt, Parsifal mobbt und wegschickt, bis er wiederkehrt und sie erlöst. Erlöst?
Die Produktionen des Gefängnistheaters aufBruch sind mehr oder weniger immer ein Skandal, weil sie plötzlich den Rahmen für Literatur und Theater verrücken. Ein Skandal gibt auch Anstoß zu einer Veränderung. Statt Lesemöbel oder Theaterbau geht es in die Justizvollzugsanstalt. Das Stück beginnt damit, dass Parsifal auf dem Gelände der Gralsritter einen Schwan erlegt. Ein Skandal kann gut und richtig sein. Denn es gibt mindestens zwei Perspektiven: die eine geht von draußen nach drinnen, die andere verrückt den Rahmen der Wahrnehmung auf Literatur[1], Drama[2], Roman[3], gar „Bühnenweihfestspiel“ von 1882, für das Richard Wagner eigens das Haus für ein „Theaterfestspiel“ in Bayreuth erbauen ließ. Testamentarisch verfügte er, dass es an keinem anderen Ort aufgeführt werden solle. Die exklusive, bürgerliche Wagner-Gemeinde hat sich später darüber hinweggesetzt. Aufführungen an internationalen Opernhäusern galten ihr lange als Entweihung und Rechtsbruch. Die Ultras der Wagner-Gemeinde werden sich niemals Parsifal in der Einstudierung von Sir Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern zu Ostern 2018 im Festspielhaus Baden-Baden ansehen und anhören. – Die meisten Ultras sind allerdings schon unter der Erde.
Die öffentliche Meinung, die Presse und vor allem Ordnungspolitiker gefallen sich darin, den Blick auf die ebenso veraltete wie eine der größten Justizvollzugsanstalten Deutschlands, die JVA Tegel, auf Skandale im Steckschlüssel- und Smartphone-Format zu begrenzen. Das hilft wenig, schnellt aber zur Forderung nach mehr Sicherheit zusammen, wenn es nur oft genug wiederholt wird. Es ist eben vielmehr ein gesellschaftlicher Skandal, wenn mit ein wenig Hohn, wenn nicht gar schon Häme davon berichtet wird, dass Peter Atanassow das Jubiläum seiner unermüdlichen und hochengagierten Theaterarbeit mit Parsifal in Tegel feiern will. Nicht jede Kulturreporterin kennt Wagners Parsifal. Darf man nicht voraussetzen. Parsifal gilt als so harter, süchtig machender Stoff, dass wohlmeinende Patentanten noch in den 80er Jahren Eltern warnten, wenn der sechszehnjährige Sohn mit einem Freund Parsifal statt Lustiger Witwe hörte und im Opernhaus sah.
© Quelle: JVA Tegel
Das Projekt könnte für das Verständnis von Gesellschaft und Kultur kaum höher angesetzt werden. Das Education-Programm der Berliner Philharmoniker mit seiner Leiterin und Professorin für Musikvermittlung an der Hochschule für Musik Hanns Eisler, Andrea Tobler, kooperiert engagiert mit dem professionellen Gefängnistheater-Team. Maximale Inklusion. Der Schlagzeuger Simon Rössler hat sogleich zugesagt. Im ZDF-Silvesterkonzert live aus der Berliner Philharmonie stand Simon Rössler am Schlagzeug. Das spiegelt ein Verständnis von gesellschaftlichem Engagement und Zivilgesellschaft wider, das höchsten Maße Respekt verdient. Im Rahmen der Osterfestspiel der Berliner Philharmoniker in Baden-Baden und der Aufführung des Parsifal am 6. und 8. April in der Berliner Philharmonie wird der Film Anderswo „ein Porträt über Menschen in einem Berliner Gefängnis“ von Adrian Figeroa im Foyer gezeigt. Richard Wagners Musik kann Langzeitfolgen verursachen. Der Parsifal ist nicht zuletzt der Versuch, ein säkulares Ritual zur Religion zu transformieren.
© Quelle: JVA Tegel
Über der Kreuzung von vier Zellentrakten hängt eine Überwachungskanzel. Denn Gefängnis heißt seit der Planung des Panopticons von Jeremy Benthan 1791 die totale Einsicht in das Leben der Gefangenen. In Tegel gibt es dicke Zellentüren aus Holz mit Sichtscharten. Die Dusche ist so konzipiert, dass alles einsichtig ist. Wände gibt es nicht. Die Etagen und Treppen sind aus Stahlkonstruktionen, damit jede Bewegung außerhalb der Zelle sichtbar bleibt. Betondecken sind genau kalkulierte Ausnahmen. Allein die Gefängnisarchitektur lässt das Individuum bis auf die Größe der Zelle schrumpfen. Die Teilanstalt III ist nicht mehr belegt, andere Teile aus der gleichen Bauphase werden sehr wohl noch für den Strafvollzug benutzt. Ob der Trakt abgerissen, umgenutzt oder musealisiert wird, schließlich liegt er auf dem Gefängnisgelände, das durch Tore und Sicherheitsschleusen abgeschottet ist, wird nach dem Theaterprojekt entschieden.
© Quelle: JVA Tegel
Der Gral und vor allem die Praktiken, die um ihn herum aus- und aufgeführt werden, stiften eine Gemeinschaft. Es sind gerade diese Handlungen, zu denen Amfortas mit aller Macht gezwungen wird, weil ihr Ausbleiben die Gemeinschaft zerbrechen lassen müsste und im Dritten Aufzug schon fast hat zerbrechen lassen. Der Gral ist auf vielfache Weise interpretiert worden. Wagner selbst hat lange, mehr als 20 Jahre vor der Uraufführung in einem Brief an seine Geliebte, Mathilde Wesendonk, als „die Trinkschale des Abendmahles“ aufgefasst.[4] Doch praktisch löst er die Gralserzählung gerade aus dem christlichen und kirchlichen Kontext heraus, um ihn zu einem (leeren) Objekt zu machen, das allererst durch gemeinschaftlich vollzogene Praktiken seinen Wert und seine Strahlkraft erhält. – In der Inszenierung ist der Gral eine schmucklose Kanne, der Speer zunächst ein Stiel. – Wagner komponiert eine säkulare Liturgie zum „Bühnenweihfestspiel“. Denn nicht zuletzt ist es Parsifal, der der neuen Liturgie den Namen gibt. Um gemeinschaftlich Handlungen am Gral vorzunehmen, versammeln sich nicht nur die Gralsritter auf der Bühne, vielmehr noch soll sich das Publikum zum „Bühnenweihfestspiel“ versammeln, um an den Handlungen und eben nicht nur „Handlung“ auf der Bühne teilzunehmen.
© Quelle: JVA Tegel
Die Gemeinschaft ist auf der Gralsburg bzw. dem Kloster gleichfalls gefangen. Giorgio Agamben hat 2012 mit Höchste Armut – Ordensregeln und Lebensform auf die Funktion der „Zeiteinteilung“ im Kloster hingewiesen.[5] Die klösterliche Zeiteinteilung zwingt Amfortas zur ständigen Wiederholung der Gralsenthüllung, die ihn zugleich an seine größte Schuld erinnert. In der Wunde des Amfortas, die der Jesu Christi am Kreuz gleicht, materialisiert sich die Schuld sexuellen Genießens, das nach den Ordensregeln ausgeschlossen ist. Das individuelle Genießen, die Lust, wird zum Regel- und Gesetzesbruch. So ist es die alltägliche und alljährliche Zeiteinteilung, die Amfortas zwingt, sich an seine Schuld zu erinnern. Er ist der oberste Verwalter der Ordensregeln und ihr Opfer. Man muss also weniger fragen, wodurch oder warum Amfortas schuldig geworden ist, als vielmehr danach was die Zeiteinteilung mit dem Leben macht.
… wenn Foucault in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass schon in den Klöstern die Zeit segmentiert wurde, ist man sich in der Regel nicht bewusst, dass fast fünfzehnhundert Jahre zuvor das Mönchtum in seinen Klöstern das Leben der Mönche – zu ausschließlich moralischen und religiösen Zwecken – einer Zeiteinteilung unterwarf, deren Strenge der antiken Welt unbekannt war und deren unerbittliche Absolutheit von keiner Institution der Moderne, die tayloristische Fabrik eingeschlossen, je erreicht worden wäre.[6]
© Quelle: JVA Tegel
Das Kloster ist, an Agamben anknüpfend, das Modell der modernen Fabrik wie des Gefängnisses. In den rein zeitlichen Ordensregeln des Erwachens, des An- und Auskleidens, des Betens, des Arbeitens, der Nahrungsaufnahme, des Gottesdienstes, der Waschungen etc. wird ein Leben nahezu minutiös vorgeschrieben. Es geht um eine fortwirkende „Auffassung von Leben und Gesetz“.[7] Das Mönchtum unterwirft das Leben in den Klöstern einer strengen Zeiteinteilung, die ständig von Innen überwacht und kontrolliert wird. Nicht zuletzt aus dieser Perspektive wird eine Aufführung des Parsifal im Gefängnis zu einem beziehungsreichen und gerade nicht mutwilligen Projekt. Wie und in welcher Weise auch immer: Inhaftierte sind Experten für Zeiteinteilung in einer geschlossenen Welt. Die Flucht aus dem Gefängnis ist nicht nur der Bewegungsfreiheit, vielmehr der Zeiteinteilung geschuldet.
© Thomas Aurin
Der Zwang und die Unausweichlichkeit der Zeiteinteilung im Justizvollzug, die nicht zuletzt durch ein zeitliches Strafmaß festgelegt wird, drängt womöglich noch stärker zu Fluchtversuchen in unterschiedlichsten Praktiken inklusive Rausch und Drogenkonsum. Die Spieldauer des Parsifal zwischen 3 Stunden und 38 Minuten und 4 Stunden und 48 Minuten ohne Pause macht in anderer Weise auf die Zeiteinteilung aufmerksam. Die relativ handlungslose Zeiteinteilung nach der Gralsformel „zum Raum wird hier die Zeit. Gralsglocken“ bringt ein Ritual hervor. Die mehr oder weniger 5 Stunden mit Pausen wollen erst einmal angenommen, erübrigt oder auch ausgehalten werden. Wenn sich der Zuhörer der Musik oder der Inszenierung zu entziehen versucht, kann die Aufführung durchaus zur Qual werden. Der Opernbesuch verlangt in gewisser Weise Unterwerfung. Nicht zuletzt, und das führt Wagner ebenfalls vor, sind die Musik und Sprache Praktiken der Zeiteinteilung. „(Z)um Raum wird hier die Zeit“ lässt sich ebenso als Formel für die Aufführung oder Performanz hören.
© Thomas Aurin
Für die Mitwirkenden des Gefangentheaters wird die Zeit des Projektes durchaus zu einer Art Festspiel, weil die Zeit anders als nach der üblichen Zeiteinteilung verläuft. Es ist eine Art Befreiung aus der üblichen Zeit- und Raumeinteilung. Peter Atanassow und sein Team haben frühzeitig entschieden, Richard Wagners Sprache beizubehalten. Wagners Sprache ist wenigstens eigentümlich. Sie schwankt zwischen einem Sprechen in Rätseln, Erzählung und Befehl. Sie kann, wenn man sie im Chor oder allein spricht oder gar wie in der Gralsszene singt, indessen den Sprecher auch verändern. Plötzlich singt der unmusikalische Gefangene im Chor und schreitet voran. Er hört seine Stimme singen, was er nie gesagt und gedacht hätte. Die Fremdheit der Sprache kann beunruhigen. Wer Wagner-Formulierungen spricht, kann sich auch wundern, was man überhaupt sagen kann.
© Thomas Aurin
Den Bezug zur Wahrnehmung der Straftäter stellt Atanassow über Parsifal als Erlöser und Hoffnungsträger her, wie er als Anwalt, Strafverteidiger o.ä. erscheinen mag. Parsifal ist der, den man nicht kennt, aber auf den man plötzlich alle Hoffnung setzt. Und Parsifal ist vielleicht auch, wie der Straftäter sich selbst sieht, wahrnimmt. Durch ziemlich große Blödheit in dicke Dinger hineingezogen. Es geht auch um das Wissen und Un-Wissen Parsifals von sich selbst und der Welt als „Tor“.[8]– Ja, wer hat denn nun schon einmal vorher „Tor“ anders als im Fußball – „Toooor!“ – gebraucht?! – Für das Wissen von sich selbst, seiner Herkunft und des Lebens nimmt die Erzählung der Kundry im zweiten Teil eine entscheidende Funktion ein. aufBruch (Dramaturgie: Daniel Dumont) formuliert das wie folgt:
… Parzival wird von seiner Mutter in der Einsamkeit des Waldes erzogen, damit ihm das ritterliche Leben und der Tod seines Vaters erspart bleibe. Aber das Blut des Vaters regt sich in ihm. Er verlässt seine Mutter und gelangt, nach einer langen Entwicklung, als reiner Tor, der das Mitleid kennt, in den Besitz des Grals.[9]
© Thomas Aurin
Parsifal kann als eine Geschichte des Mitleids, Mitgefühls bzw. der Empathie gelesen werden. Was ist diese Empathie? Wie funktioniert Mitgefühl? Das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm kennt die Empathie noch nicht. Mitgefühl kommt erst in der Dichtung bei Goethe und Schiller gegen Ende des 18. Jahrhunderts in bahnbrechenden Gebrauch.[10]Mitleid entwickelt sich durch Bibelübersetzungen ebenfalls erst im 17. Jahrhundert aus der Barmherzigkeit, der Lateinischen misericordia. Die Empathie lässt sich insofern, selbst und gerade dann, wenn sie nicht geübt wird, doch gleichsam als Wissen und Gebot kursiert, schwer fassen. Wie lässt sich Empathie erwerben? Lässt sie sich erlernen? Kann sie verloren gehen? Kundry erzählt Parsifal seine Geschichte auch als eine von fehlender Empathie.
Ich sah das Kind an seiner Mutter Brust,
sein erstes Lallen lacht mir noch im Ohr;
das Leid im Herzen,
wie lachte da auch Herzeleide,
als ihren Schmerzen
zujauchzte ihrer Augen Weide!
Gebettet sanft auf weichen Moosen,
den hold geschläfert sie mit Kosen,
dem, bang in Sorgen,
den Schlummer bewacht der Mutter Sehnen,
ihn weckt' am Morgen
der heiße Tau der Muttertränen.
Nur Weinen war sie, Schmerzgebaren
um deines Vaters Lieb' und Tod:
vor gleicher Not dich zu bewahren,
galt ihr als höchster Pflicht Gebot.
Den Waffen fern, der Männer Kampf und Wüten,
wollte sie still dich bergen und behüten.
Nur Sorgen war sie, ach! und Bangen:
nie sollte Kunde zu dir hergelangen.
Hörst du nicht noch ihrer Klage Ruf,
wann spät und fern du geweilt?
Hei! was ihr das Lust und Lachen schuf
wann sie suchend dann dich ereilt;
wann dann ihr Arm dich wütend umschlang,
ward dir es wohl gar beim Küssen bang? –
Ihr Wehe du nicht vernahmst,
nicht ihrer Schmerzen Toben,
als endlich du nicht wieder kamst,
und deine Spur verstoben.
Sie harrte Nacht' und Tage,
bis ihr verstummt die Klage,
der Gram ihr zehrte den Schmerz,
um stillen Tod sie warb:
ihr brach das Leid das Herz,
und — Herzeleide — starb. —
© Thomas Aurin
Man kann die Erzählung einmal so formulieren: starker Stoff der Inversion. Ganz so einfach ist das für Parsifal nicht erzählt. Und für Gefangene mit unterschiedlichem nicht nur, aber vor allem sprachlichen Hintergrund ist der Gesang von Judith Kamphues als Kundry mit Streichquartett unter der Leitung von Simon Rössler nun bestimmt nicht leicht zu verdauen. Eine Erzählung, die biographisch sehr nah zu rücken vermag, um zugleich sprachlich fern und rätselhaft zu bleiben. Selbst mit Dramaturgie und Erklärungen bekommt man diese ständigen Inversionen in der Syntax nicht weg oder verständlich hin – „Ihr Wehe du nicht vernahmst, … um stillen Tod sie warb“ – das ist dann auch irgendwie die oberkluge Redeweise von Meister Yoda aus den Star Wars-Filmen. Jedenfalls erleichtert allein die Inversion, einmal abgesehen von der Lexik – „Tor“, „Kosen“, „Schmerzgebaren“, „ihrer Schmerzen Toben“ –, nicht das Verständnis der Erzählung. Doch etwas bleibt hängen, lässt sich verstehen.
© Thomas Aurin
Die fehlende Empathie Parsifals hat der Mutter das Leben gekostet. Die Empathie-Formel des Parsifal lautet: „Durch Mitleid wissend, der reine Tor“. Mitleid, Mitgefühl bzw. Empathie generieren ein soziales Wissen. Parsifals Unwissen von der Welt wird zur Voraussetzung für ein Wissen durch Mitleiden. Vielleicht geht es genau darum, wenn man Gefangenentheater macht – und anschaut wie anhört. Man muss den Gefangenen auch unwissend gegenübertreten. Nicht alle Mitwirkenden sind Gefangene und einige wie der Sänger und Schlagzeuger Mehmet Öz., der türkische Volkslieder wie Vurmayn oder Sen Allahin bir Lütfusan beiträgt, haben in den letzten Jahren wiederholt in Produktionen mitgewirkt. Sie haben sich auf ein Abenteuer eingelassen. Theaterspielen hinterlässt Spuren so oder so.
© Thomas Aurin
Parsifal in der Justizvollzugsanstalt Tegel ist durchaus eine Gratwanderung. Peter Atanassow hat seine Regiemethode weiterentwickelt. Chorisches Sprechen der Wagner-Verse wird mit Dialogen und diesmal Gesang wie Streichquartett kombiniert. Er hat zwei „Kommentarszenen“ eingefügt und Passagen aus George Orwells 1984, Friedrich Dürrenmatts Die Wiedertäufer und Klaus Kinskis Jesus Christus Erlöser eingeschoben. In der Dusche am Wannenbad wird 1984 zitiert, wo es ebenfalls um eine „Bruderschaft“ geht. Winston (Karim) wird von Mitgliedern der „Bruderschaft“ in die Wanne getaucht. Water boarding und Taufe überschneiden sich auf irritierende Weise.
… Sie erhalten Befehle und haben ihnen zu gehorchen, ohne das Warum zu wissen. Später werde ich Ihnen ein Buch senden, aus dem Sie die wahre Natur der Gesellschaftsordnung, in der wir leben, und die strategischen Maßnahmen, durch die wir sie zerstören wollen, kennenlernen. Wenn Sie das Buch gelesen haben, sind Sie in die Bruderschaft als Mitglied aufgenommen…[11]
Theaterspielen ist wie das Lesen des Buches, durch das die Aufnahme „in die Bruderschaft“ vollzogen wird. Die etwas komische Aufnahme in die Bruderschaft allein durch das Lesen korrespondiert mit dem Mönchtum, wie es Giorgio Agamben beschrieben hat. Das Ritual der Aufnahme findet durch das Lesen und nicht durch eine Prüfung des Wissens statt. Das geteilte Wissen durch das Lesen funktioniert wie ein Vertrag. Winston verrät nicht, was gelesen werden soll. Doch das geteilte Wissen um „die wahre Natur der Gesellschaftsordnung, in der wir leben,“ generiert bereits die „Bruderschaft“. Lesen ist gefährlich, unkalkulierbar trotz Leseverständnisprüfungen. Indessen wird das Lesen mit den „Befehle(n)“ verknüpft. Bei George Orwell wird das Lesen auf bedenkenswerte Weise mit „Befehle(n)“ verkoppelt. Erst werden „Befehle“ erteilt, die befolgt werden müssen, „(s)päter“ muss das Buch gelesen werden. Insofern gehört das Lesen in eine Befehlskette, in der nicht nach einem „Warum“ gefragt werden darf.
Die „Bruderschaft“ in 1984 entspringt quasi einer Gemeinschaft, die sich praxeologisch den Befehlen ohne Ursprung und ohne Grund unterwirft. Als „Kommentarszene“ zu Richard Wagners Parsifal rückt die orwellsche „Bruderschaft“ die Gralsgemeinschaft und Gralsburg noch einmal in den Fokus der Praktiken. Atanassow sieht in der „Lebensentscheidung jedes Einzelnen, dieser Bruderschaft zu folgen,“ eine, die „ihn zu einem Gefangenen (macht)“.[12] Gefangen werden die Mitglieder nicht nur räumlich im Kloster oder in der JVA, vielmehr dadurch, dass sie keine eigenen Entscheidungen über ihr Leben mehr treffen dürfen. Das macht die Gralsgemeinschaft so prekär. Sie führt die Krise der Gemeinschaft auf, weil aus der Gemeinschaft heraus keine Entscheidungen getroffen werden dürfen. Sie können nur von außen auf die Gemeinschaft einwirken. Parsifal wird auf diese Weise zu einer Figur der Erneuerung und Veränderung.
Torsten Flüh
aufBruch
nach Richard Wagner
weitere Vorstellungen am 21., 22. und 23. März
jeweils um 17.30 Uhr
JVA Tegel
Seidelstraße 39 - 13507 Berlin
U6 Holzhauser Straße oder Otisstraße
Einlass am Tor 2
Einlasszeit: 16.30 bis 17 Uhr
(kein Nacheinlass)
Karten nur mit persönlicher Anmeldung mind. 5 Tage vor der Vorstellung
_______________________
[1] Siehe: Torsten Flüh: Hoffnung auf das schöne Leben. Peter Atanassaow inszeniert in der St. Johannis-Kirche Glaube Liebe Hoffnung. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Juli 2016 21:50.
[2] Z. B. Maschinenstürmer von Ernst Toller siehe: Torsten Flüh: Die Maschine und wir. Die Maschinenstürmer von Ernst Toller im Freiluftgefangenentheater der JVA Tegel. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. Juni 2014 21:54.
[3] Z.B. Dämonen von Fjodor Dostojewskij siehe: Torsten Flüh: Terrorzellen. Dämonen nach Fjodor Dostojewskij in der JVA Charlottenburg. In: NIGHT OUT @ BERLIN 23. November 2012 16:59.
[4] Zitiert nach aufBruch: Parsifal, der reine Tor. In: aufbruch: Parsifal. Gefangenentheater in der JVA Tegel. Berlin 2018, S. 7.
[5] Giorgio Agamben: Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform. Homo Sacer IV,1. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2012, S. 36. Vgl. auch: Torsten Flüh: Leben auf der Schwelle. Zu Giorgio Agambens homo sacer-Projekt und der Pfingstserenade in Kloster Chorin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Mai 2012 20:27.
[6] Ebenda.
[7] Ebenda S. 81.
[8] Siehe auch: Torsten Flüh: Texturen in der Musik. Das Sonderkonzert der Deutschen Oper und das Emerson String Quartet mit Barbara Hannigan beim Musikfest 2015. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. September 2015 20:52.
[9] aufBruch: Parsifal, der reine Tor. In: aufbruch: Parsifal … [wie Anm. 4] S. 5.
[11]1984 zitiert nach aufBruch: Parsifal … [wie Anm. 4] S. 10.
[12] Ebendas S. 9.